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Auf der Suche nach einer Art Heimat

Thomas Pletzinger im Gespräch mit André Hille
Thomas Pletzinger
Thomas Pletzinger     Foto: Juliane Henrich

Erschienen im Kulturmagazin kunststoff   externer Link

Thomas Pletzinger, 1975 in Münster geboren, avancierte mit seinem Romandebüt »Die Bestattung eines Hundes« (Kiepenheuer & Witsch) zum Star unter den Jungautoren. Erstmals fand er bereits 2006 Aufmerksamkeit mit seiner Kurzgeschichte »Bruck«, für die er den MDR-Kurzgeschichtenpreis erhielt.
André Hille: Du hast gerade mit deinem Roman Bestattung eines Hundes debütiert. Wie ordnest du dich in der deutschen Gegenwartsliteratur ein?

Thomas Pletzinger: Die Frage, wo man sich in diesem Wust an Neuerscheinungen, für die man selber noch keine Schubladen gefunden hat, einsortiert, ist schwer zu beantworten. Ich wüsste nicht, welche Zuordnung ich da finden sollte, gerade als Autor, der ein erstes Buch geschrieben hat. Ich denke, so etwas muss von außen kommen.

A. Hille: Du orientierst dich vom Sound relativ stark an Max Frisch. Braucht man als Debütant solch eine Orientierung, hast du sie gebraucht?

Th. Pletzinger: Es gibt formale und thematische Referenzen an Max Frisch aber auch an viele andere Autoren. Ich glaube, das braucht man, aber nicht per se als Debütant, sondern als Autor im Allgemeinen. Es gibt natürlich Autoren, die sich verweigern und abgrenzen und sagen, mein Werk und mein Weg sind komplett eigenständig – das würde ich nie behaupten. Ich würde nicht schreiben, wenn ich nicht gelesen hätte. Dass man sich in dieses Netz begibt, ist für mich ein wesentlicher Teil des Schreibens. Und das Netz bezieht sich auch auf andere Künste, Musik ist zum Beispiel ganz wichtig. Das sind auch Referenzpunkte und Strukturen, in die man sich hineinbegibt. Wie offensichtlich man das tut – bei mir ist es gewollt offensichtlich – ist eine andere Frage. Man kann das auch verbergen, aber das wollte ich nicht, weil das Sich-Beziehen ein wichtiger Teil der Figuren ist.

A. Hille: Gerade zu Beginn entsteht der Eindruck, dass deine Sprache auf eine gewisse Weise poliert ist und du dich unangreifbar machst.

Th. Pletzinger: Vielleicht manchmal, aber sicher nicht überall. Ich möchte schon, dass die Figuren etwas wagen, ich will es krachen lassen, auch formal. Ich möchte aber trotzdem, dass der Text lesbar bleibt und ein Zugang zu den Figuren möglich ist. Die Sprachoberfläche soll sichtbar bleiben. Bestattung eines Hundes ist kein Buch der unsichtbaren Schnitte und des über allem stehenden Plots, sondern ein Buch, in dem das Schreiben und die Sprache selbst zum Gegenstand werden. Die Sprache der Figur Mandelkern ändert sich im Lauf des Romans, so wie die Figur selbst auch.

A. Hille: Eines der Kapitel heißt: "Wer genau ist Daniel Mandelkern", könnte es auch heißen: Wer genau ist Thomas Pletzinger?

Th. Pletzinger: In gewisser Weise ist dieses Buch ein Stimmfindungsbuch. Ich habe zwei schreibende Protagonisten, den Journalisten Daniel Mandelkern und den Kinderbuchautor Dirk Svensson. Beide haben einen anderen Schreibansatz und tauchen als Ich-Erzähler in meinem Buch auf. Sie sind in gewisser Weise auch der Versuch, mich meinem eigenen Ich anzunähern, wobei ich sicher in der Gesamtheit der Stimmen drinstecke. Ich kann mich da nicht verbergen. Aber es ist keine Selbstfindung. Meine Protagonisten schlagen sich nicht mit meinen Problemen herum.

