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Dialekt und dialektisches Spiel in der Mundart als Möglichkeiten
des nachmodernen Gedichts?

Von Gerhard Falkner


Ende vergangenen Jahres habe ich mich entschlossen, den Gedichtband Kanne Blumma (Keine Blumen) zu machen.
Er wird im Herbst im Ars Vivendi Verlag erscheinen.
Ich habe lange mit mir gehadert, ob ich mich auf dieses Unternehmen einlassen kann und will, da Dialekt­gedichte sehr leicht in dumpfe Humor­pumpen ausarten.
Ich habe mich gefragt, ob ich damit nicht den Ernst untergrabe, den ich trotz aller allerdings wohl­zu­dosierender Ironie für das ernstzunehmende Gedicht als absolut zwingend erachte.
Schließlich habe ich mich doch dazu durchgerungen, mit bemerkenswerten Folgen sowohl für die Arbeit selbst als auch für mein poetisches Verständnis überhaupt.
Um welche Folgen und Einsichten es sich dabei handelt, möchte ich hier kurz darlegen.

Unmittelbarer Auslöser für die Idee war eine Instal­lations­arbeit mit den Künst­lern Bernhard Prinz und Katha­rina Floder für das Nürn­berger Restau­rant Sebald.
Die Wieder­er­öffnung nach der Reno­vierung, gleich­zeitig Vernis­sage für die Arbeit (Text auf mon­tierten Spiegel­glas­flächen) war ein un­glaub­li­cher Er­folg, und den ganzen Abend brachen der Reihe nach Frauen in die Knie vor Lachen (siehe Foto).
Ich habe das aus einiger Entfer­nung so un­auf­fäl­lig wie mög­lich be­obach­tet und dabei fiel mir auf, dass dieses (schallende) Gelächter unter anderem eine Folge der physi­schen und psy­chi­schen Er­leich­terung über den heraus­ge­fun­denen Sinn war.
Ich bemerkte zwei Dinge, die mich zu­nehmend faszi­nierten, und die auch fast panto­mimisch von den Betrach­tern dargestellt und vor dem Spiegeltext regelrecht aufgeführt wurden, das Phänomen der Entzif­ferung und eine nicht einfach normale, sondern eine entfachte Neugier auf den Text.
Trotz meiner jahr­zehnte­langen poeto­logi­schen „Alarm­bereitschaft“ und mei­ner Be­schäf­tigung mit Wahr­nehmungs­modalitäten „poetischer Gedichte“ bis hin zu ihrer letzten Verwirk­lichung im affizierten Leser (siehe mein Buch: Über den Unwert des Gedichts) war mir so etwas in dieser Deutlichkeit bisher nie aufgefallen.
Ich sah hier plötz­lich eine Klammer zwischen Mundart und Metapher, die ich nicht vermutet hätte.
Als wäre die Skulptur des Gedichts mit dem Tuch der Mundart bedeckt und würde durch das plötz­liche Verstehen enthüllt.
Die Gestik des Entzif­ferns schien das sehende Ohr (denn beide Sinne überlappen sich während der Text­verarbeitung) so dicht mit dem Kopf an den Text heranzurücken, dass er sich durch seine Verhüllung hindurch als sinnfällige Figur abzeichnen konnte.
Es wird immer soviel vom Metatext geredet, als ob man von dem aus mit der Deutschen Lufthansa nicht jeden beliebigen Punkt des Universums erreichen könnte.
Mir scheint der Subtext auf dem Boden des Gedichts, dieser Blue Language Box, oft viel entscheidender.
Die Umrisse des gesungenen Lichts, wie ich das in Anlehnung an Pynchons „Suche nach dem kirgisischen Licht“ immer gerne nenne, also das, was das Gedicht über die dafür verwendeten Worte hinaus ausmacht: sein Lux, sein Lumen und sein Leuchten.

In keiner Textform werden dem Leser so viele Steine in den Weg gelegt wie im „modernen“ Gedicht.
Dadurch aber wird Auf­merksamkeit gesteigert.
Fast als wäre lesendes, hörendes Staunen oder staunendes Lesen das kulturelle Gegenstück zu einer die Aufmerksamkeit unmittelbar schärfenden Gefahr.
Es entsteht eine höhere Alertheit, ein gesteigerter Tonus, eine größere Virulenz, eine andere Wachheit und man ist, wenn man die geeignete Kondition besitzt, plötzlich auf eine gesteigerte Weise bei sich.

