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Über Trendscouts, Beutegier, Vampirismus
und Legebatterien

Zur ökologischen Erfassbarkeit von Kultur

Von Gerhard Falkner

 
Erschienen in:
TEXT + KRITIK  externer Link
Zeitschrift für Literatur.
Sonderband »Zukunft der Literatur«.
München (edition text + kritik) 2013. Seite 148-161.

Bild: Alexander Paul Englert


D ie Bedeutung von Literatur bestimmt sich durch vielerlei Fak­toren.
  Zum einen von denen, die von ihr hervorgebracht werden, zum anderen von denen, die ihr ent­gegen­gebracht werden.
  Zwischen beiden besteht im Ideal­fall ein Gefälle zu­gunsten der Lite­ratur von oben nach unten oder von vorne nach hinten, je nach Per­spektive.
  Weniger ge­heimnis­voll ausge­drückt heißt das, die Literatur vermag sich bei geeigneter Dime­nsioniert­heit ihres Autors noch immer einen gewissen Vorsprung zu ver­schaffen gegenüber dem, was an in dieser Form Dargestelltem bereits in die Allge­meinheit oder deren Akzeptanz über­gegangen ist.
  Der Vorsprung ist gewöhnlich ästhetischer, formaler oder epistemo­logischer Natur und entweder von Haus aus vorwissenschaftlich oder aber, bei akzi­dentieller Gleich­zeitig­keit von theo­retischer und künstle­rischer Rezep­tion, von der Kraft der Kunst entwissenschaftlicht.
  Die überindividuelle Raffiniertheit komplexer gesell­schaftlicher Ver­arbeitungs­prozesse, die dazu dient, diese Vor­sprünge umgehend wirt­schaftlich auszubeuten, lässt diese Vorsprünge drama­tisch schwinden, weil sie deren Bedingungen zerstört.
  Sie sind das Revier der Trendscouts in allen Sparten, deren Beutegier schlussendlich auch die Habitate zum Opfer fallen.
  Die Künstler sind quasi die Reservate einer verbliebenen Natur, von der die Wissen­schaft und Technik auf einer »höheren Stufe« der Entwicklung wieder lernt und sozu­sagen Libel­lenflügel erforscht, um Kampf­heli­kopter zu bauen, Zwie­bel­schalen analy­siert, um Thermo­folien zu ent­wickeln, oder das Lotus­blatt (das durch den Lotus­effekt inzwischen bekannter ist denn als bota­nische Tat­sache), um die ge­ringere Benetz­bar­keit der Ober­flächen von Outdoor-Textilien zu optimieren.
  Erst mit dem Vokabular der radikalen Ökologie werden viele Vorgänge auf dem Gebiet der kulturellen Lebensräume wirklich erfassbar.
  Mit der gleichen unerbittlichen Konsequenz, mit der die Ressourcen des Lebens vernichtet werden, wird schöpferische Kultur immer mehr zurück­gedrängt, als solle weiter­hin dem ab­gründigen Wechsel­spiel zwischen Erkennen und Zer­stören Folge geleistet werden, von dem wir zuerst in der »Dialektik der Auf­klärung« gehört haben.
  Solche »Vorsprünge des Begrei­fens und der Wahr­nehmung« auf lite­rarischem Gebiet erwirt­schaftet man allerdings nur in der lite­rari­schen Kampf­zone.
  Unter »Kampfzone« versteht man geo­botanisch den Übergang von der Wald­grenze zur Baum­grenze.
  Sie bezeichnet die Übergangszone von einem geschlos­senen Allge­mein­system über den dieses All­ge­mein­system noch reprä­sentie­renden, um Selbst­erhalt rin­genden Ein­zel­fall zum »offen Ande­ren«, in dem dieses System zunichte wird oder sich einfach aufhebt.
  Im Hinblick auf die Literatur besteht dieses Allgemein­system, also der »Bü­cher­wald«, wo die großen überdüngten und allein auf wirt­schaft­lichen Speku­lationen beru­henden Erträge er­wirt­schaftet oder einge­fahren werden, fast aus­schließlich aus Lite­ratur­imitation.
  Ich wünschte mir, dass dieser Begriff der »Literatur­imitation«, den ich seit Jahren verwende, eines Tages so ernst genommen würde wie derjenige der »Ein­fluss­angst« des ge­schätzten Literatur­moguls Harold Bloom, da er eigentlich noch etwas funda­mentaler ist und auch viel dazu bei­tragen könnte, die Schicht der Imita­tions­kultur abzu­tragen, wie sie zum Beispiel dick und dick über der DDR-Kunst und ihren Nachkommen liegt.
  Das Phänomen der Literatur­imitation, das leider nicht das Thema dieses Essays sein kann, einfach, weil es zu weit führen würde, könnte man auch als Korea-writing oder »Samsungso­nizing« beschrei­ben, wenn man es inter­national gerne ein biss­chen grif­figer hätte. Man könnte es nur schlüssig dar­stellen, wenn man es mit ver­wandten Phäno­menen aus den anderen Küns­ten in eine syste­matische Ver­bindung brächte.
  Nun haben sich diese Zwischenräume oder Kampf­zonen, welche vor Zeiten auch einmal von den echten Avant­garden inspi­riert wurde, enorm ver­kleinert.
  Durch laufend ver­kürzte und immens beschleunigte Kommuni­ka­tions­wege hat die Spitze der (medialen) Beach­tung sich immer tiefer ins Jugend­alter ge­bohrt, was der Infan­tili­sie­rung der Kunst beträcht­lichen Vorschub leistet.
  Es gibt jetzt sogar, um den verruchten Schein zu wahren, in diesem narkoti­sierten Meer von Netz­werke­rin­nen wieder ein paar Dichte­rinnen, die trotz des hohen Alters von 24 oder darüber mal zwei Nächte durch­machen, ihre Augen mit Whisky­glanz benet­zen und ins Gedicht treten, während sie es sich selbst be­sorgen, was die männ­liche Kritiker­kaste vor Aufre­gung völlig aus dem Häus­chen bringt.
  Aber, alas!