A. Hille: Was würdest du als deine eigene Poetik bezeichnen?

Th. Pletzinger: Es gibt verschiedenste Elemente, die ich als Kernthemen bezeichnen würde. Im Moment beschäftige ich mich gerade mit dem Thema Erinnerung. Was bedeutet Erinnerung und wie beeinflussen Erinnerung und Autobiographie das eigene Schreiben? Für mein Buch kann ich, glaube ich, sagen, dass die Schauplätze und die Problematik des Schreibens, des Aufschreibens, zentrale Themen sind. Mein Schreiben wird stark bestimmt von einer Nostalgie und Melancholie, die sich an Dingen entzünden – das wird man dem Buch vielleicht gar nicht so anmerken. Dinge, Gegenstände, Pflanzen, Orte, Schauplätze können starke Marker und Träger von Erinnerung und Geschichten sein. Und das ist für meine Arbeit, gerade an diesem Buch, sehr zentral.

A. Hille: Bedeutet das nicht letztlich auch Heimat, eine emotionale Beziehung zu Gebäuden oder zu Landschaft zu haben?

Th. Pletzinger: Genau. Ich nenne es lieber ganz allgemein »die Dinge«, weil die Dinge psychologisch und emotional aufgeladen werden und in Bestattung eines Hundes laden verschiedene Leute verschiedene Dinge mit ihrem eigenen Erleben und Empfinden auf. Es gibt Autoren, die schreiben nicht über Dinge, aber für mich ist es wichtig, dass Dinge in Literatur Platz haben. Ich möchte über leere Colaflaschen schreiben oder die verrotteten Stühle, über Ruinen oder alte Ruderboote. Das mag kitschig klingen, aber in diesen Dingen steckt eine Menge an Emotionen drin und darüber eine tatsächliche Beziehung zum Text zu schaffen, das möchte ich gern erreichen.

A. Hille: Der Roman ist sehr international, spielt in verschiedenen Ecken der Welt, du selbst reist auch sehr viel, ist das auch eine Verortung in der Welt, eine Art Heimatsuche?

Th. Pletzinger: Interessanterweise war einer der wenigen Titel, der in die Endauswahl gekommen ist – Bestattung eines Hundes war eigentlich immer nur der Arbeitstitel – Heimwehtouristen. Das ist ein stehender Begriff für die Leute, die ihre alte Heimat besuchen, die nach Schlesien oder Pommern zurückkommen, und in nur noch Touristen sind. Es hätte Sinn gemacht, das Buch so zu nennen, weil meine Figuren sämtlich Touristen sind, die auf der Suche nach einer Art Heimat durch die Welt reisen. Natürlich ganz anders als die 70- oder 80Jährigen, die ihre Elternhäuser noch mal sehen wollen. Meine Figuren sind grundsätzlich Heimwehtouristen. Das ist ein wichtiges Thema für mich, vielleicht sogar für viele meiner Generation, zumindest eines bestimmten Teils, dass man zwischen all den Orten, die man besuchen kann, an denen man leben kann letztlich immer auf der Suche nach einem Ort ist, an dem man sich zu Hause fühlt.

A. Hille: Die Figuren sind sehr moderne Figuren, Jet-Set-Figuren in gewisser Weise …

Thomas Pletzinger | Bestattung eines Hundes
Thomas Pletzinger
Bestattung eines Hundes
Roman
KiWi 2008
 
Th. Pletzinger: ... Jet-Set ist das falsche Wort. Die machen das nicht ausschließlich zum Vergnügen, die fahren nicht zum Shoppen nach St. Moritz. Meine Figuren fahren zum Beispiel nach Brasilien und denken, sie tun dort Gutes, sie wollen dazugehören und bleiben trotzdem immer die blöden deutschen Sozialarbeiter, die man ausnehmen kann. Sie fahren nach New York, weil sie denken, sie könnten dort irgendwie besonders wirklich leben, sie bleiben aber letztlich immer nur normale Menschen in ihren eigenen Horizonten.

