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Ewart Reder
Einübungen der Sinnenlust und Musik
Dazu passten die Töne nicht. Er probierte sie aus, während seine Augen über die Gehwegplatten hin flogen, aus deren Fugen die Hitze kroch. Die Musik in seinem Kopf ging weiter und er konnte sich nicht entscheiden, ob er sie abstellen sollte, nur weil ihre Dunkelheit, ihre Vornehmheit auf den Steinen weg schmolz, sie aufgeben, noch bevor Innen und Außen ihre Kräfte gemessen hatten. Mit dieser Sonne, gab er zu, war die Welt unbesiegbar. Aber musste er darum ein Feld räumen, zu dem die Welt, ob vielleicht ewig unbesiegt, keinen Zutritt hatte? Die Schlachten in ihm schlugen andere, und weniger, dass er selbst dazu gehörte, als etwas noch unbekanntes Anderes daran machte ihn stolz. Nicht froh, aber ein wenig erregt.
Zudem hatte er Klavierstunde. Warum also sollte der Chopin, den er auf hatte, nicht in seinem Kopf weitergehen, nur weil dieser eine, in Frau Reifenbergs Lehrplan schließlich rein zufällig aufgetauchte Junitag drohend seine Locken dagegen schüttelte. In ihm spielte weiter das traurige Stück, schwamm weiter das schwarze Boot dazu einen Fluss hinunter, das er immer als erstes vor sich sah, wenn er die Melodie anschlug. Ob das passte zur Sonne, auch das Übrige passte kaum. „Aufgewachsen in einer Gartenvorstadt Berlins“ würde man einmal sagen, aber die Gärten fingen anderswo an. Hier wurde eingekauft, blühte die Werbung, klebte das Pflaster.
Von dem kleinen Platz musste man erst abbiegen, dann allerdings keine hundert Meter mehr gehen um die Gärten von allen Seiten um sich zu haben. Von da an war natürlich Sommer; alles Betreffende kam zusammen. Und mit zwölf, was er war, sah man zum ersten Mal auch so viel davon im einzelnen (stand plötzlich vor Hunderten über einen Zaun hinweg Halt gebietenden Damaszenerrosen, sah sich mit einem durch dichtes Blattwerk gesandten Blick schon in einen sonst von Blicken unberührten Lichtkreis auf fremdem Rasen versetzt), sah zum ersten Mal genug, um auch davon, vom bloßen Sommer erregt zu sein.
Vorbei am Haus des Klassenlehrers, hinter das soeben von zwei Frauen Gartenmöbel geschleppt wurden. Man würde feiern. Wie hatte der Lehrer am Morgen gesagt? Summa cum laude, das merkte sich irgendwie. Die höchste Auszeichnung, ja, das gebe es auch noch, das sollten sie wissen, die Tochter, die sei so. Sei beim Dekan auch schon persönlich eingeladen. Nicht alle Studenten seien solche verlausten Kreaturen (was war eine verlauste Kreatur?). Den Rest der Unterrichtsstunde war der außerordentlichen Leistung gedacht worden. Ähnlich wie bei der Beerdigungsfeier auf dem Rhein von Konrad Adenauer war es noch geworden, aber doch ohne Fernsehen nicht ganz genau so feierlich.
Etwas dunkler, etwas größer dann: das Haus der Klavierlehrerin. Unten Reifenberg, 1 X klingeln. Oben Zoch, 2 X klingeln. Das Giebelfenster der alten Frau stand offen, die übrigen Fenster geschlossen. Reifenberg, 1 X klingeln. Ein trockenes Surren. Schlucken, Gartentürklicken. Die trockene Kiesspur entlanggehen, endlos. Die dunkelblaue Holztür offen: ins Dunkel, endlich.
Anders als sonst war, dass sie gleich, als er seine Jacke auszog, mit einem Luftzug aus dem Wohnzimmer kam, Licht mitbrachte und gleich schon das Lächeln, auf das er jede Stunde sonst warten musste, das strahlte - und trotzdem ernst blieb, wie sie eigentlich immer war. „Guten Tag, junger Mann“, jedes Wort wie in der After-eight-Einzelverpackung. Und die Hand auf halbem Weg zurück genommen, wie ein Angebot, das zu teuer ist. Natürlich weil er seit einem halben Jahr so fest zudrückte. „Na, muss ich mich wieder fürchten?“ Aber was sonst denn? Wie denn die Hand anders nehmen, wenn es sonst nichts gab, nur die Hand, nur ein Mal, und später, wieder hier im Dunkeln, noch einmal, das andere Mal. Und wie sollte er ihr auch zeigen, wer er war, mit Reden, oder Klavierspielen, oder mit Geld vielleicht?
