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Die Toten sind die Jüngeren
Neue Bücher neben alten bei den open books 2015

 
  open books 2015
 

Neue Bücher neben alten – open books 2015
 


Und wieder lasen Jung und Alt. Open books, das Begleitfestival der Frankfurter Buchmesse, bespielte diesmal gleich ein Dutzend Bühnen. Im Römer, zur Lyriknacht „Teil der Bewegung“ sprachen über­raschender Weise die Toten, las Hans Thill aus den „Stelen“, seiner Kolumne mit Gedichten jüngst Ver­storbener (poetenladen.de). Kamala Das, die indische Sappho, über den Kuss des Ehemanns am Morgen nach einer Liebesnacht mit dem Gott Krishna: „Was macht's / der Leiche aus, wenn die Maden an ihr nagen?“ Eine zum Islam konver­tierte Dichterin schreibt sowas. Von Gisela Kraft las Thill das Poem „Nach Sappho“ und zitierte Matthias Biskupek über die tempe­ramentvolle Wahl-Ost­deutsche: „Sie war harmonie­bedürf­tig und manch­mal unver­söhnlich.“ Für den Tunesier Abdelwahab Meddeb ist das Gedicht ein „Fenster durch das ich sehe was das Auge nicht sieht.“ Lyriknächte als Sehtests: Was zeigt sich in den Gedicht-Fenstern der Jungen, der Lebenden?

 