TEXT + KRITIK  externer Link
Zeitschrift für Literatur.
Sonderband »Zukunft der Literatur«.
München (edition text + kritik) 2013.
Seite 148-161.

Siehe auch:
Zeitschriftenlese Oktober   externer Link


Die Haarspangen über den vorderen Hirnlappen lassen sich einfach nicht dauerhaft weg­retou­chieren. Ihre männ­lichen Pen­dants aus der Lite­ratur­serie von Play­mobil mit einem Schuss Diesel­jeans sind dagegen eher stille Wasser, die haupt­sächlich nicht tief grün­den und im Allge­meinen so sanft sind wie ihre Darmwinde.

Einer dieser unentwegt mit den Wimpern klimpernden und mit einem aufge­setzten Lächeln stets gespannt lau­schenden, in Wirklichkeit von seiner sittlich-sinn­lich ver­brämten Gier fast in den Irrsinn getrie­benen Künst­ler, dessen Kunst weit­gehend auf den Variablen seiner formalen Intel­ligenz beruht, mit der er die Brenn­punkte öffent­lich disku­tier­ter und medial generierter Skandale als Energie­quellen ein­setzt, die er dann mit seiner Kunst manikürt und fri­siert, sagte kürzlich zu einer ihm in nichts nach­stehenden Künst­lerin, er verbringe ein Drittel seiner Zeit damit, Anträge zu stellen, worauf­hin die ebenfalls extrem jury-schnittige Künst­lerin ant­wortete, sie mache praktisch überhaupt nichts anderes mehr.
  Hätte sich den beiden Künst­lern eine kompa­tible Kuratorin oder ein Juror von der Stange hinzu­gesellt, hätte man die ganze Misere auf einem Hau­fen bei­sammen gehabt. Geeint durch peinigende Eitel­keit, radikale Uneleganz des Denkens und alle weiteren Formen der »mutual dependency«.

Die Kunst kann demnach aus dem, was man irgend­wann, sobald man es sich leisten kann, nur noch in zweiter Linie macht, ihren Unter­halt bestreiten, nicht aber aus dem, was auch nur einen Zoll abweicht von dem, was als die zu be­handelnden und normierten Tabus vor­gegeben wird.

Die Theatermacher machen sich förmlich einen Jux daraus, ganze Tonnen von PC-trie­fendem Doku-Sperr­müll auf die Bühnen zu kippen, und die bil­denden Künst­ler, angeführt von den Video-Artisten und Instal­lations­künstlern, ver­fertigen aus diesen Tabus zwei mal zwei Meter große und vier Meter tiefe Gruben, die oben mit lustigen und lis­pelnden Zweigen abge­deckt werden und die sich dann über Nacht mit gefallenen Kura­torinnen füllen.
  Dieser paralogische Prozess, die Psychiatrie gibt uns darauf viele interessante Erklärungen, ist deshalb so be­klemmend, weil er bei ge­eigneter Analyse viel von dem preisgibt, was er ge­flissent­lich verbirgt. Das Glück oder Pech ist nur, dass die ge­eignete Analyse ausbleibt.
  Denn alle wollen sie nur eines mit Gewissheit, sie wollen nicht wissen, was sie tun!

Und das liegt unter anderem daran, dass die wirklichen Tabus ganz woanders liegen, nämlich, um es mal sehr un­sortiert anzu­deuten, in ihrem Dienst­leistungs­verhältnis zur kapi­talis­tischen Demo­kratie.
  In ihrer Funktion als larvierte Krieger­kaste des Kapitals, die dazu da ist, Tradi­tio­nen, Werte und Insti­tutionen auf­zubrechen, zu desta­bili­sieren und einzu­reißen.
  Von besonderer Pikantheit ist es, dass es sich bei unserem oben zitierten Beispiel um eine von den Künstlern selbst zur Aussage gebrachte und nicht als Urteil über sie gefällte Infor­mation handelt.
  Eine sehr geschätzte und kluge Dame, die als Gegenbeispiel für eine in ihrem Urteil nun tatsächlich am Text orientierte Jurorin gelten könnte und die darüber hinaus eine exakt kontu­rierende Kritikerin ist, sagte kürz­lich über einen jüngeren und derzeit ziemlich gehypten Dichter, auch er, wie die meisten inzwischen, als ob das bereits eine Kunst wäre, mit ehe­maligem DDR-Hinter­grund, diese Dame sagte also, sie bekomme praktisch seit Jahren gar nichts mehr auf den Tisch, wo nicht dessen Antrag obenauf läge.
  Die von drüben haben das scheinbar alle mit der Muttermilch eingesogen.
  Aber mit jedem Töpfchen, das sie öffnen, werden sie neidischer, geiziger, gieriger und glitschiger.
  Wahrlich die idealen Voraussetzungen für einen Dichter!