Ich begann nach diesem uner­warteten Erlebnis alte Auf­zeichnungen aus­zukramen, die ich in meinen Nürnberger Jahren, wo ich über­lebens­halber einer Teil­zeitbeschäftigung in der Bahn­hofs­buch­handlung nachging, ange­legt hatte.
Der größte Teil des Materials erwies sich aller­dings als unbrauchbar.
Es war Gehörtes und Aufgeschnapptes, das mich tatsächlich zwischen die Klippen der Volksbelustigung geführt hätte.
Ich hätte ja schließlich dem, was auf fränkischen Bahnhöfen geredet wird, kaum einen gefälligeren Charakter verpassen können.
Immerhin fanden sich neben äußerst witzigen O-Ton Notizen er­kennt­nis­theo­retisch interes­sante Aspekte und Hinweise, die auch bei der subjektiven Text­erfassung des Gedichts eine Rolle spielen.
Zum Beispiel die Notiz: man hört nur, worauf man gefasst ist!
Ein Notat also über ein vorauseilendes Satz­verständnis, das besonders aufdringlich zum Vorschein kommt, wenn ein Gesprächs­partner die eigenen angefangenen Sätze zu Ende bringt, und das im Gedicht wohltuend an seine Grenzen geführt wird.
Der Zusammenhang für diese Notiz war folgender:
Ich hatte mich jahrelang, wenn an den Wochenenden, an denen ich meist arbeitete, das Telefon vom Büro auf den Laden umgestellt war und ein Anruf einging, statt mit Bahn­hofs­buch­hand­lung mit Brat­wurst­buch­hand­lung, Bun­des­bratwurst­buch­handlung, oft sogar mit Erste Deutsche Bundes­brat­wurst­buchhandlung oder einfach mit Buchtiteln von Jean Paul oder Johannes Mario Simmel gemeldet, aber es wurde in all den Jahren sage und schreibe nur ein einziges Mal bemerkt, und zwar von der damaligen Sekretärin des Chefs, die manchmal Sonntag­nachmittag ins Büro kam und dann für ein paar Stunden das Telefon umstellte und die irritiert fragte: Was haben Sie da eben gesagt?

Worum geht es in Kanne Blumma?

In diesem Gedichtband geht es in erster Linie um die Buchstaben.
Der Sinn, zu dem sie sich zusammenschließen, ist quasi ihre Neben­wirkung.
Was soll das heißen?
Das soll heißen, dass es sich bei diesen Gedichten nicht vorrangig um lyrische Botschaften handelt, sondern um Hörbeobachtungen, Klangstücke und akustische Spezialitäten, die oft auf minimalistischen Aussagen beruhen und ihre Eindrücklichkeit aus der Anlage und Kombination ihrer Variationen schöpfen sollen.
Auch wenn diese Intention im Laufe der Arbeit mehr und mehr modifiziert wurde und schließlich gelegentlich ins lyrische Gedicht überschlägt.
Das Buch war zwar zuerst eher als eine Partitur denn als ein Lyrikband im geläufigen Sinne geplant, aber gerade die aus der Arbeit heraus entwickelte Anhebung des Textspiegels in der Dialektschleuse, die ich oben mit dem Sperrwert der Metapher beschrieben habe, machte einiges sehr spannend.
Bei der Verarbeitung des Dialekts wurde darauf geachtet, einerseits eine maximale phonetische Genauigkeit zu erzielen, soweit dies möglich ist, ohne auf Lautschrift zurückzugreifen, andererseits aber auf eine verbindliche Schreibweise ein- und derselben Begriffe gegebenenfalls auch zu verzichten und damit der Tatsache Rechnung zu tragen, dass viele Ausdrücke im Fränkischen regional variabel oder umgangssprachlich im Fluss sind und in der Varietät der Mundart sich die schöne Kleinräumigkeit der fränkischen Landschaft widerspiegelt.
Bei der Verfertigung der Gedichte selbst war ein Spiel mit allen Mitteln be­absichtigt.
Neben der Falschschreibung, der Laut­verschiebung, Verball­hornung, der Ver­kleidung von Verben mittels ihrer Sub­jek­tivierung, der bewussten Irre­führung durch Zusam­men­schreibungen oder Wort­tren­nungen, die den allgemeinen Aus­sprache­gewohnheiten entweder folgen oder eben nicht, sowie einer oft absurden akustischen Model­lierung der Ausdrücke durch die Schreibweise war es, wie ich zugeben muss, durchaus auch mein Ergeiz, dem Recht­schreib­programm meines Computers keine ruhige Minute zu gönnen.

