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Clemens Meyer
Gewalten

Planet Meyer:
Ein großer Außenseiter umkreist den LiteraTurm
Kritik
Clemens Meyer | Der Glückliche   Clemens Meyer
Gewalten
Ein Tagebuch
S. Fischer, Ffm 2010
223 Seiten 16,95 Euro


Was gegenwärtig real ist, war auf dem Frankfurter Festival LiteraTurm zu erfahren. Unter dem Motto „radikal gegenwärtig“ sprachen 27 Podien über den „zeit­diag­nostischen Roman“. „Wirklich“ hieß da unter anderem: das nicht von Göttern und auch nicht von Menschen Gelenkte. Zum Beispiel die Bankenwelt (sic!). Die Krise hilft Menschen, die nicht mehr 40 Jahre im selben Betrieb arbeiten wollen. „Bohemismus“ lautet das Zauber­wort, das die Realität bunter und in Berlin den Hauptumsatz macht. Berlin gleich Bundes­regierung plus Techno, verlautete vom ­Podien­planeten. Immerhin, mit dem Köhler-Rücktritt ist der Bohemismus auch in der Politik angekommen.
  Noch einen zweiten Planeten gab es. Über den bewegten und unter­hielten sich der Schrift­steller Clemens Meyer und einzelne Fest­besucher. Das Berlin-Kapitel aus Meyers Tagebuch „Gewalten“ (S. Fischer) besteht aus einigen hundert Metern Bundes­allee, Bahngleisen, einem Kraftwerk und wabernden Nacht­gesichten. Kein Techno, keine Bundes­regierung. Oder doch, ganz am Anfang das ganz neue Schwarz-Gelb. Vor dem flüchtet der Schriftsteller sich in sein dunkles Kapitel.
  Vom Podien­planeten wurde bekannt, es gebe da kaum noch Reales. Drei würden aber bleiben: geboren Werden, Sterben und die Krank­heiten. Realität sei, was Sorge, real dagegen, was Angst mache. Was literarisch nicht mehr gehe, seien heldische Gegen­entwürfe. Zu weichen hätten sie panoramischen Konzepten. Wirklich gewachsen sei der Roman der modernen Poly­phonie aber auch nicht. Nägelkauen.
  Was hier Angst auslöst, ist dort Zuflucht. Die Härten sind Clemens Meyers Hoff­nungen. Mit fast identischen Formu­lie­rungen nennt er einmal das Bordell, ein andermal die Galopp­rennbahn einen Ort, an dem er sicher ist. Vor dem Er­stickungs­tod in der Wattewelt, muss das heißen. Gewalt­phantasien und spiele, Zombie- und Splatter­plots notiert Meyer ebenso wie Steinmeiers Guantanamo-Tritt für Murat Kurnaz, wehrt sich gegen die Gewalten im Kopf und braucht sie zugleich um nicht ein­zuknicken. Das übertritt Grenzen, fast grundsätzlich. Den Kinder­schänder lässt er so nah an sich ran wie den Drogen­dealer, den Einbrecher. Nachbarn alle. Da herrscht ein anderer, ein proletarischer Plura­lismus. Die bürgerliche Abgrenzung gegen Delinquenz funktioniert nicht, wo die legalen Auswege versperrt oder aber die Delinquenten die alten Freunde sind. Auf eigene Faust wird hier geschrieben. Clemens Meyers Des­interesse an einer von Moden und Medien organi­sierten Polyphonie äußert sich, um im musik­histo­rischen Bild zu bleiben, nicht klassisch-romantisch als Homophonie. Eher grego­rianisch. Konzentriert verfolgt der Autor seine Geschichten, wie Roulettekugeln oder Angriffe des FC Sachsen Leipzig, in dem Wissen, es geht ums große Glück.
  In Frankfurt am Main saß Meyer mit fünf KollegInnen auf dem vorletzten Podium. Las als letzter. „Ein Schlacht­schiff neben fünf Tret­booten“ schrieb eine Zeitung – unfair, da wenigstens Nadja Einzmann krachend begabt und manches Talent heute unschuldig nur das Mehl zwischen den Mühl­steinen Verlags­lektorat und Medien­diktat ist. Eine Rakete mit zwei Trieb­werken, hintenvorne – vielleicht ist das die Situation des großen Sachsen. Seine Energie reicht Galaxien weiter als nur zum Quotenproll, zum Podien-Antipoden. Er muss sich entscheiden. Will er als Feuerball enden? Oder umrüsten zum inter­stellaren / -stilis­tischen Brücken­schläger (lateinisch pontifex) der Literatur.
  Risiko dabei: Der Betrieb dürfte ihn fallen lassen. Feridun Zaimoglu war hipp als Provo­kateur, da hat er sich grad die Finger warm geknetet. Um den inzwi­schen Furcht erregend virtuosen Erzähler ist es still geworden.
Ewart Reder   15.06.2010        
Ewart Reder
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