© Kulturamt Frankfurt am Main

Bestes Buch: Katharina Hacker



Quicklebendig klangen die toten Dichter, die sich zu Lebzeiten mit Iris Radisch unter­halten hatten. Ihr Buch „Die letzten Dinge“ (Rowohlt) ent­hält veritable Letzt-Inter­views (Tabucchi, Tabori, Reich-Ranicki) neben späten Bilanz­gesprächen. Die ebenso temperamentvolle wie unprä­tentiöse Art der Journa­listin, zu lesen, machte erst Peter Rühmkorf, dann Marcel Reich-Ranicki lebendig für das voll besetzte Haus am Dom. „Der Tempel der klassi­schen Bildung ist geschleift“, schimpft Rühmkorf – wie viele seiner Buch­nachbarn, ergänzt Radisch. Neben dem Gefühl, einer aus­ster­benden Sache anzu­hängen, verbinde die Gesprächs­partner vor allem Reue über zu lange Auf­geschobenes. Radi­kaler seien sie geworden, im Loslassen. Ilse Aichinger auch im Urteil über den Lebens­sinn: „Man hätte mich fragen müssen, ob ich zur Welt kommen will. Ich hätte nein gesagt.“ Gelas­sener klingen Sarah Kirsch und George Steiner, der als Marsch­route zu einer heraus­ragenden Bildung wie seiner vorschreibt: „Man muss ganz klein werden.“ Ein Buch für jeden Nachttisch – dessen einziges Ärger­nis sein Titel ist: geklaut bei Annegret Helds rasend komi­schem Alters­heimroman (Eichborn 2005). Trotzig sei der hier noch mal empfohlen!
  Grabesstimmen erhoben die Autorinnen des „Jungen Doppels“ Nummer vier, Anna Baar und Sandra Weihs. Ihre Bücher heißen „Die Farbe des Granatapfels“ (Wallstein) und „Das grenzenlose Und“ (Frankfurter Verlags­anstalt). Die Themen sind gewichtig: eine Double-Bind-Oma­beziehung und eine Border­line-Selbst­gefähr­dung. Ob die Themen aller­dings mit diesen Büchern zu einer literarischen Form gefunden haben, ließ die Veran­staltung offen. Seitenlange Beschrei­bungen von Gefühlen, wie bei Baar, sind noch kein Inhalt. Breit ausgemalte Szenen vermeintlich schockierenden Inhalts, wie bei Weihs, verstecken mehr, als sie beschreiben.
  Die Neuen, die Diplomkreativen, lesen seltsam vor. Katharina Hartwell be­herrscht das typische Vor-Sprech des Leipziger Literatur­instituts, etwas zwischen Bahn­steig-Durchsage und Horror­roman-Höchstspannung. Jeder Satz klingt gleich, die Gegenstände wirken wie mit der Pin­zette des Forensikers von kalten Augen weg gehalten. Dabei ist ihr Roman „Der Dieb in der Nacht“ (Berlin-Verlag) so gut geschrieben, dass man ihn nicht weglegen kann. Ein eng gezogenes Familiendreieck – Mutter, Tochter, verschol­lener Sohn alias schräger Vogel, der behauptet, der Verschollene zu sein – umgibt den Eindring­ling Paul. Für ihn sind die drei anderen Ersatz­lebens­raum, Be­achtungs­tank­stelle. Die Psychologie ist nicht feinge­zeichnet, dafür wuchtig und verstörend. Die Figuren setzen sich mit nichts auseinander. Dafür entblößt der Roman sie auf unnachgiebige Weise. Über den Schluss kann man streiten. Die Autorin, die eine Reihe sportlich sicherer Volten hinlegt, hätte noch eine dranhängen können. Wollte sie nicht, sagt sie zu Christoph Schröder, na gut. Ein Lese­rauschmittel ohne Nach­wirkungen hat auch was, und wie.
  Der Einfall, dass eine Figur behauptet, jemand anders zu sein, wartet auf die Leserin auch in „Flüchtige Seelen“ (Luchterhand), dem neuen Roman der Sino-Kanadierin Madeleine Thien. Zu Beginn hält der Neurobiologe Hiroji einen Fremden für seinen Bruder, der seit Jahrzehnten vermisst wird. Merk­würdiger Weise muss der Fremde drei Mal bitten, bis Hiroji ihm einen Kaffee ausgibt. Das Modell Familie zeigt Risse, Ehepartner kommen einander aus dem Sinn. Subtil gezeichnet ist das - und von allergrößter Bedeutung, geht es doch in dem Buch um ein histo­risches Gegen­modell zur Familie: den Kollektivismus der Roten Khmer in den sieb­ziger Jahren. Damals verschwand Hirojis Bruder James als Rot-Kreuz-Arzt in Kambodscha. Nun verschwindet Hiroji, als er nämlich, durch die Begegnung ange­stoßen, die Suche nach James wieder aufnimmt. Die Erzählerin Janie, auch Neurobiologin, konnte als Kind dem Terror des Pol-Pot-Regimes nach unvor­stell­baren Leiden entkommen. Als sie die Verbindung ihres Chefs mit Kambodscha entdeckt, wird sie von Erin­nerungen geflutet, die sie nie mehr haben wollte. Das Trauma einer orga­nisierten Abschaf­fung des Indivi­duums verbindet sich mit dem Thema des Gehirns und seiner Arbeits­weise. Eine parallele Neu­er­scheinung muss an der Stelle empfohlen werden: „Monkey Business“ (axel dielmann – verlag), geschrieben von dem renom­mierten Hirn­forscher Jan Lauwereyns, die fiktive Selbst­erfah­rung eines japani­schen Labor­affen. Wer oder was sind wir, wenn der Hirnstrom abgeschaltet wird? Solche und ähnliche Fragen bewegt Thien vor dem Hinter­grund erschüt­ternder Berichte aus dem Sumpfland, das ein paranoider Staat von der verschleppten Bevöl­kerung seiner Städte zwangs­bebauen ließ. Thien hat ein packendes Buch verfasst, in einer kühnen, fragmen­tarischen Form. Mit Klugheit und Intuition gleicher­maßen spürt sie dem nach, was Menschen wie Hiroji gegen alle Wahr­schein­lich­keit sich selbst behaupten lässt. „Er wollte die Dinge schützen, die er liebte, verhindern, dass sie weg­gespült werden.“
