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Ewart Reder

Fremd im Eigenen

Sechs Häuser suchen sich ihren Roman

Monique Schwitter | Ohren haben keine Lider
Monique Schwitter
Ohren haben keine Lider
Residenz Verlag, 2008
Wenn die Redensart recht hat und das Leben Straßen benutzt, sind Häuser deren Kreu­zungen. Fragt man die Mode, scheinen zwar viele ein Outdoor-Dasein zu fristen. Ihre Autos sind so hässlich wie die Kleinwagen vor vierzig Jahren und so groß wie damals die Häuser. Aber das täuscht, der gegen­wärtige Mensch verlässt sein Haus, außer um in ein anderes zu gehen, nur um allein zu sein oder der Auto­werbung nach­zuträumen. Der Platz des Hauses im gesell­schaft­lichen Leben ist unver­rückbar. Wir thema­tisieren ihn, indem wir sechs neuere Bücher über recht unter­schiedliche Haus­gemeinschaften vergleichen.

Ein Liebespaar nimmt im Garten des neuen Hauses in Zürich sein erstes Frühstück. Aus einem Fenster im Erdgeschoss wünscht jemand guten Appetit. Kommt raus. Zwei Obergeschosse rücken nach. Bei Monique Schwitter, Ohren haben keine Lider (Residenz Verlag), ist das Paar nicht lang allein und will es im Grunde so. Denn außer einander erlebt es nur, was im Haus passiert. Sie vor allem, die Erzählerin des unterhaltsamen Romans, hat noch beinahe nichts erlebt. Als Kind versuchte sie das im Kopf zu ändern, dachte sich Verkehrs­unfälle aus, bei denen die Eltern starben. Bis zu dem schon erwähnten Freund sollte jedoch nichts weiter vorfallen. Der Freund hat nun geerbt und obendrein eine Philosophie: Nichts tuend will er herausfinden, was er tun will. Das verspricht nicht viel. Nicht für die Freundin.

Ein eigenes Leben denkt sie sich aus, jeden Tag, in der Badewanne. Frottiert es jedoch mit dem Handtuch wieder ab. Und hat stattdessen Augen und Ohren an allen Wänden und Löchern des Hauses. Zwar droht Schwitter dem Leser damit, dass der Freund Schriftsteller sei. Erzählen tut trotzdem die Freundin. Das bewahrt den Leser vor einem Roman wie Arno Geigers Es geht uns gut, in dem der ebenfalls erbende, ebenfalls nichts tuende ›Schriftsteller‹ auf seine Ahnen verfällt und vierhundert Seiten Langeweile über sie verzapft. Hier gehts um das Haus, sieh doch das Gute liegt so nah. Um die Nachbarn geht es, das ist lustiger.

„Betätigungsfelder“ werden aus ihnen. Agnes zum Beispiel, deren Wohnung voll tropischer Blumenkübel steht und deren sanftmütigem Mantra Du kannst immer kommen die Erzählerin je länger desto weniger widersteht, zumal sie kommen will. Oder Frau Baumgartner, die Lehrerin, die Hausordnung in Person. Die rigide Post-it-Kommandos an die Wohnungstür klebt – bis die Erzählerin zurück klebt: Bitte nicht aufhören! oder Ich brauche Hilfe! Oder: Ich kann ohne Ihre Ratschlänge nicht mehr leben! Das sind hübsche Einfälle und bleiben es, auch wenn die Wiederholung Schwitters Hauptstilmittel ist und an Platz zwei die Übertreibung steht. Charaktere kommen auf solchem Weg nicht zur Welt, die alte Unterscheidung aus dem klassischen Drama greift: Es sind Typen. Aber was hat die Komödie nicht alles mit denen erreicht, und nur die Hälfte davon nimmt man sich heute noch vor. Monique Schwitter gibt ein quirliges Lustspiel. Und legt eine Figur drauf, die das Theater nicht bieten kann: ihre überaus liebenswerte Ich-Erzählerin.

