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Der letzte Tag der Republik

Anmerkungen zu einem Gedicht
Von Gerhard Falkner

 
»Der letzte Tag der Republik« (star­fruit publi­cations) basiert auf einem Film­projekt des ameri­kani­schen Vi­deo­künst­lers Reynolds Reynolds und des deut­schen Autors Gerhard Falkner.

Bild: Reynold Reynolds


Es gehört eigentlich nicht zum guten Ton, ein Gedicht zu erklären, schon gar nicht ein eigenes.
Einer der Gründe dafür ist, dass man das Gedicht damit an seiner freien Entfaltung hindert und ihm das an Speck wieder aufdrängt, was es während seiner Entstehung glücklicherweise abgenommen hat, um zu seiner idealen Figur zu finden.
Zur freien Entfal­tung des Gedichts gehört in entgegen gesetzter Richtung aber auch, dass der Leser oder Hörer es anschlie­ßend wieder anfüttert, es also mit dem, was er an Eigenem hineinträgt, zu einer persönlichen Voll­version ausfaltet.
Normalerweise ist das ein ebenso unbe­obach­teter wie unkritischer Vorgang, den der „Verinner­li­chende“ meist für sein aufquellendes Verständnis hält, mit dessen schönen Intervallen er Teile seines unbe­zeichneten Ichs in den Text einmassiert und sich dadurch Lust verschafft.
Das Gedicht ist so gesehen eine auf lingo-libidinösen Lock­stoffen beruhende Klebefalle für die Frucht­fliegen des adressierten Denkens.

Warum also mache ich bei dem Gedicht „The last Day of the Republic“ eine Ausnahme?

Wahrscheinlich, weil es sich hier um ein in Dienst gestelltes Gedicht handelt und es daher nicht schadet, zu wissen in welchen Dienst und warum.
In Dienst gestellt insofern, als es die Aufgabe übernimmt, den Bildern des gleich­namigen Films von Reynold Reynolds eine Aussage beizugesellen, die zwar keine Erklärung ist, sich aber koope­rativ zum Thema verhält.
Koope­rativ deshalb, weil es die Sug­gestionen der Bilder aufgreift: Geschichte, Schönheit, Destruk­tion, rhythmi­siert von Tempo, Bewegung und Stillstand, durchirrt von Bau­stellen­fahr­zeugen.
Das Gedicht gestaltet sich also nur bedingt aus eigenem Wissen und Gewissen.
Es verhält sich kooperativ zum Thema, kognitiv zum Gegen­stand und konstruktiv zur bildlichen Vorgabe.
Bild: Reynold Reynolds

So wie der Palast der Republik in Reynolds Film Schicht für Schicht abge­tra­gen wird, gräbt der Lyriker Gerhard Falkner in seinem zu diesem Film ent­stan­denen Gedicht in der Ver­gangen­heit und schlägt mit ein­präg­samen Bildern den Bo­gen von der Gegen­wart bis in die Antike.

Ursprünglich war für den Film ein kurzer Text beabsichtigt, der aus historischen und sozial­psycho­logischen Konden­saten bestehen sollte, die erklärt hätten, warum der Westen den Osten abreißt, und nicht umgekehrt.
Also auch kleine Sprengkapseln zwar, aber unter dem rationaleren und für die meisten historisch denkenden Menschen glaub­würdi­geren Dach der kleinen Prosa.

In drei bis vier Minuten Textzeit über Macht und Geschichte im allgemeinen, ein konkretes verschwun­denes und ein konkretes verschwin­dendes Bauwerk von jeweils nationaler Bedeutung, zwei weltgeschichtliche Systeme, die ihre Stacheln einziehen und einen spezifisch deutschen Umgang mit Geschichte zu reflektieren hätte (und hatte) mein Abstraktionsvermögen nicht nur über­fordert, sondern auch eine Plakativität in Kauf nehmen müssen, an deren Banalität ich mit meiner Absicht sicher zugrunde gegangen wäre.
Es ist daher ein Glück, dass Moritz Holfelder, zumindest für das Buch, im geeigneteren Rahmen des Essays diese Aufgabe übernommen und gemeistert hat.