Ich werde nun versuchen, meine wenig erbauliche Ansicht über die Zukunft der Literatur anhand von zwei kon­kreten Bei­spielen dar­zustellen.
  Ich kann dies nur in Form einer betont über­griffigen Pole­mik und nicht in Form einer Analyse leisten, da Letztere enorm viel Zeit und Hinter­grund bean­spruchen würde und außerdem einem (nicht unbedingt un­glück­lichen) literarischen Selbst­mord gleich­käme.
  Meine beiden Beispiele sind natürlich unauf­löslich mit der komplexen Kategorie des »generell Falsch­laufenden« verbunden, welcher sich nur mit einer fundamen­tal­philo­sophisch ge­stützten, kom­mu­ni­kations­sozio­logisch geführ­ten, post­phäno­meno­logisch abge­federten, system­theo­risch unter­kühlten, den Subjekt­verlust und die Global­kapitali­sierung einbe­ziehenden, gegen sämtliche Gene­ral­diskurse schram­menden Unter­su­chung beikommen ließe, deren Ergebnis im Wesent­lichen in einer Decou­vrierung der kommer­ziellen Natur der neuen Subjekt- und Kommu­nikations­ver­skla­vung unter ent­scheidender Mit­wirkung der Kunst bestünde.
  Das erste Beispiel ist jenes, was ich nun schon mehrfach als das »Versiegen des Inneren Monologs« beschrieben habe.
  Das zweite Beispiel ist das erlahmende Ver­hältnis der Kritik zur Ange­messenheit und Recht­schaf­fen­heit aus Gründen der strukturellen Über­forderung, der gezielt kaputt gesparten Redak­tionen und Dis­kurse und der allge­meinen inneren Undeut­lich­keit des Indi­viduums, wie es im Wesen und Wirken des Kri­tikers seinen Nieder­schlag findet.
  Im Falle des Versiegens des Inneren Monologs liegt die Ursache in einem fundamentalen Umbau der menschlichen, tra­dierten und sinnvollen Kommuni­kations­formen. Es ist eigentlich völlig gleich­gültig, ob man das positiv oder negativ bewertet, da dieser Prozess sich gegen sich selbst ebenso wie gegen alles andere un­verant­wortlich verhält.
  Er ereignet sich einfach stoffwechselartig.
  Er gibt den Betroffenen auch keinen expliziten Hinweis auf seinen Vorgang und ihre Invol­viertheit in diesen, außer jemand reißt sich bewusst für einen Augenblick an den eigenen Haaren aus dem Sumpf und fragt sich, was habe ich soeben gedacht, als ich kommuni­ziert wurde. Dies aller­dings dürfte einen Ausnahmefall darstellen und wäre darüber hinaus auch aus physikalischen Gründen zu ver­nach­lässigen.
  Der innere Monolog, das lautlose Zwiegespräch mit sich selbst, war bis vor zwei oder drei Jahrzehnten die Energie­quelle der Lite­ratur schlechthin. In einer pausen­losen Reka­pitulation von Wahr­nehmung in Verbindung mit einem erprobenden und ständig expe­rimen­tierenden »In-Worte-Fassen« durch gedachte oder gerade sich den­kende Sprache entstanden die großen
  Reservoirs für die Literatur.
  Sich denkende und unausgesprochen gedachte Sprache als nichtinstrumentelle Sprache ist aufzu­fassen als pro­zessualer Erkenntnis­vorgang, bei dem eben gerade die (noch) nicht verifizierte oder verifizierbare Er­kenntnis als Erprobungs­feld für das weite Feld der Möglichkeiten in Erscheinung tritt.
  Hier lag, liegt und läge das Kraftfeld zwischen den im übertragenen Sinne Neutronen, die dafür sorgen, dass die Kerne stabil bleiben, oder den Neuronen, welche die Aufnahme und Verarbeitung von Sig­nalen gewähr­leisten, also für die Anbindung von Emo­tiona­lität oder agierendem Selbst­bewusst­sein in den laufenden Prozessen zwischen Subjekt und Objekt.
  Bei der Erkenntnis handelt es sich gewissermaßen um das Ergebnis des kontinuierlich sich denkenden Zwischen­raums zwischen diesen beiden Grundideen des Seins.
  Eben dieser Zwischenraum wird aber, als ob es sich um einen nutz­losen Graben handeln würde, gerade zugeschüttet.
  Das Subjekt fällt mit dem Objekt zusammen, indem es medial mit diesem verklebt und zur kommerziellen Ausbeutung präpariert wird.
  Durch die totalitären und hypnoti­sierenden Formen der Kommuni­kation, welche die kommer­ziell vermarkt­bare Besie­delung der mensch­lichen Inti­mität zum Ziel haben, geschieht Fol­gendes:
  Der Mensch wird in einem ständigen Stand-by-Modus gehalten. Er wartet quasi ununterbrochen auf Nachricht.
  Um ihn herum ist der Raum so lange dunkel, bis er wieder Netz hat, online ist oder von den Geheim­diensten des omni­präsenten Infor­mations­radars wieder akti­viert wird.
  Sein Sprachmaß wird heruntergefahren beziehungs­weise kontin­gen­tiert auf das, was ich die »super­kurzen Einsatz- und Bereit­schafts­sprachen« genannt habe.
  Er reagiert auf alles schnell, intelligent und formlos.
  Die Schnelligkeit ist quasi die Intelligenz seiner Form­losig­keit und die augen­blick­liche und jeder­zeitige Abruf­barkeit ihr Nirwana.
  Aber bereits nach ein paar Sekunden erinnert sich der »Besagte« nicht mehr an das Glück, das ihm gerade von seinen Endor­phinen vorge­gaukelt wurde, als er in der vollen U-Bahn in sein Handy dröhnte, dass er gerade in der U-Bahn sitze, und damit die Essenz seines Seins unschlagbar zum Ausdruck brachte.
  Er existiert auf Abruf und ist keine Minute mehr bei sich selbst.
  Er würde auch gar nicht wissen, wo er sich befindet, wenn er plötzlich bei sich wäre, weil der Ort des Ichs durch seine Sprach­erkennung nicht mehr erfassbar wäre.
  Alles, was er denkt und tut, ist unterm Strich gebührenpflichtig oder erlaubt zumindest einem System, einer Werbung oder einem Add-on, auf ihn zuzugreifen oder an ihn anzudocken.
  Genau ab diesem Moment ist er dann wieder greifbar.
  Sein Lebensraum, sein abgestecktes Revier ist der mediale Vollkontakt, der Preis, den er für diese existenzielle Über­ant­wortung zahlt, ist die Flatrate und die Gebühr permanenten Auslaufens im Sinne ontologischer Über­flüssig­keit.
  Das Internet, stellvertretend für das ganze gigantische Medien­gebilde, ist die Zeit, die der Literatur verloren gegangen ist.
  Das Netz das heraldische Bild einer verspielten Seins­gewissheit.
  Das Trompeten des letzten einsamen Elefanten­bullen in Äthiopien könnte nicht unge­hörter verhallen als das Gedröhn eines von oben bis unten mit Nike abgehakten Balkan­zuhälters auf der Schön­hauser Allee oder im Frankfurter Bahn­hofs­viertel.
  Dabei verliert man bei oberflächlicher Betrachtung allerdings leicht aus den Augen, dass es sich bei diesem von oben bis unten mit Nike-Haken abge­hakten Bal­kan­zuhälter nur um die gleich­wertige Kehr­seite des distinguierter an­schaf­fenden, li­mous­inen­geschwän­gerten Auf­sichts­rats­vor­sitzenden handelt.
  It's a small planet for the few, it's a small place for the many.
  Das Schlimmste jedoch ist wie immer der unauf­fällige Normalfall. Er ist die auf Unmerk­lich­keit be­schleunigte Voll­kata­strophe.
 