  Ein Großer ist Ralph Dutli seit dem mehrfach preis­gekrönten Roman „Soutines letzte Fahrt“. Er wird es bleiben, und käme nichts nach. Was hat man nicht alles von Grass gelesen, geduldig, und (fast) nur wegen der Danziger Trilogie. Dutlis neuer Roman besingt „Die Liebenden von Mantua“ (Wallstein), ein Stein­zeitpaar, das in einer wissen­schaft­lich unge­sicherten Um­armung aus­gegraben wird. Manu, eine von zwei Hauptfiguren, fährt an den Fundort nach Mantua, recherchiert für einen Roman. Das Paar symbo­lisiert für ihn die Sehnsucht nach der verlorenen Geliebten Laure. Raffa, die andere Haupt­figur, trifft Lorena, durchlebt mit ihr eine Affäre, die seinem journa­listi­schen Inter­esse ent­spricht: Erdbeben. So gesehen eine spannende Idee: Jeder erlebt das, was ihn beschäftigt. Nur erlebt hier keiner irgendwas. Die Zusammen­hänge sind reine Behaup­tung. Manu etwa wird entführt mit der einzigen Folge, dass sein Entführer ihm mehrere Kapitel lang seine Theorie über Gott und die Liebe erläutern kann. Raffas Treffen mit Lorena bestehen aus deren Vorträgen über Archäologie. Zwei angeblich geistsprühende Hauptfiguren reichen während der Hälfte ihres Romans zwei dauer­dozie­renden Neben­figuren die Stichworte an. Der Rest ist Semiotik: Laure klingt wie Lorena, Lorenas Zwillings­schwester rettet Manu, Raffa ist der Doppel­gänger von Lorenas Ex u.v.a. Kein Zweifel, tiefe Gedanken über das Wesen der Leiden­schaft klingen an. Noch mehr fasziniert die Sprach­kraft, wenn sie mal von der Konzeptleine darf. Größ­tenteils muss sie aber Zitate zusammen leimen. Vergil, Pico della Miran­dola, Isaak Luria, Shakespeare, Balzac, Bergson, Marina Zwetajewa, Leonard Cohen sind nur die wichtigsten. Viel zu kurz kommt Ralph Dutli.
  Schon länger eine Große ist Katharina Hacker. Was sie jetzt vorlegt, konnte allerdings auch von ihr kaum erwartet werden. Ein geistiger Tornado ist der Roman „Skip“ (S. Fischer), deckt Erwartungsdächer ab wie Leselügen. Und war für den Deutschen Buchpreis nicht mal nominiert! Das muss einen Preis, den schon mittel­mäßige Bücher bekommen haben, noch mal entwerten.
  Wovon erzählt die Autorin? Ein Mann ohne auffallende Eigenschaften, der obendrein den Namen Skip (auslassen, versäumen) trägt, denkt über sein Leben nach, von dem er das Wichtigste mit niemandem besprechen kann: Er hört Stimmen. Mitten aus seinem Alltag reißen ihn Hilferufe gefähr­deter Menschen aus fernen Ländern, in die er reist, um am Ziel den Geistern nur seine schattenhafte Nähe spenden zu können, während sie sterben. Zunächst ist „Skip“ damit eine Meditation über den alltäglichen Wahnsinn des Fern­sehens: Todesbotschaften im Minuten­takt, Schmerz und Tod als Einziges, was die Menschheit inter­essant macht – ein unmenschliches Spiel. Fühlende wie Skip müssen dabei verlieren. Flugzeug­abstürze, Bomben­anschläge treffen ihn mitten ins Herz. Während er das eigene Leben verpasst, es wie ein Fremder durch angelehnte Türen hindurch beobachtet, kann er auch den Gepeinigten nicht helfen.
  Erzählt wird der vielsträngige Plot mit einer Kunst, die beim Lesen öfters den Atem ver­schlägt. Die erste Stimme mischt sich wie unhör­bar in den Erzählgang und ist verhallt, ehe man sie deutlich wahrnimmt. In Wellen baut sich die äußere und darin taumelnd die innere Handlung auf, getürmt mit aller Ruhe der versierten Gestalterin, wie ein Saxophon­solo von John Coltrane. Wenn die Erzäh­lung Fahrt aufnimmt, hat sie schon eine solche Komplexität, dass man Klaus Harpprechts Diktum über Budden­brooks bemühen möchte: „Hier wird das Gelingen zum Mirakel.“ Skip Landaus verspielte Chancen, seine Ehe zu retten, mischen sich mit Israels und Palästinas Unfähigkeit zu einem Frieden, den der israelische Architekt Skip und sein arabi­scher Polier Najib doch all­täglich leben und mutig ver­teidigen. Das ebenso kurz­weilige wie spannende Buch ist auch noch weise; ein Toter, der doppelt so viel erlebt hätte wie die Autorin, könnte es geschrieben haben. Am Ende fällt Skip seine Mutter ein, wie sie ihm indirekt seinen Namen erklärt: „Ver­säumnisse gehör­ten zum Leben wie Schuhe, man müsse hinein­schlüpfen, und man könne etwas dafür tun, dass sie passten.“ In diesem Buch passt alles. Es ist in diesem Herbst das beste weit und breit.
  Erwähnt sei noch der beste erlebte Moderator: Heiner Boehncke. Sein gescheiter und launiger Gesprächs­partner machte es ihm leicht, der Thriller­autor Veit Etzold (Todesdeal“, Droemer Knaur). Aber so gebildet und zugleich behände wie Boehncke talkt kein Zweiter, mit kenneri­scher Zurück­haltung, und ansatzlos streng, wenn eines in Gefahr gerät: das Unter­haltende. Warum lässt man den nicht das „Lite­rarische Quartett“ machen?
 

© Kulturamt Frankfurt am Main

Beste Conference: Veit Etzold und Heiner Boehncke


Ewart Reder   23.10.2015    Druckansicht  Zur Druckansicht - Schwarzweiß-Ansicht

 

 
Ewart Reder
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