Doch »Überlebnis« ist nicht nur die Geschichte des Unseldschen Sterbens, sondern die ganz persönliche Todesgeschichte Berkéwicz', angefangen von den sterbenden Haus- und Gartentieren ihrer Kindheit, über die kindlichen Visiten bei den »Sterbern« im Krankenhaus ihres Vaters, den Tod des engen Freundes und Arztes Alik bis zum Tod des »Mannes«. »Der Tod hat es mir angetan, von meinem Anfang an«, heißt es am Anfang. Der Tod ist die Passion der Autorin, sie ist von ihm besessen, noch mehr aber von jenem Moment des Übergangs in ihn, dem »Spalt«, durch den sie ins Jenseits blicken kann. Anfangs, Unseld ist noch ferne Zukunft, ist der Ton rührig-naiv, da spricht noch ganz das Kind von »Liebeslieblingsstellen« und »Fieberseele« und von der Sehnsucht nach dem ersten Kuss: »Als ich schon vierzehn und immer noch ungeküsst war, lud ich mir Karlchen ein.« Das führt zu einer irritierenden Spreizung im Tonfall – auf der einen Seite dieses Naiv-Schmolllippige, auf der anderen, kursiv gesetzt, seitenweise pseudoreligiöse Philosopheme, der morbide Sound einer vom Jenseits Faszinierten: »Weder Sein war, noch Nichtsein, liest man und begreift, daß diesen Dichtersehern noch was anderes zu sein scheint oder nicht zu sein scheint als das beschriebene Nichtsein und das zu beschreibende Sein, das ja nur sein kann in der Zeit, die nicht ist.« Manchmal auch salbungsvoll: »Die Liebe ist des Menschen Sehnsucht nach Unsterblichkeit. Um Unsterblichkeit zu erleben, müssen Liebe und Tod erlitten sein.« Würde nicht bald ein neuer Ton hinzukommen – die poetische Liebesgeschichte mit dem »Mann« – Berkéwicz hätte sich mit »Überlebnis« bloß lächerlich gemacht. Aber so sind da diese äußerst verknappten, wunderbaren Szenen, Leuchtspuren, die auftauchen aus dem Nichts und wieder dorthin verschwinden. Berkéwicz wird immer dort am stärksten, wo sie sich vom Willen zur Aussage entfernt und sich dem eigenen Erleben annähert: »John und der Mann hatten Schach gespielt, Merce und ich hatten von der Liebe gesprochen. Ich hatte geheult, und John hatte einen schlechten Zug gemacht. Ein halbes Jahrhundert Treue, wer heult da nicht!« An einer anderen Stelle heißt es über die erste Begegnung mit Unseld: »Wir standen am Fenster, die Urszene war gelaufen. Die Körper rauschten noch.« Es sind ausgerechnet diese lakonischen Sätzen und Sequenzen, die die Mystik, nach der die Autorin die ganze Zeit auf der Suche ist, einfangen, hier, und nicht dort, wo die Autorin ihn bemüht, ist der »Spalt«, der den Leser in ein anderes, jenseitiges Reich führt, das Reich der Poesie. Als Gegenentwurf zum körperlosen Jenseits steht der Leib, die Krankheit, der Verfall. Unseld auf der Intensivstation, nach einem Herzinfarkt, mit Blutbeutel an der Seite – und ihr zäher, heroischer Kampf dafür, an seiner Seite bleiben zu dürfen: »Am ersten Tag habe ich noch mein Haar gekämmt, am zweiten hab ich es vergessen, am dritten weiß ich nicht mehr, was das ist.« Die Autorin kann für das Klinikpersonal nichts als Hass empfinden. Ihr ätzender Zynismus ergießt sich über alles und jeden, der in die Nähe »ihres« Mannes kommt. Da sind alle Ärzte »Kriecher, Kratzfüße« oder »Faschos«, die bestenfalls Gleichgültigkeit für Patienten und Angehörige empfinden, wenn sie sie nicht gar vorsätzlich verletzten. Später, wieder zu Hause, im »Efeuhaus«, in dem Unseld im Oktober 2002 schließlich stirbt, macht sie keinen Hehl aus ihrer Verachtung für die da draußen, die »Büschehocker« und »Beileidsbesucher«, all jene, die ihr »Seelenfähnchen in den Wind hängen, den alle machen«. Am Ende nimmt das Misstrauen dann endgültig paranoide Züge an: »Witwe gleich Hexe, mannlos, wehrlos, ausgeliefert […] Es wird verschworen, denunziert, gefoltert, ausgerottet und vernichtet. Der Chor der Landsleute fällt ein, hetzt mit.« Plötzlich ist die Welt ganz einfach: Hier die Guten, dort die Bösen, wobei man für die Guten auch »Ich« einsetzen könnte und für die Bösen »alle, die an Unseld heran wollen«. Ein wenig riecht das, gerade vor dem Hintergrund des langwierigen Machtpokers im Hause Suhrkamp, nach einer pathetischen Selbstverklärung. »Überlebnis« ist auch – oder gerade? – ein Anspruch auf die Deutungshoheit in der scharf geführten Auseinandersetzung um die Nachfolge Unselds, in der sich der Sohn des Verlegers und die Witwe unvereinbar gegenüberstanden. Es verwundert daher nicht, dass »Überlebnis« den Beigeschmack von trotziger Rechtfertigung, von Abrechnung nie ganz abstreifen kann. Eigentlich wartet man nur noch auf den Moment, in dem der »Mann« sagt: »Ich lege mein Lebenswerk in deine Hände.« Vielleicht ist das aber auch eine Unterstellung, vielleicht ging es der Autorin tatsächlich nur um den Versuch der Einordnung des eigenen Unglücks ins große spirituelle Ganze, in die »Urenergie« und die »Unendlichkeit« – doch es ist immer dieses große Ganze, an dem Berkéwicz scheitert. Ziemlich am Ende seines Tractatus schreibt Wittgenstein: »Es gibt allerdings Unaussprechliches. Es ist das Mystische.« Diesen Spruch hätte sich Berkéwicz über ihren Schreibtisch pinnen sollen, denn immer dort, wo Berkéwicz versucht, das Mystische in Worte zu fassen, wird es langweilig oder peinlich. Die Begriffe sind zu groß. Und daher zu unscharf. Was ist schon Ewigkeit, Jenseits, Unendlichkeit? Und gerade ihr inflationärer Gebrauch rückt »Überlebnis« in die Nähe zu esoterischen Machwerken, die sich aus jeder Religion und Weltanschauung ein bisschen was herauspicken. »Philosophieren heißt sterben lernen«, heißt es in einem Essay Montaignes. Für Berkéwicz' neues Buch gilt die Umkehrung dieses Satzes: Philosophieren heißt dem Sterben ausweichen.
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André Hille
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