Interessant ist der Aufbau. Die ausladenden Haus-Geschichten heißen Teil 1 und ziehen, wenn zwei Drittel Platz schon verbraucht sind, einen zweiten, Jahre später spielenden Teil nach sich. Der Verdacht auf eine Schubladen­karriere des Manuskripts liegt nahe. Die Zeit, in der Teil 1 spielt, liegt vor der Zeit der cleveren Geschäftsideen und Ich-AGs, kurz davor, an der Schwelle zu jenem Glück-im-Unternehmertum-Zeitalter des neuen Jahrtausends. Das einen mittlerweile auch aus dem Goldrahmen anguckt. Der zitierte Kontrast kann nur besagen, dass den neunziger Jahren eine Affini­tät zu ökonomisch irrelevanten, aber menschlich aufregenden Unternehmungen eignete. Be­kräf­tigt die Autorin indirekt ihre Zeitkritik damit, dass fast der komplette Teil 2 Spuren aus Teil 1 verfolgt? Ein Kriminalfall steht noch zur Lösung an, Auslands­aufenthalte ehemaliger Nachbarn sind zu recherchieren. Die zeitgemäße Berlin-WG aus Teil 2 dagegen ist brav, nostalgisch, übertrifft sich an Bravheit zuletzt mit einer rüschen­raschelnden Eheanbahnung. Die Ich-Erzählerin mags zufrieden sein unter der Haube. Fast eine Poetik des Buchs steckt in dem Satz: Ich selber machte keinen Lärm und gab kaum Geräusche von mir. Und der Leser? Der wünscht sich, die jung Vermählte möge das Erlebnisvakuum in sich wiederentdecken, als unverkleinert, und ihre Ohren an Berliner Türen und Zimmerwände pressen. Nur, passiert dahinter noch was?

 Edward St. Aubyn | Nette Aussichten
Edward St. Aubyn
Nette Aussichten
DuMont, 2008
Wenn das Leben stagniert, wenn es keinen Lauf, keine Bahn mehr hat, nur noch einen Raum oder mehrere, um stattzufinden, dann sind Häuser keine Kreuzungen mehr, auf denen ihm anderes Leben begegnet. Dann helfen nur noch Partys. Dachte Edward St. Aubyn und schrieb den Roman Nette Aussichten über eine Party und ihre Vor­bereitung (Dumont Literaturverlag). Cheatley, ein Landhaus irgendwo draußen im Regen erwartet seine „Nachbarn“, will sagen Standes­kollegen, sowie den Londoner Jet-Set. Der Gastgeber hofft, dass es nicht rein regnet, worüber die Gattin verstimmt wäre, weil sie nur für die Dekoration und deren Dekorateur Augen hat. Dass ihr Mann einen Ehebruch plant, kriegt sie in dem geräumigen Haus erst mit, als sie ein liegen gelassenes Funkgerät der security findet – und einschaltet. Häuser wie Cheatley dienen der Verhinderung von Treffen besser als ihrer Beherbergung. Eine Bibliothek gibt es, damit einer erst mit der Geliebten verschwinden, danach mit der Ehefrau darüber streiten und zwischendurch den Kunstgutachter beschwören kann nicht den Gästen zu sagen, dass der einzige Poussin des Hauses gefälscht ist. Armes England. Ihm passiert nichts mehr, glaubt man dem Autor und seiner impliziten Behauptung, solche Personen seien der Rede wert, genauer das zweihundert Seiten lange Gerede, aus dem der Roman besteht. Alle Ampeln auf rot, vier an jeder Kreuzung. Nichts kreuzt, nichts geht. Keine Figur steht in einer Entwicklung. Jede der Klein- und Mittelkatastrophen passiert mit Ansage, aus der Warte des Romanlesers passiert also gar nichts. Konsequenter­weise gibt es am Ende keinen Schluss.