Bei der Arbeit an den Gedichten wurde mir immer wieder deutlich, was für eine archaische Wucht solche für das Fränkische typischen reduk­tionis­tischen Verket­tungen von Vokalen und Konso­nanten entwickeln können.
Das beste Beispiel ist der Titel: KANNE BLUMMA.
Oft wird gerade durch die Verklam­merung klangreicher, in aller Dichte folgenden Vokale mit methodisch verdop­pelten Konsonanten, verstärkt durch eine auffällige Neigung der Franken zur Alli­teration, ein Ton von Zauber­sprüchen und Beschwö­rungs­formeln erzeugt oder wachgerufen, der, wie wir aus dem berühmten Merse­burger Dokument wissen, zum Urton deutscher Dichtung gehört.
Der Dialekt drückt mit seiner geballten phone­tischen Raffung den Text manchmal in den Bereich des hermetischen Gedichts.
Aus alledem und noch manch anderem ergibt sich im Frän­kischen ein Rhythmus „getrom­melten“ oder „perkussiven“ Sprechens, für das ich als Beispiel schon ver­schie­dentlich die ein­drucks­volle volks­moralische, in der Straßenbahn aufge­schnappte Konstruktion angeführt habe: „dädärsdn dudess, naa, dessdädärdi nedd! (In Umschrift: „Würdest Du denn so etwas tun? Nein, so etwas würde ich nicht tun!“)
Die Priorität des Sounds (gegenüber einer Aus­diffe­ren­zie­rung des Ge­dan­kens), die in Kanne Blumma zumindest strecken­weise und zu Ver­frem­dungs­zwecken eine Rolle spielt, stützt sich auf die fränkische Maxime: Mä sachd ja niggs, mä redd ja blous! (Man sagt ja nichts, man redet ja nur.)
Die fränkische Rede, die stark von Redundanz geprägt ist und oft in auffälliger Absenz eines kausalen Plans oder einer Ziel­aussage geführt wird, erfüllt häufig die biologische Auf­gabe des Stimm­fühlungs­lauts, mithilfe dessen man sich der vollständigen, ähnlich gestimmten und somit tröst­lichen Anwese­nheit seiner Umge­bung versichert und wird eher als physische Wohltat empfunden denn als Kommuni­kations­vorgang.
Dies alles schafft ein Spannungs­feld, das die Poesie sprach­lichen Zer­reiß­proben aussetzt, über­dehnten Emotionen, Unleser­lich­keiten und wunder­baren Absurditäten.

Wieso habe ich diesen Gedichtband gemacht?

Künde dem König, das schöngefügte Haus ist gefallen
Apollon besitzt keine Zuflucht mehr,
der heilige Lorbeer verwelkt,
seine Quellen schweigen, verstummt
ist das Murmeln des Wassers

(Orakel der Pythia 362 n Chr)

Ich bin kein Mundartdichter.
Ich möchte auch denen, die das sind, weder den Rang noch das Feld streitig machen.
Die Mundart ist, trotz all ihrer Qualitäten, für die unübertreffliche Klarheit des hohen Tons ungeeignet – und kommt daher für mich nicht in Frage.
Als Beispiel habe ich diesen Satz aus dem delphischen Orakel über das Kapitel gestellt, der, in welchem Dialekt auch immer, das eben gerade ver­lieren würde, was ihn auszeichnet.