Die Aufgabe, einen Text für den Film von Reynold Reynolds zu erfinden, mithilfe eines Gedichts zu lösen war anfangs aber auch nicht gerade einfach, denn das Tückische bei einem Gedicht ist, dass in der ersten Zeile „alles“ möglich ist und, wie jeder weiß, ist „alles“ ziemlich viel und die Mächtig­keit des Kontinuums auch jenseits der Zahlen ein weites Feld mit einem breiten Rand.
Mit anderen Worten, alles steht und fällt mit dem Anfang!
Nach diesem geeigneten Anfang habe ich länger gesucht als nach allem, womit ich diesen Anfang dann mit vierzig Zeilen und in ein paar Wochen zu Ende bringen konnte.

Der Zufall, diese traurige Welt­anschauung, wie de Maistre ihn nennt, lieferte schließlich die Inspiration, indem er mich auf ein Gedicht von Heinrich Heine stoßen ließ, das mir immer sehr viel bedeutet hat.
Die wunderbare Paarung von Melancholie und Ironie, für die Heinrich Heine in der Deutschen Dichtung als Prototyp gilt, entsprach sowohl meiner eigenen Gesamt­ver­fassung, als auch der Sache.
Der Zerfall von Reichen, Vater­ländern und Systemen, die Melancholie einer damit verbun­denen Spätzeit und die Ironie, dass an der Stelle, wo ein System das Symbol eines anderen Systems durch Spreng­stoff zerstörte, dieses andere System, vierzig Jahre später, das Symbol des nach­gerückten Systems mit dem Abriss­baggern zerstört, schien mir mit dieser Mischung am Besten bedient.

„Ich hatte einst ein schönes Vaterland / der Eichenbaum / wuchs dort so hoch“ ist eines der berühm­testen Gedichte Heines aus dem französischen Exil.
Zusammen mit dem fast noch berühm­teren „Nacht­gedanken“ und seiner überwäl­tigenden ersten Zeile: „Denk ich an Deutschland in der Nacht“, die sich hier für diesen Text allerdings nicht angeboten hätte.
Den Eichenbaum habe ich ersetzt durch das mindestens ebenso robuste und tiefverwurzelte „Weiß-nicht-mehr“, mit dem die Geschichte im Vergessen die Kraft für ihre unglück­lichen Wieder­holun­gen schöpft.
Es sollte „Deutsch“ klingen und es sollte eine antike Dimension in der Metapher liegen. Die Sätze sollten daliegen wie Epigramme, gespannt zwischen Erwartung und Aufschluss, und nicht eine Erzählung sollte sie verbinden, sondern der Ort.
Der romantische Ton und seine ironische Abfuhr schienen mir ideal für meine Zwecke.

Ab da also war der Weg klar.
Ich wollte eine Collage aus semantischen Schräg­lagen schaffen, die in ihren ganz natürlich klingenden Para­doxen die ewige Betei­ligung des Indi­viduums und Zeit­zeugens an welt­geschicht­lichen Entschei­dungen und Fehl­entschei­dungen so zu­sagen im Anein­ander­schlagen ihrer beiden einander ausschlie­ßenden Seiten aufblitzen lassen würde.
An ihren „unverein­baren Sicht­bar­keiten“, wie Foucault das einmal genannt hat.
Die Grammatik ist so irre­führend angelegt, dass sie die Widersprüchlichkeit von Geschichte ebenso anzu­deuten versucht wie die deutsche Neigung, immer das Kind mit dem Bade aus­zuschüt­ten.
Troja, Karthago und Karl Marx sollten als Beispiele für das stehen, was über beachtliche Zeiträume als mächtig und unüber­wind­lich galt, bis sie, praktisch mit einem Schlag, von der Bildfläche verschwanden.
Rom und Berlin habe ich absichtlich nicht erwähnt, aber beide schwingen im Ausge­las­senen mit.
Weißt du noch, wo Du warst, als Troja fiel?“

Wer es nicht weiß, ist selber schuld.
Vermutlich liegt es am „weiß nicht mehr“.



  Gerhard Falkner / Reynold Reynolds
Der letzte Tag der Republik
Mit einem Essay von Moritz Holfelder
Gedicht / Poem: Gerhard Falkner
Filmstills: Reynold Reynolds
Gestaltung / Design: Timo Reger
Flexcover | ca. Euro 20,00
ISBN 978-3-922895-22-0
Zum Verlag  externer Link


Gerhard Falkner (Juli 2011)  28.07.2011  

 

 
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