A. Hille: Aber es sind moderne junge Menschen, die unterwegs sind, fast rastlos unterwegs sind in der Welt, in gewisser Weise auch auf der Flucht?

Th. Pletzinger: Ich glaube, auch das kann man so nicht sagen. Die sind nicht getrieben davon, dass sie wegwollen, sondern sie wollen irgendwohin. Die sind nicht auf der Flucht vor einem Zuhause, die suchen etwas. Das klingt sicher abgegriffen, weil alle auf der Suche sind. Aber das Problem des Immer-Weg-Könnens führt dazu, dass sie nie wirklich ankommen. Obwohl sie das immer wieder versuchen. Svensson, der eine der beiden Ich-Erzähler, möchte sich diesem Selbstverwirklichungs-Imperativ verweigern, er denkt: Ich renoviere jetzt ein kaputtes Haus am Luganer See und dann bleibe ich da. Was vielleicht doch wieder eine Art Flucht ist, eine Pose der Romantik. Wahrscheinlich flieht er an einen Ort, den er kontrollieren kann. Das Buch beschreibt die Versuche, einen Platz zu finden, an dem man sich richtig fühlt.

A. Hille: Gibt es das für dich persönlich, dieses Richtig-Fühlen, das Angekommensein?

Th. Pletzinger: Das ist schwierig. Das gibt es schon, aber das ist nicht an einen Ort gebunden. Ich habe jetzt eine Bahncard 100 und fühle mich derzeit sehr zu Hause auf den BahnComfort-Plätzen der Deutschen Bundesbahn (lacht). Aber im Wesentlichen hängt das Gefühl natürlich mit Menschen zusammen. Nachdem ich jetzt seit etwa 12 Jahren unterwegs bin und nicht mehr mit einem richtigen Zuhause lebe, war ich neulich mal wieder einen Monat lang bei meinen Eltern. Das hat sich gut angefühlt. Das ist eine Art Zuhause, aber ich kann mich auch richtig und zu Hause fühlen, wenn ich in Hamburg eine Bekannte besuche oder in New York in einem Park sitze, den ich mag. Manchmal sind Cafés oder Bars Orte, an denen ich mich für eine Zeit zu Hause fühle.

A. Hille: Macht sich daran der Wandel des Begriffs Heimat fest? Für unsere Eltern war Heimat noch klar ortsgebunden, bei uns ist es eine Sicherheit in sich selbst.

Th. Pletzinger: In sich selbst würde ich vielleicht nicht sagen, aber miteinander. Ich würde sagen, dass das zu einem nicht geringen Teil auch mit den neuen Kommunikationsmöglichkeiten zu tun hat, dass man sein kann, wo immer man will, aber trotzdem immer erreichbar ist für die Menschen, die Heimat bedeuten. Heimat wird immer ortloser, immer mittelbarer, vielleicht sogar digital kommunizierbar.

A. Hille: Wer nicht per E-Mail kommuniziert, fällt aus der Kommunikation heraus?

Th. Pletzinger: So ungefähr. Meine Briefpost wird umgeleitet zur Adresse meiner Eltern und die schicken mir das dann dahin, wo ich gerade bin. Die Kehrseite der Medaille ist, dass es einem manchmal auf den Geist geht. Ich bin jetzt zum Beispiel eine Woche in Leipzig und das ist für mich schon viel, eine Woche am Stück an einem Ort zu sein. Ich strebe schon auch an, dass das anders wird. Ich bin mir auch sicher, dass das anders werden kann. Wenn Kinder ins Spiel kommen, das erfahren auch meine Romanfiguren, dann wechselt der Heimatbegriff und dann sind wir bei aller Mobilität ganz schnell wieder da, wo unsere Eltern sind.