Was ist los mit diesen Leuten? Dass der europäische Adel historisch immer ärmer und dümmer wurde, dass er verrohte, in einigen Landstrichen geradezu vertierte, unterscheidet ihn vom Rest der Menschheit kaum mehr als im Zeitpunkt, zu dem das geschah. Hier wird zwar zum wievielten Mal ein besonderer Nimbus des britischen Familienzweigs behauptet. Allein, dem St.-Aubyn-Leser fehlt zuletzt Golo Manns Glaube an den Weg der Anpassung, des allgemeinen Nachgebens und Rückzugs, den der englische Adel mit so viel Weisheit und Eleganz gefunden hat. Anpassung ja, Nachgiebigkeit immer, gegen jede gesellschaftliche Erosion und Entropie. Aber Rückzug? Von den Geld- und Macht-Aspirationen der Elite lassen hieße für diese Leute sich selbst zurückziehen wie einen Vorschlag, wer sie sein könnten nach dem Verlust ihrer Eigenart, auch der meisten Eigenheiten, zumal der liebenswerten. Nur weil Sex sich mit der Durchdringung von immer selbstbewussteren gesellschaftlichen Kreisen verband, hatte der Held je Sex. Dauernd will er in eine größere Welt vorstoßen. Das vorstellbar Schönste im Leben sind Weihnachtskarten von dankbaren Präsidenten und befreundeten Senatoren. Über den Gastgeber denkt dessen Verhältnis: Er ist die Eintrittskarte für die Welt, in die sie eindringen will. Folgt eins der gefeierten Bonmots des Autors: Oder die in sie eindringen will. Mucken die Frauen, hilft Mann sich mit diesem alten Satz über eingeborene Diener: ›Schlag sie grundlos, und du wirst keinen Grund haben‹, sie zu schlagen.' Ekelhaft genug, wird der Roman überfallartig noch lachhaft: Der Held will plötzlich Mitgefühl, wurde einfallsloser Weise vom Vater missbraucht. Ein Selbsthilfegruppenton, vorher Seiten lang verlacht, treibt nun ungestörte Stilblüten. Auf Psychoplatt soll interessieren, was per Partyplausch vorher unermüdlich verhöhnt wurde: menschliches Inneres. Eine Fehlkonstruktion.

Auch dieses Buch liefert seine Poetik mit: Wenn die Heilung durch Sprechen unsere moderne Religion ist, dann muss die narrative Ermüdung ihre Apotheose sein. So ermüdend St. Aubyn schreibt, kann er doch die Gewissheit nicht einschläfern, dass die in seinem Landhaus gefangenen Personen real existieren. Weltweit sind es dreitausend. Würden sie gemeinsam ein Schiff besteigen und sinken, wäre die Erde mit der letzten Luftblase ein um zwanzig Prozent besserer Aufenthaltsort. Der Literatur bliebe ein Buch wie Nette Aussichten erspart, das der schlecht gebluffte Satireanspruch nicht rettet. Kritik am Adel übt es ungefähr so heftig, wie eine Geisterbahn die Korruption unter Gespenstern entlarvt. Auf Demontage macht hier billigste Reportage.

Gilbert Adair | Blindband
Gilbert Adair
Blindband
C.H.Beck 2008
Ein englisches Landhaus mit einem Titel tragenden Hausherrn präsentiert auch Gilbert Adair in seinem auf deutsch 1999 bei Epoca publizierten, 2008 aus unbekanntem Grund zu C.H. Beck gewechselten Roman Blindband. Das Haus wird beschrieben, als der Hausherr jemanden um eine Beschreibung bittet. Alles in diesem Raum ist sehr staubig und verfärbt, erfährt er. Der Hausherr ist blind, damit in einer auf spannende Art ähnlichen Lage wie der Leser: Nur Worte können ihn über die Welt in diesem Roman aufklären. Nicht einmal wie er aussieht, weiß er, da seine Blindheit von einem Unfall herrührt, der ihn entstellt hat. Was John, der Besucher, nach bestandener Prüfung Blindenführer und Assistent, seinem Arbeitgeber Paul über die Welt mitteilt, unterliegt für Paul einer Unwägbarkeit, wie sie grund­sätzlich die Literatur für den Leser besitzt.