Für mich war die Arbeit an KANNE BLUMMA in erster Linie ein Versuch, und, wie sich herausstellte, auch eine phänomenale Möglichkeit, innerhalb meiner dichterischen Arbeit einen noch mal ganz anderen Weg des Experiments zu gehen.
Dabei besitzt für mich das Experiment keinen selbst­ständigen Wert außer dem einer lustvollen Versuchs­strecke.
Experimente um ihrer selbst willen, die dann als „avantgardistische“ Torsi unter die Leute gebracht werden, weil die Kraft zur schluss­endlichen Durch­formung fehlte, schätze ich nicht.
Auch auf der Kehrseite der Poesie, etwa in der Pharma­industrie oder auf dem militä­rischen Sektor würde man nicht forschen, ohne zu einem Medikament oder einer überlegenen militä­rischen Maß­nahme kommen zu wollen.
Ich will durch das Experiment zu einem Heilmittel oder einer überlegenen poetischen Maßnahme kommen, denn es ist meine tiefste Überzeugung, dass Kunst genau sein muss und wirksam.
In diesem speziellen Fall hat mich über alle Maßen, wie oben schon angedeutet, das Phänomen der Ent­zifferung von Gedichten fasziniert, als einer enorm interes­santen Alter­native zur Gedicht­inter­preta­tionen.
Hierbei wird nicht der Sinn entziffert, wie bei der Gedicht­interpretation, einer Maßnahme, die an Schulen leider so oft mit dem Ableben des Gedichts endet, (um nicht zu sagen, mit dem Krepieren!), so dass am Schluss die Autopsie steht, sondern das Wort.
Das Wort wird entziffert.
Nicht also das Ding an sich, sondern sein Gewand, seine Erscheinung.
Keine Hermeneutik also, sondern Ästhetik.

In welcher Sprache spricht man, wenn man denkt?

Bei uns zu Hause hingen keine Gainsboroughs und es wurde auch kein wirklicher Dialekt gesprochen. Väterlicherseits war man zutiefst fränkisch, aber die Mutter, in sattsam bekannter sudeten­deutscher Hoch­näsigkeit und dieser spätböhmischen, aber völlig unbegründeten Auffassung, eigentlich etwas Besseres zu sein, verhinderte das „krasse“ Fränkisch.
Was sich dadurch bei uns zuhause entwickelte, war ein Gemisch aus Fern­seh­nachrichten­deutsch, sudeten­deutscher, also deutlich trans­parenterer und tempe­rament­vollerer Arti­kulation und Gedanken­führung – mit frän­ki­schem Einschlag.
Einschlag heißt in diesem Falle Akzent: fränkisch.
Dieser war allerdings unüberhörbar, durchklingelt vom unaus­löschlichen R, das alle Franken aneinander verrät, selbst die Best­getarntesten, verborgen irgendwo am Ende der Welt.
Allerdings, auf dieser Einschränkung muss ich bestehen, gab es bei uns niemals das von den Franken mit grausamer Wollust prakti­zierte und fast pornographisch als solches bezeichnete: ex-labiale Waffel-L, bei dem die Zunge als dritte Lippe in Erscheinung tritt!
Der eigentliche Dialekt aber geriet unter die Oberfläche.
Meine geliebte Großmutter väterlicher­seits versenkte ihn jedoch, man könnte fast sagen, direkt ins Kleinhirn, also dort, wo unsere tiefsten und ältesten Operationen durchgeführt werden.

Die Arbeit an Kanne Blumma deaktivierte das alte mütterliche Verbot und brachte einiges zum Vor­schein, was Sigmund Freud mit dem Begriff Vorschwein aus einer seiner berühmtesten Fallstudien belegte.
Eine Zeitlang entstand in meinem Kopf ein regel­rechter Wettkampf zwischen hochdeutschen Macht­ansprüchen und mund­artlichen Putsch­versuchen!
Bei der Arbeit an den Gedichten versuchte ich natürlich immer, direkt vom Dialekt auszugehen.
Ich vermied es, die Texte im Kopf zurück zu übersetzen und versuchte anfangs, poetische Inhalte möglichst zurückzudrängen, um musikalischer arbeiten zu können.
Das führte mich unweigerlich zu der Frage, welche Sprache ich eigentlich habe oder suche, wenn ich Dialekt schreibe.
Sehr schnell wurde mir klar, dass mein Fränkisch auf eine Kunst­sprache hinauslaufen würde, ein Kunst­fränkisch, weil es, wie ich oben schon angedeutet habe, ein sortenreines Fränkisch gar nicht gibt.
So wusste ich beispiels­weise noch von meiner Großmutter, dass es einer­seits heißen konnte: ich muss laafm und muss ä saafn kaafm und ein paar Ortschaften weiter: ich muss laffn und muss ä saffn kaffn.
(Seife kaufen, also!)
Selbst in kleinsten lokalen Aus­schnitten tauchen unter­schiedliche Ausdrücke mit der gleichen Bedeutung gleichberechtigt neben­einander auf wie zum Beispiel: naaly oder nayli für neulich.