Der gesamte öffentliche Raum ist inzwischen eine einzige Kommuni­kations­toilette.
  Eine pausenlose, völlig enthemmte Ich-Entleerung, vor der kein Ort und kein Ohr sich mehr in Sicherheit zu bringen vermag.
  Die ehemaligen polnischen Schweine­ställe, die in den berühmten und b­erüch­tigt-groß­artigen Reise­büchern preu­ßischer oder franzö­sischer Rei­sender und Ge­sandter des 18. und 19. Jahr­hun­derts ihre Schil­derung fanden, sind nichts gegen das, wo­durch wir beim Hören und Sehen unentwegt zu waten haben.
  Das Entscheidende für unser Thema aber ist, dass während des »medialen Kommuni­zierens im weitesten Sinne«, ganz im Unter­schied zum Bei­spiel zum Lesen, die rück­ver­sichernde Alea­torik des Re­flek­tierens aussetzt. Das Spiel mit dem Eigenen verebbt. Die Schlepp­netz­techniken der Kom­munikations­systeme ver­wüsten die mensch­lichen Meeres­gründe.

Der einzelne und innere Mensch, der man ist, während man denkt oder in den inneren Schall­raum hinein­spricht, was man vermittels eigenen Denkens so noch nicht von sich gehört hat, verstummt.
  Man denkt gewisser­maßen nur noch vor der eigenen Haustür.
  Dieses Denken ist durchaus effizient und hochgradig lösungs­orientiert. Aber man denkt sich als den Erschaf­fer oder als die Wesens­grund­lage des Logos nicht mehr mit. Dadurch wird der innere Monolog quasi trocken­gelegt.
 
So gesehen ist die Information die härteste Droge der Welt.

Durch sie wird Literatur, wo sie sich selbst noch versucht, patho­logisch explizit, ober­flächen­krass und grotesk. Sie überschlägt sich in ihren Formu­lierungen. Sie verspielt in der Über­ironisierung ihre Intention auf Indi­vidua­lität. Sie kann an keiner Stelle mehr aus der Kommuni­kations­narkose heraustreten.
  Die Informationen oder die sogenannten Nachrichten halten das Gehirn in einem sinnlosen Zustand von Alarmiertheit, einem Sucht­zustand, ohne noch die geringste Bedeutung zu besitzen außer der ihrer augen­blick­lichen, aber pausenlosen Ein­peit­schung. Sie wird zum mono­tonen, gebets­mühlenartigen Stimm­fühlungs­laut einer bunten, deli­rierenden Masse von lebens­länglich kon­sumierten Konsu­menten. Der Selbst­mord­versuch, das Ketten­rauchen, die Branden­burger Neubau­siedlung mit bunten Kunst­stoff­ziegeln, die Gefahr beim Aussteigen im Falle einer Lücke zwischen Zug und Bahn­steig#-kante, das von der Kon­dom­indus­trie auf­gekochte Aids­risiko, Darm-, Hoden-, Brust­krebs oder die sucht­er­zeugende Gefahr von Lotto, Toto oder Auto­maten­glücks­spiel sind nichts gegen NTV, CNN, Microsoft und Vodafone.
  Dort werden tat­sächlich die einzigen Nägel mit Köpfen gemacht, mit denen die heutigen Kreuzi­gungen kurz und schmerz­los sich durchführen lassen.