Hinzukommt, dass Paul ein berühmter Schriftsteller ist, der seine Autobiografie schreiben will. Johns Augen braucht er, um topografische Details zu recherchieren. Aber nicht nur dafür. Die Beobachtungsschärfe des anderen wird ein eigener Faktor in dem Buch, weiß Paul und fasst es in der paradoxen Aufforderung zusammen: Tipp einfach alles, was ich dir sage. Verlass dich auf dein eigenes Urteil. Unausbleibliche Folge ist eine Beziehung der beiden Männer, die mit ‚intim' noch zu unverbindlich gekennzeichnet wäre. Der Form nach ein einziger über zweihundert Seiten umfassener Dialog, gibt das Buch zum Teil älltäglichste Vorgänge wieder, da in dem Haus nichts mehr außerhalb von Sprache geschieht. Der Inhalt kann seinen Reiz zwischendurch verlieren. Immer spannend bleibt die Beziehung der Hauptfiguren, die nur um wenige Nebenfiguren ergänzt werden. Knisternd in die Handlung versetzt den Leser jedes Vorkommnis, das Zweifel weckt an dem, was real ist. Soll Paul glauben, dass seine Lieblingskrawatte verschwunden ist? Oder hat sich John zum Ausgleich für Pauls herrische Spielchen einen kleinen, aber bösen Scherz mit ihm erlaubt? Und was ist mit dem Schrank, in dem die Krawatte hing? Warum hat der Blinde Angst vor der Vorstellung, wie dunkel es darin ist? Wenn John ein Detail, an das Paul sich zu erinnern glaubt, anders, sogar gegenteilig schildert – was kann Paul dann überhaupt noch als ihm bekannt voraussetzen? Das Spiel mit der Wirklichkeit kippt um in einen Wettlauf der Vergangenheiten, treibt von da einem Höhepunkt entgegen, dessen spektakuläre Qualitäten Blindband nur mit wenigen Romanen der Weltliteratur zu teilen braucht. Die Figuren sind scharf gezeichnet, nicht zuletzt dadurch richtet die Neugier des Lesers sich zunehmend auf sie. Pauls Misogynie, sein Korrekturfimmel, seine Platzangst werfen Fragen auf, die eine grausige Antwort finden sollen. John dagegen muss fast bis zum Schluss auf die Frage warten: Wer bist du, John Ryder? Nichts mehr soll verraten werden. Das Buch jagt einem zuletzt nur noch einen Schrecken ein: Was, wenn man es nicht gelesen hätte ...?

 Zoë Jenny | Das Portrait
Zoë Jenny
Das Portrait
FVA, 2007
Lässt Adair sein Landhaus schon beinahe leer stehen mit zwei Bewohnern, von denen einer auch noch den anderen umbringt, wird es in Zoë Jennys Roman Das Portait (Frankfurter Verlagsanstalt) vollends einsam. Überwiegend solo bewegt sich die aufstrebende Malerin Helen durch ein protziges Vorstadtanwesen. Für drei Monate hat der reiche Privatier R. sie eingeladen. Sie soll ihn malen, seiner uner­freulichen Gesellschaft währenddessen zwangs­läufig ausgesetzt. Feinarbeiten an dem Porträt erledigt sie einsam, auf sich gestellt. Nicht mal mit dem Personal, das durch den Erzählhintergrund huscht, darf sie reden. Am Ende der zweihundert Seiten wartet viel Geld.

Auf sie. Und auf den Leser? Der könnte sich von der reizvollen Erzählidee manches versprechen, das allmähliche Eintauchen in die Atmosphäre des Hauses etwa. Wie das aber, wenn es schon so losgeht: In einiger Entfernung, am Ende der großzügigen Auffahrt, erhob sich vor ihr eine prachtvolle Villa. Der Tempelportikus mit seinen hohen Säulen, die großen mit Giebeln versehenen Fenster, der imposante Treppenaufgang mit den schweren Terrakotta-Töpfen, in denen Oleander blühte, strahlten eine kalte klare Ordnung aus. Die kalte Pracht von Immobilenprospekten weht einen an aus Sätzen, die von Courths-Mahler sein könnten. Fontane schrieb hundert Jahre moderner. Und die Stilpleite zieht sich durch. Wie man eine Flugzeuglandung auf keinen Fall beschreiben darf, ist so: Mit einem unsanften Ruck berührten die Räder des Flugzeugs den Boden. Holpernd rollten sie über die Landebahn. Solche Sprache kostet die Wirklichkeit, was noch ein gewollter Pop-Effekt sein könnte. So sprechen heißt aber nicht mehr selbst dabei sein, wenn abgelegte und abgelebte Floskeln im eigenen Kopf sich um einen Text balgen. Wer so schreibt, sieht irgendwann das grelle Blitzlicht das Bild zerstören und verändern - in der Reihenfolge.