A. Hille: Aber was ist es denn, was das Unterwegssein so reizvoll macht?

Th. Pletzinger: Andere Orte sind ja auch schön und nicht nur der eigene Vorgarten. Das ist keine Neuigkeit. Es gibt viele schöne Orte, es gibt viele gute Dinge, die man tun kann, es gibt viele Möglichkeiten, die man leben kann, es gibt viele Menschen, die man mögen kann.

A. Hille: Aber ist das nicht auch ein Ausweichen, die Angst davor, sich festzulegen?

Th. Pletzinger: Daniel Mandelkern wird von seiner Frau unter Druck gesetzt, sie ist seine Chefin, sie ist älter als er, sie will ein Kind. Er hat zunächst Angst davor, sich festzulegen und das letztendliche Fazit ist auch, dass diese Angst eine gewisse Albernheit birgt. Diese Angst, sich festzulegen, ist in unserer Generation quasi vorinstalliert, man kann aber auch einfach sagen: Scheiß drauf, ich leg mich jetzt halt einfach mal fest. Das Leben ist das Leben und das Leben ist nicht immer woanders. Das Leben ist keine Frage des Ausschlusses für Mandelkern, er lernt, dass eins nicht automatisch alles andere nicht bedeutet. Man muss Entscheidungen fällen, aber sie sind nicht ausschließlich. Wenn man heiratet bedeutet das nicht, dass man sein ganzes Leben lang nichts mehr entscheiden kann. Entscheidungen muss man immer wieder neu treffen, man muss seine Beziehung, seine Arbeitssituation immer wieder neu betrachten und neu den Wert darin sehen.

A. Hille: Aber dann stellt sich natürlich die Frage nach der Relevanz von solchen Entscheidungen wie dem Ja-Wort, das ja schon ein »für den Rest des Lebens« beinhaltet. Ist das nur noch eine hohle Phrase?

Th. Pletzinger: Das Buch ist sicher keine Absage an die Verbindlichkeit, überhaupt nicht. Es geht ja auch um eine immer neu scheiternde Dreiecksbeziehung, um eine Ehe unter schwierigen Umständen, um den Wunsch, sich auf sich selbst verlassen zu können. Alles Versuche, Verbindlichkeit herzustellen. Ich denke, dass der Glaube an die absolute Verbindlichkeit genauso eine Illusion ist wie der Glaube an die absolute Unverbindlichkeit. Die völlige Freiheit gibt es genauso wenig wie die völlige Unfreiheit.

A. Hille: Es gibt nur beides im Wechsel. Man kann Freiheit nur als Gegensatz zur Unfreiheit empfinden.

Th. Pletzinger: Genau. Und wir reden jetzt hier nicht von Politik oder Krieg oder ganz natürlichen Verbindlichkeiten. Das Altern oder ein Kind sind große Verbindlichkeiten. Ebenso ist eine Krankheit eine verbindliche Sache. Man kann nicht sagen: Heute habe ich keinen Zucker mehr.

A. Hille: Das ist dann ein schmerzhafter Prozess, mit Einschränkungen leben zu lernen. Das geht nicht ohne Trauer und ohne Schmerzen ab.

Th. Pletzinger: Natürlich, es geht nie ohne Trauer. Und das ist eigentlich das, was ich mit den Figuren wollte, diesen Grat sichtbar zu machen, ohne eine Lösung anzubieten. Weil es diese Lösung nicht gibt. Man kann rückblickend sagen: Ich habe mich eingelassen und festgelegt, aber das Leben als eine Art Entwurf des eigenen Willens zu betrachten ist, glaube ich, Quatsch.

A. Hille: Insofern lässt sich der Roman dann doch ganz gut einordnen, zumindest darüber, was er nicht ist. Es gibt den Trend zum historischen Roman, es gibt die großen Jahrhundert-Rückblicksromane, es gibt die Familienromane. Damit hat dein Roman nichts zu tun, die Figuren sind in der Gegenwart verankert, es geht um Verbindlichkeit, Verantwortung, Unterwegssein – moderne Phänomene.

