Frankfurt liest auch
Höreindrücke von den zweiten „Open Books“
Open Books
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OPEN BOOKS 2010 | Website
„Das Dargebotene bestimmten die veranstaltenden Verlage, allesamt unabhängige, nicht die großen Buchkonzerne.“
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Nanu, was ist das? Leuchtbuchstaben, groß wie Stockwerke, klettern Fassaden hoch. Das Literaturhaus, die Alte Nikolaikirche sind auf einmal gigantische Buchseiten. Oder Bildschirme? Egal, der Betrachter weiß dreierlei: Hier ist was los. Wörter sind los, eine ganze Stadt voll. Und Wörter sind die Helden, die Häuser spielen nur mit, als Hintergründe, als Displays.
Schöner und zugleich großspuriger als mit der Installation der Künstlerin Jenny Holzer lässt sich nicht bebildern, was Frankfurt macht. Leipzig hat es vorgemacht mit „Leipzig liest“. Die Buchmesse wird Stadtereignis, freigelassen aus dem Gehege um die Messehallen, die Geschäftszahlen. Losgelassen auf die Bürger und die bücherhungrig Angereisten. Im zweiten Jahr, nach erfolgreichem Probelauf mit verdoppeltem Programm, 170 Veranstaltungen, gingen die „Open Books“ über diesmal eine Reihe von Frankfurter Bühnen. Außer dem Kunstverein öffneten vor allem das Haus am Dom, die evangelische Stadtakademie, die Heussenstamm-Galerie und das Literaturhaus ihre Pforten.
Das Konzept entworfen, den Rahmen gezimmert hat ein engagiertes Team um Sonja Vandenrath und Silke Hartmann vom Literaturdezernat. Das Dargebotene bestimmten die veranstaltenden Verlage, allesamt unabhängige, nicht die großen Buchkonzerne. Ein Marathon von acht Romandebüts machte den Auftakt. Wenn deren Qualität bescheiden ist, kommt den Machern des Lesefests doch das Verdienst zu ein Panorama des neu Geschriebenen zu zeigen. Große Themen dominieren, als Kulissen recht gewöhnlicher Liebesgeschichten. Die Wiedervereinigung samt nachgereichter Finanzkrise bei Markus Feldenkirchen, „Was zusammengehört“ (Verlag Kein & Aber). Ein Tableau sozialer Ausgrenzung mit Gewaltfolgen in Oliver Beckers „Kleinstadtghettoballade“ (Plöttner). Die Shoa, konkret die Leiden der Opfer in der Wahrnehmung ihrer Enkel wählt Vanessa F. Fogel als Thema des Romans „Sag es mir“ (weissbooks). So weit, so gespannt vernahm der Berichterstatter, was die Autoren über ihre Bücher zu sagen wussten. Bis sie daraus lasen. Was allenthalben fehlt, ist die Sprache, sind die literarischen Mittel - nach dem Höreindruck, welchem „Play. Repeat“ von Marcel Maas (Frankfurter Verlagsanstalt) noch angefügt sei. Die ersten fünf Debüts waren vier zu viel, der Reporter floh.
Gehört hatte er noch Anna-Elisabeth Mayers „Fliegengewicht“ (Schöffling), ein Schmuckstück. Drei betagte Patientinnen einer Herzstation begrüßen einen jugendlichen Neuzugang, bombardieren das „Küken“ mit skurrilen Erinnerungen und Phantasien, wetten mit ihr, dass sie dem Kardiologen erliegen wird. „Dankbar“ nennt die Autorin die Vorgaben eines so abgegriffenen Genres wie des Arztromans. Sie wird es nach Strich und Erzählfaden dekonstruieren. Aberwitzig wie Thomas Bernhard wirrt sie die Frauenstimmen ineinander. „Mein Mann war ein guter Mann. Nur schnell bös geworden ist er halt.“ Wienerisch hinterfotzig plaudert das, unterhaltsam bös auf charmanteste Art. Und neu im Timbre.
Manche Debüts kriegen gleich den großen Bahnhof, prangen auf Plakatwänden. Sascha Lobos „Strohfeuer“ (Rowohlt) ist so eins. Roter Iro-Schopf des Autors, voll tönende Ankündigung der Wahrheit über die Wirtschaft. Sascha Lobo ist Werber. Wenn er von den Aktionen erzählt, die er vor zwei Jahren, vor einem Jahr für seine Werbefirma gefahren hat, wird klar: Dieses Jahr ist Lobos Werbeaktion ein Buch. So klingt es auch. Honi soit qui pense: Wie viel hat der Verlag für die Veröffentlichung genommen?