Im Grunde befinden sich alle Menschen heute nur noch ausschließlich in Fuß­gänger­zonen und Einkaufs­zentren, in denen sie sich auch befinden, wenn sie sich einbilden, sich nicht dort zu befinden. Eben gerade weil Denken ohne Bezug zu einer norma­tiven Wahr­heit ein ebenso eitler Wahn wie die um ihr Wesen gebrachte Wahrheit selbst ist. Oder aber weil sie für andere Orte des Seins gar keine Be­griff­lichkeit mehr haben. Wer heute meint, mit seiner oder seinem Geliebten im Bett zu liegen und glücklich zu sein, ist einfach ein hoff­nungs­loser Narr, ein im wahrsten Sinne des Wortes Verblendeter, der trotz der Simpsons und Soaps immer noch nicht gemerkt hat, dass er gar nicht exis­tiert.
  Dies ist auch der Grund, warum die Men­schen nicht mehr singen oder sterben, denn sie haben keine Stimme mehr für den Gesang und keine Sprache mehr für den Tod. Wenn sie lautlos und vollkommen unbeachtet und mit etwas Glück dement aus dem Leben scheiden, bedeutet das lediglich, dass sie nicht mehr ans Telefon zu kriegen sind.
  Tot sein heißt nicht mehr gebührenpflichtig sein. Sonst gar nichts.
  Wenn der Mensch nun in einer solchen Situation Kunst macht, dann ist diese Kunst weiter nichts als ein Abstrich von den weltweit akut und aktuell ent­zünde­ten Schleim­häuten. In Ab­wand­lung eines berühmten Zitats von Max Lieber­mann ange­sichts der Nazis möchte man sagen, sie können gar nicht so viel scheißen, wie sie telefonieren müssten, um für den nächsten Anruf wieder genügend Nach­schub zu haben.
 
Das Versiegen des Inneren Monologs ließe sich sicher seriöser darstellen, als ich das tue oder grundsätzlich für wünschenswert erachte.
  Mit den allereinfachsten Modellen oder Methoden könnte man schnell zu ordent­lichen und empirisch sattel­festen Ergeb­nissen kommen. Skalen oder Werte für den inneren Auf­merk­sam­keits­verlust und wie dieser mit dem Subjekt­verlust einhergeht und weshalb.
  Aber diese Gesellschaft ist so verbraucht, dass dies vermutlich nur, wie beim Zigarettenkonsum, zu verordneten Warnhinweisen führen würde wie:
  »Kommunizieren kann süchtig machen«, gegen die der restlos gegängelte Mensch von heute zu seinem großen Glück vollkommen abgestumpft ist.

Das Versiegen des Inneren Monologs als der schwindenden Kraftquelle der Lite­ratur schlecht­hin wird wir­kungs­voll unter­stützt von einer mehr und mehr um sich grei­fenden flapsigen Insuffizienz und schillernden Unsach­lich­keit der Kritik, welche sicher auch (aber nicht nur) eine Folge des durch die Streichung der Mittel er­zielten Diskurs­verlusts gesehen werden muss. Viele Kritiker agieren dabei mit ganz ähn­lichen Karriere­stra­tegien wie Kuratoren. Sie wollen sich inmitten der Künstler als Stars präsentieren, dieser vorläufig letzten Form des Priestertums. Sie ver­göttern und ver­götzen das binäre Nichts im Zentrum der Kunst und schreiten durch deren Peri­pherien mit der Selbst­herrlich­keit von Sultanen: anmaßend, nass­forsch, eitel.
Die Künstler selbst sind ihre Hofschranzen.
  Ich meine damit, mit den Kritikern, ausdrücklich nicht die oft wunderbaren Menschen, die über byzantinische Mosaiken oder engli­sche Hofmusik schreiben beziehungsweise über Bücher zu diesem Thema, denn da muss man schließ­lich Belege bringen, wes Geistes Kind man ist. Ich meine die hippen!
  Alle diese Entwicklungen geschehen selbst­verständlich nicht zufällig und vor allem rekru­tieren sich ihre Vollstrecker, die schauer­lichsten wie üblich, aus den eigenen Reihen. Schließ­lich sind ja vor­wiegend die in festen und guten Bezügen agie­renden Kultur­betreiber die Akteure dieser uner­trägli­chen Prak­tikanten­sklaverei oder der alles andere nieder­walzenden Best­seller­zucht.
  Oft können die immer kleiner werdenden und mit immer geringeren Mitteln arbeitenden Feuilletons und Redaktionen es sich einfach nicht mehr leisten, Lite­ratur jenseits des Buchmarkts adäquat zu präse­ntieren.
  Wenn ich einen Roman von Ken Follet oder von John Grisham zu besprechen habe, so kann ich das einiger­maßen in Echtzeit leisten. Ich lese das Buch und dabei schreibe ich die Rezension.
  Bei Roland Barthes oder Thomas Pynchon, ich erwähne absichtlich zwei gute alte Felsen in der Brandung, ginge das nicht. Jeder Kritiker muss kom­plexe Lite­ratur quasi auf »eigene Kosten« be­sprechen, und die Kluft zwischen Aufwand und Ertrag wird immer un­sinniger.
  Es ist schlichtweg nicht möglich, ein paar Wochen zu arbeiten, die Lektüre selbst noch gar nicht dazu­gerechnet, und dafür dann ein Honorar von 200 Euro zu erhalten. Noch beschwer­licher wird es, wenn ein paar Wochen Arbeit, zuzüglich der Recherche, absolut nicht genügen, um einen suffi­zienten Beitrag zu schreiben, und man dann als Belohnung für diese un­sinnige Anstren­gung gar kein Honorar mehr erhält.
 