Th. Pletzinger: Vielleicht ist das Buch ja ein Familienroman anderer Prägung. Die Lebensentwürfe und die Familiensituation sind ja für meine Figuren auch Thema. Auch die Vermischung von Arbeit und Privatleben, da wird eine Ehe, eine Liebe, von Arbeitshierarchien in Gefahr gebracht. Ich finde, das hat auch eine existentielle Notwendigkeit jenseits der Kategorien und Schubladen. Wenn man sich zum Beispiel die Bücher von Sasa Stanisic anschaut oder Clemens Meyer oder Lucy Fricke, dann geht es da auch um komplexe Notwendigkeiten, insofern handelt es bei mir erst mal um ein »Luxusproblem«. Das ist mir auch bewusst, aber ich finde diese Themen als Generationenphänome trotzdem notwendig und absolut existentiell.

A. Hille: Dein Weg in den deutschen Literaturbetrieb scheint für dich relativ einfach gewesen zu sein, es ging los mit MDR-Literaturpreis, diversen Stipendien und weiter damit, dass du für den ersten Roman einen Großverlag gefunden hast. Hast du den Weg als leicht empfunden?

Th. Pletzinger: Leicht würde ich nicht sagen. Ich hatte vielleicht den Vorteil. dass ich lange in einem Verlag und in Literaturagenturen gearbeitet habe und deswegen ein bisschen den Respekt davor verloren habe. Wenn man weiß, wie dieser Betrieb funktioniert, dann kann man den Betrieb als Betrieb verstehen und sich darin bewegen. Ich wollte nie so tun, als ob meine Kunst betriebsunabhängig ist, weil ich genau weiß, dass er nicht unwichtig ist, wenn man das als Beruf machen will. Natürlich gibt es auch andere schriftstellerische Lebens- und Arbeitsentwürfe, aber ich habe das so kennen gelernt, als ganz normale Arbeitswelt. Allerdings ist es dann auch extrem viel Arbeit und eine Portion Glück gehört dann am Ende auch noch dazu.

A. Hille: Konntest du dadurch finanziell relativ unabhängig arbeiten?

Th. Pletzinger: Na ja, ich arbeite jetzt immer noch nebenher, um Geld zu verdienen. Ich unterrichte, ich übersetze. Und wenn ich meine Eltern und ihre Unterstützung nicht gehabt hätte, wäre das alles nicht so gut gelaufen, aber ich musste natürlich nie Vollzeit zum Beispiel als Arzt oder Lehrer oder Werbetexter arbeiten.

A. Hille: Also ist Schreiben eher Arbeit als Lust?

Th. Pletzinger: Ich habe neulich gelesen: I hate to write but I love to have written (lacht). Und das trifft es. Schreiben ist nicht gerade das Leichteste, was man machen kann, man kann seinen Tag einfacher herumbringen, man kann einfacher Geld verdienen und man kann sich beim besten Willen einfacher selbst verwirklichen. Aber etwas geschrieben haben ist gut. Eine Geschichte, ein Buch.

A. Hille: Was verbindest du dann damit?

Th. Pletzinger: Ich dachte immer, ich hätte das Schreiben unter Kontrolle. Es sei eine Art freiwillig eingegangener Stress, dem ich mich für die Dauer des Schreibens hingebe und am Schluss kommt dabei dieses oder jenes heraus. Aber ich muss sagen, dass das Buch mich von dieser Meinung kuriert hat. Ein Roman ist was anderes als eine Kurzgeschichte, das geht einen dann schon persönlicher an, zum Schluss war es dann auch kein Vergnügen mehr, sondern knallharte Arbeit, das ist mir sehr an die Substanz gegangen. Da bekommt man eine sehr dünne Haut.

