Der mit 48 Jahren erst sehr spät ins Literaturgeschäft eingestiegene Ziegler verwendet für sein zweites Buch das gespreizte Wort »Autogeographie« (laut Verlag eine »animierte Landkarte von Orten«), man könnte auch schlichter Erinnerungen dazu sagen, doch das klänge bei weitem nicht so interessant und würde schon beim Anblick des Covers die entscheidende Frage aufwerfen: Erinnerungen? Ulf Erdmann Wer? Eine Autobiografie also, voll von Details einer Kindheit und Jugend der 60er und 70er Jahre in der westdeutschen Provinz. Der Klappentext trägt ziemlich dick auf, will hinter den Erinnerungen das »Drama der Flucht«, die »Ära der Jesus-People« oder gar den »historischen Horizont« der deutschen Teilung ausmachen – Klappentextprosa, die genau davon am meisten verspricht, wovon der Text am wenigsten hat: Drama. Der Horizont von »Wilde Wiesen« reicht kaum über den eines mittelmäßigen Tagebuchs hinaus, ja, er bleibt sogar weit dahinter zurück, denn Ziegler stellt zwar das eigene Ich in den Mittelpunkt – gut, auch dort, vor allem dort, kann man »innere Landschaften« erkunden –, doch dort hinein, in die Tiefe des Existenziellen, gelangt Ziegler nie, weil er mit seiner Sprache immer an der Oberfläche bleibt. Literatur entsteht dort, wo die Geschichte einen Bedeutungsgehalt über das eigene Leben hinaus entwickelt, wo die Erfahrung des Autors einen Erkenntnisgewinn beim Leser auslöst, doch in »Wilde Wiesen« gibt es keinen Mehrwert für jene Leser, die diese Zeit nicht erlebt haben, die nicht als Kinder in Einfeld, Pillnitz oder Orschel-Hagen waren. Hans-Ulrich Treichel, ein Autor, der, etwa in »Der Verlorene«, in ähnlicher Weise die westdeutsche Provinz und die eigene Vergangenheit ins Zentrum seines Erzählens stellt, versteht es immerhin, durch die Melodie seiner Sprache und eine ausgeklügelte Erzählweise zu fesseln. Die Provinz passiert bei Treichel quasi nebenbei. Der Geruch einer Metzgerei in Ostwestfalen, die protestantische Enge des Elternhauses, all das wird bei Treichel lebendig, weil der emotionale Tiefenraum einer Geschichte darunter liegt. Bei Ziegler keine Spur davon: »Wilde Wiesen« ist reine, kalte Deskription durchsetzt mit ein wenig gesuchtem Humor. Ziegler fächert das Personal einer Kindheit und Jugend auf, das, trotz seiner scheinbaren Originalität, austauschbar ist. Figuren werden nicht entwickelt, sondern tauchen auf als klischeehafte Schemen, die irgendwann irgendeine Bedeutung für den Autor hatten: Der »Onkel mit dem schmalen Gesicht und den Fußballerbeinen«, die »Tante mit dem breiten Gesicht und den Kulleraugen« oder Cousine Gundula, »sonnig und fragil, lachend, ohne recht zu wissen warum«. Man zog durch Kleingärten und klaute Kirschen, man hatte einen Roller, einen Bundeswehrparka und den Bolzplatz, auf dem sich »Rosco den Ball schnappte und durch das Rudel der gegnerischen Jungen pflügte bis ins gegnerische Tor«. Der Roman ist ein Weißt-
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André Hille
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