Dies alles hat zweierlei zur Folge.
  Erstens ersparen sich nach den verschwen­de­rischen Wirren der Jugend und des Volon­tariats immer mehr Kritiker die Aus­einander­set­zung mit auf­wendiger Literatur, zweitens wird da­durch auf­wendige Literatur, worunter ich komplexe, nicht ver­handel­bare Literatur verstehe, immer mehr aus dem Kreis einer größeren Beachtung gedrängt.
  Diese Prozesse werden nachhaltig unterstützt oder sogar hervor­gerufen durch die Strate­gien des Buchmarkts.
  Besonders Schlaue, die einigermaßen ausge­stattet sind mit Intelligenz und Bildung, bauen auf das auf, was sie sich vor ihrer Dezen­tralisierung durch die neuen Medien kultu­rell ange­fressen haben, und verweben unauf­fäl­lig das einiger­maßen zuver­lässig Erworbene mit dem schnell mal en passant Auf­gegrif­fenen.
  Dabei nutzen sie gern die Narrenfreiheit des Namedroppings, um den Leser zum Mitwisser von vermeint­lichen Insidercodes zu machen.

Das Gegenstück dazu sind die an allen Ecken und Enden lauschenden Busch­trommel­partisanen, die sich in die ver­nommenen Im­pulse einpacken und mit ihnen ver­schicken. Es ist dies eine Guerilla­technik, die ohne größere geistige Aus­stattung direkt ins Zentrum des Geschehens und des Geschäfts führt.
  Wie so etwas aussehen kann, will ich am Beispiel der Kritik von Andreas Kilb in der »Frank­furter Allge­meinen Zeitung« vom 6. September 2012 zu meinen »Per­ga­mon Poems« demons­trieren.
  Sie bezieht sich auf unseren Auftritt beim ILB mit Jule Böwe und Tomas Spencer und den Filmen von bboxx Filme, der, im Gegensatz zu den beiden anderen Er­öffnungs­veran­staltungen, nun tat­sächlich ein unbe­streitbarer Erfolg war.
 
Kilb borgt sich für die Überschrift seiner kleinen Fahrradtour durchs ILB- Programm mal schnell eine Formu­lierung aus meinen Poems: »Vom Torkeln der Torsi«, die immerhin einen gewissen Glanz über seine Journalistenprosa breitet.
  Selbstver­ständlich lässt er die beiden großen Namen ungeschoren, den
  einen gar unerwähnt, allen anderen, »nobel­preis­trägerinn­en­funkeln­den«, die noch nicht einmal gelesen hatten, nickt er im Vorbeiradeln freund­lich zu.
  Am Schluss kommt er zu meinen »Per­ga­mon Poems« und hier leistet er in der Tat Erstaun­liches.
  Er hat zwar auch wieder sein Fahrrad dabei, aber er möchte jetzt, um dem Gesetz der Branche Genüge zu tun, auch mal kurz auf die Kacke hauen.
  Dabei bedient er sich des interessanten Tricks, dass er auf die Gedichte selbst, den Hintergrund, das Thema, die Vorlage, den Auftrag oder die filmische Umsetzung gar nicht erst eingeht.
  Ob­wohl wir in der Dich­tung es ständig mit der Ver­messen­heit und Anmaßung von Menschen zu tun haben, die glauben, Gedichte wären etwas, wo jeder mal kurz drüber­rutschen kann, nützt er diese günstige Gelegen­heit erst gar nicht, sondern vergnügt sich ohne Zwischen­schritte am Billigen Jakob seiner Kundgabe.
  Und die moniert nun tatsächlich: das staatstragend Brave dieser Verse! Meiner Verse.
  Nachdem ich nun 30 Jahre Gedichte geschrieben und veröffentlicht habe, für die ich es in Kauf genommen habe, 20 Jahre davon 50 Prozent unter dem jewei­ligen deutschen Exis­tenz­mini­mum zu exis­tieren, und die nun wirk­lich für alles andere bekannt sind, wie eigent­lich alle meine Texte, als dass sie beson­ders staats­tragend wären, darf ein Herr Kilb aus seinem Papier­korb kriechen und einfach das Gegenteil behaup­ten.
  So wie die Privatsender gerade eben mit jener (musikalischen) Vielfalt werben, die sie nicht nur nicht haben, sondern auch ins Jenseits beför­derten.
  Aber wir können ruhig in dieser Sache eine Spur logischer und sachlicher werden.
  Was wäre das Gegenteil von staatstragend? Rebellisch? Umstürz­lerisch? Anar­chisch? Vermutlich!
  Wieso aber und für wen um Himmels­willen sollte man diese Haltung gegenüber einem Kunstwerk ein­nehmen, das man bewundert und liebt?
  Es war dies ja der einzige Grund, warum ich in einer terminlich geradezu unmög­lichen Zeit den Auftrag annahm. Über den Pantheon-Fries zu schreiben, hätte ich zum Bei­spiel abge­lehnt, weil ich den weniger auf­regend finde.
  Alles andere wäre sowieso völlig aus­geschlossen gewesen.
 