Das entband mich von der Ver­pflichtung zur absoluten phone­tischen Ortstreue oder der akri­bischen gramma­tika­lischen Auf­dröselung lokaler Sonder­formen, zumal sich in mein eher mittel­fränkisch impräg­niertes Fränkisch auch schon ober­pfälzische Kolo­raturen einge­schlichen haben und die phone­tische Distanz zum Beispiel zum Unter­fränkischen, zum West­mittel­fränkischen etwa Ansbach'scher Provenienz oder zu anderen Gegen­den ja auch nicht unbeträchtlich ist.
Dieser Umstand legi­timierte mich sozusagen zum Bau einer Sonder­sprache, basierend auf dem Fränkischen und gerade darin lag eigentlich das Abenteuer­lichste und das Faszinie­rendste bei diesem ganzen Unternehmen.

Fast ein ganzes Jahr lang, während ich an den Gedichten arbeitete, gab es zwei Arbeitstitel, zwischen denen ich mich lange nicht entscheiden konnte: Kanne Blumma und Ehr und Sieh.
Während Kanne Blumma unübersehbar auf Kurt Schwitters Anna Blume verweist, hätte der Titel Ehr und Sieh mehr das Mittel der gezielten Falschschreibung widergespiegelt, das Sprachspiel und die Doppel­bedeutung. Eine gezielte Falschschreibung aus dem sowieso bereits falsch­geschriebenen Dialekt heraus in eine anders lesbare / hörbare Schrift­oberfläche, um hoch­deutsche Zweit­bedeutungen zu schaffen, die über der Dialektbedeutung kreisen konnten wie die berühmten Adler über den besagten Lämmern.
(Beispiel: Lehm für Dreck und Leben)
Dieser zweite Titel hätte, von der Konstruktion her, eher auf Ernst Jandl
verwiesen, etwa auf seinen berühmten Titel: Laut & Luise.

Diese beiden Titel verraten deutlich meine ursprüng­liche Absicht, diesen Mundart­gedicht­band, mit sozu­sagen sprach­philo­sophi­schen Kel­ler­ge­schoss, eher mit den Mit­teln der kon­kreten Poesie, der Laut­poesie oder den Methoden des Dadaismus anzugehen, wobei mir bei letzterem Hans Arp mit seinem „Kaspar ist tot“ sogar näher gewesen wäre als Schwitters.
Aber dann kam mir die in diesem Text geschilderte, völlig unerwartete Er­fahrung dazwischen.
Um das Fränkische voll zum Ausbruch zu bringen, bediente ich mich eben doch immer wieder einer Träger­schicht, also Sinn oder Thema.
Diesen oder dieses versuchte ich allerdings meist so einfach möglich zu halten, was zu einem erstaunlichen Ergebnis führte.
Eine ganze Reihe von Gedichten, in denen es dürr um die Natur oder um eine „Herzens­ange­legen­heit“ ging, entwickelte in der Rück­übersetzung ins Hoch­deutsche eine fast an den Minnesang gemahnende Simplizität und
Reinheit. Eine verblüffende Direkt­heit und berührende Einfachheit.
Auch Volks­liedtöne stellten sich ein oder Anklänge an Kinderreime, die ich allerdings sowieso beabsichtigt hatte.
Erst nach dieser Erfahrung verstärkte ich die sinn­lichen poetischen Ab­sich­ten wieder und erwies schließ­lich auch noch mit dem Titelgedicht der verehrten Inger Christensen meine Referenz.
Ich bemerkte, die Mundart rehabilitiert durch ihre andersartige Oberfläche Zugriffe und Konstellationen, die im zeit­genös­sischen Gedicht im Schrift­deutsch nicht so ohne weiteres möglich wären.

Der Dialekt erwies sich als Tabubrecher!

Gerhard Falkner, Berlin/Weigendorf 2010

Gerhard Falkner   12.06.2010

 

 
Gerhard Falkner
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