Geheimnisse kommen da nicht auf. Der Hausherr sollte doch eins bergen können. Stattdessen ist R. ein brutaler Typ, dems egal ist, wenn ein Vogel von der Katze gefressen wird, der deshalb (!) am Tod von Helens Maler-Vorgänger eindeutig schuld ist. Helens Vertrag mit R. wird, mehr der Einfachheit halber als etwa geheimnisvoll, zum Teufelspakt erklärt. Anschließend muss der Leser diesen Teufel nur noch ertragen, sein Geschwätz erdulden. Und was erfährt die Heldin? Sie logiert in einem beengten Nebenhaus, weil das leichter zu beschreiben ist. Sie fühlt sich gefangen dort. Ihre Arbeit an dem Bild wird von R. in unangekündigten Visiten überwacht. Immer wieder zieht sie sich auf ihr Bett zurück und telefoniert mit ihrem Bruder. Die beiden wuchsen in beengten Verhältnissen auf. Übersichtlichkeit war Helen schon immer ein Anliegen. Das Puppenhaus in der Praxis einer Kinderpsychologin befreite sie als erstes von seinem Mobiliar. „Es gibt hier zu viele Sachen“, lautete das Urteil.

Interessant wird es noch einmal, als R. sein Motiv für das Experiment offen legt. Er hat in jungen Jahren selbst der Malerei gepflogen, Großes vorgehabt, Kleinstes nicht geschafft, Einlass in eine Kunsthochschule nie erhalten (aha, wie Hitler). Die Künstlerin wird gekauft als personifizierte Jugendhoffnung. Doch was bewegt sie eigentlich selbst? Lange Rückblenden in ihren Werdegang verraten, dass sie lange und intensiv auf den Erfolg wartete. Nachdem er da ist, beschäftigt der Erfolg sie in langen Reflexionen weiter. Szenen aus dem (Ersatz-)Familiennest malte sie - jetzt waren die Bilder plötzlich öffentlich an die Wand genagelt. Der Leser stutzt: Ersterfolg mit intimen Ansichten aus dem Kinderzimmer, zentral dabei ein Verkehrsunfall, bei dem die Eltern starben ... ist das nicht Das Blütenstaubzimmer? Zoë Jenny dürfte eine Studie über ihren eigenen Erfolg geschrieben haben. Die scheinbar originelle Erzählidee wird, so gelesen, zur Alltagsszene des Literaturbetriebs: ungeliebter Stipendiaten-Aufenthalt, einsam, mit Honorar aufzehrender Handyrechnung. Erschreckend in der Leere dieses Literatur-Hauses wäre dann vor allem die Abwesenheit jeder Kunst, in den Träumen der Figur wie im literarischen Tun ihrer Erfinderin. Ein literaturunfähiger Betrieb, hieße das, geht (jugendliche) Literatur einkaufen und merkt nicht mal, dass er nur deren Simulation angedreht kriegt.

Cărtărescu | Die Wissenden
Mircea Cărtărescu
Die Wissenden
Zsolnay Verlag, 2007
Auf den Schreck der Verein­samung sollen zwei menschenpralle Häuser diese Unter­suchung abschließen. Das erste steht in Mircea Cărtărescus Bukarest- und Weltroman Die Wissenden (Zsolnay Verlag), ist dort Ausgangs­punkt einer wilden Stadtrundfahrt, einer Kontinente wie Mythen­kreise über­spannenden Phantasie­reise. Am Ende wird der Leser unweit des Erd­mittel­punkts stehen, „Wissende“ dort die annährend letzten Fragen beantworten hören. Rauchenden Kopfes tut er dann gut noch zu wissen, wo seine Fahrt begann: in einem Mietshaus an der Stefan-cel-Mare-Chaussee in Bukarest. Aus dem drei­gegliederten Fenster seines Jugend­zimmers blickt der Ich-Erzähler Mircea (!) auf seine Stadt wie auf ein Triptychon: Heilig ist, was er sieht. Eine Schrift, die er streunend, tagträumend, auf unter­schiedliche Abenteuer ausgehend zu entziffern versucht, ist für ihn die Stadt und bald die Welt. Entsprechend sei unter dem hier gegebenen Aspekt eine Beobachtung an dem Roman gemacht, die zu der weit aufwändigeren Inter­pretation des Werks im Ganzen einen Puzzle­stein beiträgen kann.