Zudem war es eine Auftragsarbeit für ein groß­artiges Museum, die für ein großes Pu­blikum funk­tionie­ren muss(te), und, wie Herr Kilb sich auf YouTube über­zeugen kann, auch funk­tioniert. Es gibt, was die Zahl der Aufrufe anbe­langt, nichts Ver­gleich­bares im Poesie­film­sektor, was natür­lich nicht nur meinen Texten, sondern auch den Schauspielern und den Filmemachern zu verdanken ist.
  Aber damit nicht genug, ich muss meine staatstragend brave Ergriffenheit auch noch mit kleinen Rotzigkeiten abschmecken, wie Herr Kilb das ausdrückt.
  Ich bin platt.
  Wäre das nicht gerade das, was man als staats­tragender Mensch nicht tut?
 
Darüber hinaus irritiert es mich zumindest auf ironischer Ebene, wie ausge­rechnet jemand, der für das geradezu sprich­wörtlich staats­tragende Blatt in Deutsch­land schreibt und von dem meines Wissens nicht bekannt ist, dass er sich darüber je im nachles­baren Aufruhr und Wider­stand befunden hätte, dazu kommt, sich dort für nicht staats­tra­gende Unge­zogenheit stark zu machen.
  Haben wir es hier vielleicht mit der Nachgeburt eines »Yuppie-puppydrawing-room-revolutionary« zu tun?
  Ich wünschte, es gäbe die Möglichkeit, seine einem schnell mal so Drüber­wischen geopferte Ehre per Duell wiederherzustellen. Herr Kilb könnte den Ret­tungs­schirm, nach dem er am Ende seiner Tollerei ruft, dann sicher selbst gut gebrauchen.

Worauf ich hinaus will.
  Die Literatur eines Landes oder, sagen wir, einer Sprache korrespondiert immer mit der jeweiligen Auffassungsgabe und dem jeweiligen Geisteszustand ihrer Kritik.
  Ich bewundere es, wenn diese Kritik, wo angebracht, von brillanter Schärfe ist.
  Man muss dafür keine Ausbildung bei der Fremdenlegion hinter sich haben, im Gegenteil. Aber es hilft, wenn eine gewisse Feinheit der Bildung zur Verfügung steht.
  Und es wäre gut, wenn man auf den Vogel zielt, den man abschießen will, und sich nicht nur am Krach des eigenen Gewehrs ergötzt.
  Ein gutes Beispiel für mich ist Friedrich Gundolf, der Freund Stefan Georges, der zu in der Tat schonungslosen Urteilen in der Lage war. Lektüre­beispiel: seine beiden Bände über die Romantik. Aber dieser eindrucksvolle Mann weist sich ständig aus durch fundierte Kenntnis, Sach­bezug, Respekt vor der Kunst und in sich schlüssigem Urteil. Eben dieses halte ich für das Mindeste, was man von der Kritik erwarten dürfen muss, dass der Kriti­ker zu erkennen gibt, auf welcher Grund­lage er urteilt, und dass er, wenn er für die FAZ schreibt, das nicht im Stil der Lach- und Schieß­ge­sells­chaft betreibt.
 
Es ist schon schlimm genug, in einem geistig verwirrten Land für ein geistig ver­wirr­tes Volk Gedichte zu schreiben, ohne den Typus des ausgesprochenen Lyrik-Blödels ver­körpern zu wollen. Wenn dann aber auch noch eine Kritik ins Kraut schießt, die in nerv­tö­tender Unher­geleitet­heit ihr eigenes Feuer­werk abbrennt, weil man damit die Menge und vor allem die heimlichen Feinde der Kultur belustigt und an den Tisch bringt, wird es ärger­lich. Die Wurzeln ent­gleisender Kritik sind natür­lich, wie ich schon oben ausgeführt habe, struktureller Natur. Man kann sowieso kaum noch irgendwo davon exis­tieren. Man muss auffallen, und das erreicht man gewiss nicht durch Subti­lität. Aber überall, außer bei der Literatur, muss man eine Ahnung haben, worüber man schreibt.
  Wenn man ein Musikwerk Händels bespricht, genügt es auch nicht, dass man lesen und schrei­ben kann und gern ins Kino geht. Intelligenz allein genügt nicht für ein Urteil auf einem Gebiet, auf dem man keine Koordi­naten und keine Kenner­schaft besitzt.
  Das geht nach meinem Dafürhalten so weit, dass man selbst als Autor nicht von Haus aus befähigt ist, über Gedichte zu urteilen, wie tausend­fach und seit Jahr­tau­senden belegt ist.