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Schöfflinggrazien (von rechts):
Mareike Krügel und Sabine Baumann
lauschen Svenja Leiber
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Natürlich gab es auch gute Bücher. Vom guten Debüt beschwingt ging der Testhörer gleich noch mal zu Schöffling. Zuerst sprang da kein Funke. Mareike Krügel las aus „Bleib wo du bist“, ihrem dritten Roman, dessen Biederkeit jeden ironischen Ausreißersatz schon beim nächsten einholt. Eine Homo-Faber-artige Romanze rettet das Buch nicht. Im Gegenteil wirkt der verliebte Held, ein Psychologe, vor der Folie des Frisch-Romans doppelt fad, als Techniker, nicht als Versteher der Frauenseele. „Schipino“ von Svenja Leiber nimmt dagegen mit einer Sprache gefangen, die kalkuliert unter osteuropäischen Einfluss gerät. Der Held reist an Ostern nach Moskau, auf Einladung eines Freundes. Aus dessen Wohnung im elften Stock kommt er wochenlang nicht raus. Der Freund und dessen Ankündigung einer Reise, schließlich des russischen Sommers, den der Held unbedingt erleben müsse, sind vorerst alles, was Russland bietet. Und es genügt. Sprichwörter durchziehen den Text, stellen seine Weichen: „Wenn es dich an der Stirn juckt, wirst du bald verrückt“, erfährt der Held. Was mag der Leser noch alles erfahren?
Gut(e)leut: Oleg Jurjew lauscht Sascha Anderson
Große Poesie wird auch geschrieben, gleich um die Ecke. Der gutleut Verlag in Gestalt seines Programmleiters Sascha Anderson präsentierte den Wahl-Frankfurter Oleg Jurjew mit dem Poem „Von Orten“. Zwei Mal wurde es geschrieben: auf Russisch, auf Deutsch. „Zwei ganz verschiedene Bücher“, sagt Jurjew. Ein mitreißender Vortrag führt das Publikum durch Frankfurt, die Pfalz und angrenzende Schauplätze Europas. Weit offene Blicke des Reisenden heben Fundstücke auf, die der Einheimische liegen lässt, betrachten sie unter der Lampe mitgeführter Bildung und Prägung. „Der Wein wird im Stehen begraben“, so steht es in dem Gedicht „Die Pfalz, November. Soldatenfriedhöfe des Weins“. Ist mehr über den Pfälzer November sagbar? Der zweite Autor an dem denkwürdigen Abend sei auch erwähnt, Arnfried Astel, dessen Band „Das Spektrum / gibt dem Augenblick / die Sporen“ seine hinterhältige Prägnanz schon im Titel trägt.
Poesie und Prosa vereint das persönliche Highlight des Reporters, Marica Bodrožics erster Roman „Das Gedächtnis der Libellen“ (Luchterhand). Über dieses Buch der schon erfahrenen Autorin wird viel geschrieben, endlich. Es hier vorzustellen ist kein Platz mehr. Noch zwei, aus Platzmangel vereinfachte, Überlegungen zum Schluss, die das Buch einbeziehen. Die deutsche Sprache verdankt zunehmend Menschen, die sie als zweite oder dritte erwerben, ihre schönsten Bücher. Besonders (Süd-) Osteuropäer schreiben sie. Könnte, weil östlich von uns in den letzten vierzig Jahren mehr Geist als Geld vorhanden war, von dort eine Generation stammen, die besser schreibt als wir? Die wir hauptsächlich Geld hatten und haben. Und welche Rolle spielt die Tradition? Autoren wie Jurjew und Bodrožic haben russische, Astel japanische und deutsche Vorbilder im Ohr, wenn sie schreiben. Das kann man hören. Traditionen bestimmen auch die neuen Bücher von Jutta Ditfurth (Arbeiterbewegung, Feminismus) und Peter Wawerzinek (Beatniks, Volkslied u.a.). Die Letztgenannten in politischer, alle Erwähnten in literarischer Hinsicht bleiben abseits von Trends, die die literarische Qualität bedrohen. Geben ihnen am Ende Traditionen dafür das Rückgrat?
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Ewart Reder
Prosa
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