A. Hille: Du bist an deine Grenzen gestoßen?

Th. Pletzinger: Ja, ich würde sogar sagen, dass ich von der Intensität des Arbeitens über meine Grenzen hinausgegangen bin. Aber das gehört wohl dazu. Diese Grenzen muss man einfach austesten und kennenlernen, wenn man ein guter Schriftsteller sein will. Bei aller Pragmatik war ich doch manchmal davon überrascht, wie unkontrollierbar und unerwartbar intensiv das eigene Arbeiten ist. Ich will die ganze spirituelle Musenkuss-Geschichte nicht kleinreden, denn bei allen Ritualen, bei aller Pragmatik, mit der ich an den Beruf und den Roman herangetreten bin, beim strikten Ritualisieren des eigenen Arbeitsalltags wurde ich doch ganz schön davon umgehauen, dass man nachts von einzelnen Sätzen träumt oder dass man plötzlich fünf Wochen lang 14 Stunden am Tag ohne Wochenende durcharbeitet.

A. Hille: Hast du mal versucht zu ergründen, woher dein Schreiben kommt oder fragst du dich das nicht.

Th. Pletzinger: Ich würde dem gern mal auf den Grund gehen. Vor etwa einem Jahr hatte ich in meiner Heimatstadt Hagen eine Lesung, zu der meine alte Grundschullehrerin kam, und sie brachte eine Kopie eines Zeugnisses mit. In der vierten Klasse gab es zu den Noten auch noch Beurteilungen und da stand bei mir: »Thomas verhält sich gut zu den anderen Kindern, beim Lesen und Schreiben hat er keine Probleme« und außerdem: »Thomas neigt dazu, manchmal fast poetisch abzuschweifen« (lacht). In der vierten Klasse! Und da habe ich gedacht: Meine Güte, das Schreiben ist also etwas, dass ich nicht bewusst entwickelt habe, sondern anscheinend hat mich das schon damals umgetrieben.

A. Hille: Aber woher kommt das? Warum entwirft ein bestimmter Teil der Menschheit, ein sehr kleiner Teil der Menschheit mit einer gewissen Unbedingtheit dieses Bild von sich selbst.

Th. Pletzinger: Vielleicht habe ich das von meiner Mutter geerbt, meine Mutter hat ein unglaubliches Talent zum rührenden Wort, sie hat nie geschrieben, aber sie ist sehr melancholisch. Sie konnte Gefühle immer gut in Worte fassen. Ich will nicht sagen, dass ich dieses Talent geerbt habe, aber diese Melancholie oder diese Nostalgie den Dingen und Erinnerungen gegenüber, alten Geschichten, ich würde fast sagen, dass es daher kommt.

A. Hille: Schreiben als Festhalten am Leben?

Th. Pletzinger: Ja, die alten Dinge zu erhalten, zurückzublicken. Meine Großmutter ist auch so, das ist eine Grundhaltung, gepaart mit einem Hang, wie soll ich sagen, Blödsinn zu machen und komische Sachen zu erfinden, das hatte ich auch schon immer, wie mir diese Grundschullehrerin schwarz auf weiß gezeigt hat. Trotzdem ist das nicht der alleinige Grund, warum man sich als Zwölfjähriger hinsetzt oder warum man ein Romanprojekt beginnt. Aber es hat schon mit dieser Trauer zu tun, dass Dinge vorbeiziehen und verschwinden, dass die Zeit vergeht. Anschreiben gegen das Vergessen. Vielleicht macht die Moderne aus ein paar von uns praktizierende Nostalgiker. Und ein paar davon schreiben dann, um das Verschwindende zu erhalten und irgendwie etwas von Dauer zu schaffen.

A. Hille: Vielen Dank für das Gespräch.

Thomas Pletzinger | Bestattung eines Hundes (Kritik)
Thomas Pletzinger im Poetenladen

André Hille    23.03.2008    

© Kulturmagazin Kunststoff

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