Ein schlagendes Beispiel liefert der sonst sehr auf Intellekt und Bildung bedachte und über­wiegend auch in der Tat ein­drucks­voll schreibende Martin Mose­bach mit seiner Eloge auf seinen Verlags­kollegen Czernin in »staub­gefäße«. Dieses Vorwort ist ein Dokument abso­luter Ver­peilt­heit und im Grunde genommen ein Mus­ter-Fall­bei­spiel für den Analy­tiker, der darin mit Leichtigkeit den gra­mmati­kalischen Ver­sündi­gungs­phanta­sien des ehemaligen Strebers und zu ge­bremstem Mut & Überschwang Erzogenen nach­gehen könnte.
  Ich will hier bei Gott Kilb und Mosebach nicht in einen Topf werfen, obwohl ich den Begriff »staat­stragend« bei Mose­bach eventuell sogar wagen würde, selbst wenn ich ihn auch da für wenig sinnvoll hielte, ich will nur zu bedenken geben, dass dem Gedicht sowohl vonseiten des Vorschlaghammers als auch vonseiten der Pinzette und der Perücke Gefahr droht.
  Die wenigen Dichter, die im durch­kapita­lisier­ten und zugrunde kommuni­zierten Westen noch einigermaßen durchdrungen vom poetischen Eros in Erscheinung treten, sind sich in ihrem unwilligen Blick auf unsere Lebens­um­stände ziemlich einig, gerade auch im Einge­denken der poten­ziellen Einzig­artig­keit von Dich­tung, wie man er­frischend in dem wunderbaren Buch »Leaving the Atocha Station« des eben auch als Dichter wirk­lich beson­deren Ben Lerner lesen kann. Dort wird un­nach­ahm­lich erzählt, wie wir, die unentwegt Veräppelten, uns fühlen, wenn wir mit denen kon­fron­tiert sind, die mit ihren Meinungen auf uns lauern.
  Besonders, wenn wir un­glücklicher­weise nicht zu jenen Künst­lern gehören, die vor lauter Wimper­geklimper und Selbst­ver­narrt­heit nur noch Sti­pendien­anträge ver­fassen, netz­werken und von keiner Bühne, auf der sie einmal Fuß gefasst haben, wieder her­unter zu kriegen sind.
  Also nicht aus den Legebatterien kommen, sondern aus den letzten, durchaus auch urbanen Biotopen.
 
Zwei Phänomene habe ich beschrieben, welche die Zukunft der Literatur immer mehr ein­schränken dürften. Das Versiegen des Inneren Mono­logs und die Kürzung der Kritik auf die Plakativität eines Wein­flaschen­etiketts.
  Ein drittes, die Rolle der Buchmärkte, habe ich ausführlich in meiner äußerst bra­ven und staats­tragenden Kranich­steiner Rede thema­tisiert.
  Ent­subjekti­vierung und Utopie­verlust lassen sich ohne theo­retische Ausführ­lichkeit kaum darstellen, gehören aber unbedingt in diesen Zusammen­hang.
  Der zunehmende Vampirismus jugendlicher Künstler kommt hinzu, ist aber vom »unab­hängigen« Diskurs noch so gut wie überhaupt nicht erfasst.

Die Trustfizierung der Eventindustrie und die Er­drückung der »National­litera­turen« durch anglo­phone li­te­rarische Einweg­ware wirken nach Kräften mit. Die führende Lekto­rin eines großen Verlages schrieb mir kürzlich: Alle hätten sich auf der letzten Frank­furter Buch­messe »wie die Wahnsinnigen die Hacken abge­laufen«, um irgend­etwas Engli­sches einzu­kaufen, aus dem sie, koste es, was es wolle, einen Best­seller hätten machen können, aber es gab einfach nichts.
  Auch dies wieder eine von den Akteu­ren selbst zur Aussage ge­brachte und nicht als Urteil über sie gefällte Infor­mation, die einen echt das Gruseln lehren könnte.
  Schade, dass sich in Australien, Kanada und dem Mittleren Westen gerade mal wieder keiner aufstöbern lässt, den man mit James Joyce oder Jane Austen vergleichen kann.
 
Eine besonders inter­essante Rolle spielt in diesem Zusammen­hang die zu­neh­mende Dif­fa­mie­rung des Kultur­pessimis­mus.
  Dabei sind die, die ihn anprangern, meist der lebende Beweis für seine Not­wen­dig­keit.
  Das Motiv nährt sich aus der alten Weisheit, den Über­bringer der schlechten Nach­richt zu liqui­dieren.
  Hegel hat in der »Phänomenologie«, dort wo er seine These vom »Ende der
  Kunst« ent­wickelt, sinn­gemäß geschrieben, »… das soll nicht heißen, dass es nicht weiter­hin etwas gibt, was unter dem gleichen Namen weiter­geht«.
  Ich finde es ziemlich amüsant, wenn man im Kunst­diskurs, der bestimmt zum Ver­wegens­ten gehört, was je den mensch­lichen Ver­stand in schrift­licher Form ver­lassen hat, sich nach wie vor mit Pro und Kontra die Köpfe einrennt. Das Ergeb­nis dieser Dispute könnte als Ver­lockung für Kinder im Tante-Emma-Laden nicht mit einer Scheibe Gelb­wurst kon­kurrieren.
  Es ist keiner darunter, der dem hegel­schen Verstand auch nur im Entferntesten das Wasser reichen könnte, aber man hängt sich das ganze Denkgeschmeide wie ein paar schep­pernde Blech­büchsen an den Auspuff und ab geht's!


Gerhard Falkner  2013  

 

 
Gerhard Falkner
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