Außerhalb der eigenen Familie sind es zwei Figuren, die Mirceas Phantasie früh beschäftigen. Anca, ein stilles, dabei rätselhaft wildes Mädchen aus der Nachbarschaft, weckt seine Sinne mit den Anzeichen weiblicher Geschlechtsreife. Ein Zigeuner­junge hat ihm den Weg gezeigt zu ihrem baufälligen Haus. Ist Anca selbst eine Roma? Der andere Magnet für Mirceas Phantasie ist sein schon bejahrter, tätowierter, exzessiv trinkender Haus­nach­bar Hermann. Wobei eben die Art von Nachbarschaft, in der Mircea und Hermann zueinander stehen, die Beobachtung ist, die hier mitgeteilt werden soll. Mircea weiß lange nicht genau, wo Hermann wohnt. Wie alle Kinder hat er strenge Anweisung nur das Stockwerk, in dem er wohnt, mit dem Fahrstuhl anzufahren. Schon das ist so groß, dass er nicht alle kennt, die hier wohnen. Von den anderen Stock­werken gibt es zwar Gerüchte und Geschichten, aber keine Anschau­ung, geschweige denn gesichertes Wissen. Irgendwann kommt freilich der Tag, an dem die Jungs den Fahrstuhl zum ersten Mal allein bedienen. Und gleich machen sie einen Ausflug. Erst hoch in den obersten Stock, in dem noch ein Junge zu wohnen vorgibt. Dann über Treppen in ein noch darüber liegendes Gelass, wo es nur eine Tür gibt, nur einen Bewohner: Hermann, der plötzlich in der Tür steht. Das Erlebnis brennt sich unaus­löschlich und folgenreich in das Phanta­sie­album ein, aus dem der Roman besteht.

Als Mircea mit Anca zum ersten Mal allein ist, entdeckt er auf deren Kopf­haut – diese vollständig bedeckend – ein Tatoo, von dem gleich klar ist, dass es von Hermann stammt. Anca zeigt ihm ihre Wohnung, dabei entdeckt Mircea ein Haarschneideset und schert Anca den Kopf. Dort, auf Ancas Schädel, hatte Herman (der Gleiche, dem ich auf den Zementtreppen des Blocks am Stefan-cel-Mare-Boulevard stundenlang zugehört hatte, wenn er in seinem rauen Flüsterton von Felicia und vom Weltraum sprach, und von seinem Bedürfnis, die täglichen zwei Flaschen Wodka zu trinken) ALLES darauf tätowiert, und alles hatte mein Gesicht. In der Formulierung liegt so etwas wie der Bauplan des Romans, die formelhafte Benennung der Pole, die das fiktionale Kraftfeld erzeugen: Ich und Kosmos, Intimes und Weltöffentliches, Erinnerung und Erfahrung sind Terme, die fortan wechsel­seitig füreinander eingesetzt werden.

Wo nimmt eine solche Weltfahrt mit ihrer in der Gegenwartsliteratur fast konkurrenz­losen Reichweite (zwei weitere Bände werden erscheinen) ihren Ausgang? Antwort: in einem Mietshaus, konkret: im sozialistischen Platten­bau. Die Anonymität der Wohn­wirklichkeit, gepaart mit ihrer Dichte, die Unaus­weich­lichkeit menschlicher Begegnung inmitten einer unmenschlichen, an allen Bedürfnissen vorbei geplanten Architektur stellt eine Aus­nahme­situation dar. Mythen entstehen hier ebenso sicher, wie die steinzeitliche Höhle, die archaisch überbevölkerte Polis, die kriegsbedingt überbesetzte Ritterburg ihre Mythen hervorbrachten. Sowas kann keine Stipendienvilla, kein Landhaus, nicht einmal ein mit WGs voll besetztes, an allen Wänden abgehörtes Züricher Mietshaus. Dazu sind Wohnverhältnisse nötig, denen sich freiwillig keiner unterwirft. Künftig wird solche Inspiration nur aus dem so genannten Ghetto kommen - einem mit Cartarescus Architektur nicht vergleichbaren Milieu. Oder sie wird aufhören.

Und noch in einer anderen Hinsicht wurzelt der Erzählbaum des grandiosen Großstadtromans in architektonischem Grund. Mirceas erst kindlicher, dann jugendlicher Blick aus dem Fenster ist ein befristeter. Als der Held zwanzig wird, hebt man auf der gegenüber liegenden Straßenseite eine Baugrube aus. Ein neuer, noch höherer Plattenbau entsteht, er wird den Blick auf die Stadt verstellen. Auf Seite eins des Romans geschieht das. Der verlorene Anblick macht die Stadt erst erzählenswert, spricht sie posthum durch das dreigegliederte Fenster heilig. Dieselbe urbane Modernität, die die Mythen erzeugt hat, sorgt für ihre Apotheose, ihre Himmelfahrt als Flucht von einer zugebauten, unsichtbar werdenden Erde.

Gastfreundschaft
Gastfreundschaft
Textsammlung aus Anlass des 25jährigen Bestehens der Wohn­gemeinschaft Naunyn­straße
Textsammlung online  externer Link
Bleibt noch hinzu­weisen auf ein Buch, das es nicht zu kaufen gibt. Zusammen mit einer Kontonummer, unter der man einen Druck­kosten­zuschuss leisten kann, bekommt man das Buch geschenkt, wenn man Glück hat. Glück­lich kann es machen, Gast­freund­schaft zu lesen. Heraus­gegeben von Christian Herwartz SJ haben es knapp zwei­hundert Menschen verfasst, die irgendwann in der Kreuzberger WG, von der das Buch erzählt, gewohnt oder vorbei geschaut haben. Nicht die übliche Zweck­gemeinschaft ist das, sondern eine jesuitische Kommunität, ein utopisches Wohn­projekt, in dem unge­wöhn­liche Regeln gelten beziehungs­weise keine. Dort angekommen, schreibt einer, öffnete mir ein völlig Fremder die Tür. Er ließ mich ein, gab mir Kaffee und Brot, ließ mich tele­fonieren, erlaubte mir meine Sachen dort zu deponieren. (...) Anderen wird nicht aufgemacht, sie öffnen die unver­schlossene Tür selbst, betreten eine Welt, die mit der großen gemeinsam hat, dass sie sich bevölkern lässt von jedem, der kommt, ohne Ein­tritts­geld oder -gründe zu verlangen. Das Buch muss man gelesen haben, wenn man mitreden will über Häuser und was in ihnen möglich ist. Einfach ist das Leben nicht, von dem man da liest, konfliktlos nie und auch in seinen Ver­abredungen selten unstrittig. Ein­einhalb Brauen hebt die Kirche, Behörden und Polizei beargwöhnen, behindern schon auch. Die Initia­toren sind Arbeiter­priester, Linke, denen kaum Linke trauen. Dabei ist ihrem Projekt Bewunderung zu zollen, ein langes und fröhliches Leben zu wünschen. Mut viel­leicht auch, noch etwas weniger von sich und den „Machern“ zu sprechen und zu schreiben, und mehr von denen, für die das Projekt da ist, dem vielfach Unglaublichen, das sich unter den vielen und durch sie ereignet. Jedenfalls wird weiter geschrieben an dem Buch, und zwar im Internet, einmal mehr dem Trostpreis für die Printverlierer, in dem Fall alle, denen das Glück nicht hold war, Gastfreundschaft geschenkt zu bekommen:
Textsammlung aus Anlaß des 25jährigen Bestehens

Ewart Reder    08.04.2009   

Ewart Reder
Prosa
Lyrik
Gespräche