Durchzug hatte die Wohnzimmertür ganz geöffnet, sodass er auf einmal an der Garderobe zwischen den Mänteln und Jacken den Anzug hängen sah, der da sonst nie hing, den jetzt seine helle Jacke, die er daneben gehängt hatte, wie gewaltsam berührte. Dessen Schwarz, selbst im nun frei zudringenden Nachmittagslicht, nicht aufgefallen wäre, und der doch ins Auge stach, weil er vom Kragen abwärts über und über mit Farbe bedeckt war. Grundfarben waren es. Farbflecken, Farbzentren, einander verschiedentlich überlagernd, dicht, den Stoff beinah füllend, tief ins Faserwerk gedrungen und nur nach oben und zu den Rändern hin, kaum nach unten in den dicken Flussspuren abnehmend. Alle Farben, alle wichtigen Farben, ein himmlisches Blau vor allem, Gelb, und viel, viel Rot. „Ja“, bestätigte sie und ihre Stimme hob sich dabei von ganz unten bis fast nach ganz oben, wo es belustigt geklungen hätte, „da guckst du, was? So geht's zu heutzutage.“ Und er hasste sie dafür, dass ihre Stimme wieder ganz in sie zurücksank, wieder mit dem Polster, in das er immer sinken wollte, alles auffing, was ihrem Mann in seinem harten Beruf, in seiner verantwortungsvollen Stellung, in seinem selbstlosen Bemühen, in seinem aufrechten Standhalten, in seiner Notgemeinschaft Freiheit der Wissenschaften, in seinem Institut für Kybernetik, in seinem schönen neuen Anzug von gewissenlosen Strolchen (ein solches Wort beleidigte ihre Jugend!) angetan worden war.
Annette, die Vorgängerin, war noch nicht fertig, wandte ihm, als er sich drin aufs Wartesofa setzte, ihr schmales, kurzsichtiges Lächeln zu. Im nächsten Moment hatte sie schon wieder die Art Akkorde angeschlagen, die ihn bewundernd Hoffungslosen auf dem Flügel besiegten. Auf und ab ging ihr schwarzes, wild gelocktes Haar, unter dem wie fremd der magere Nacken manchmal hervor leuchtete. Er dachte an das Konzert, das sie gegeben hatte, das sie einmal im Jahr gab, bei dem er sie wieder, wie jedes Jahr ein Mal, für eineinhalb Stunden nicht von hinten, sondern von der Seite gesehen hatte. Vorbei war es, schon ein halbes Jahr. Damals hatte er sein Blut bis in den Hals gespürt. Ja sicher, auch sie wäre es wert, auch sie hätte er auf irgendeine Weise, auf die er nie kam, erobern mögen. Und trotzdem war es vorbei. Nicht nur das Jahr, auch er war einen Sommer weiter, sah sie an und wusste, dass sie das, wonach sie aussah, längst noch nicht hatte, nie haben würde vielleicht, jedenfalls nicht einmal begreifen würde, falls er sie danach fragte. Und er wollte nicht mehr.
Sobald er auf ihrem Platz saß, hatte er sie, von der das Leder ihn noch wärmte, auch schon vergessen. Die Kälte der Tasten mitten im Sommer: Zähnefletschen, der schwarze Kasten rückverwandelt in ein geschossenes und umgekipptes Stück Großwild. Jeder Dreck an den Fingern sichtbar, ihre Bläue und Nervosität sofort. Invention, Mikrokosmos, Kabalewski, pro Wort zwei Grad herunter gekühlt, fremd die eigenen, erbärmlichen Finger vorführen müssen – er spielte. Neben ihm saß die Frau. Wer so sitzen konnte, brauchte, nein, durfte nichts weiter tun. Albern anzunehmen, dass sie zuhörte. Sie atmete, das ja, das war ihre Antwort darauf, dass Töne im Raum waren. Sie hätte sonst aufgehört, doch die Töne brauchten ihren Atem um zu leben, und er spielte nur, um sie zu zwingen zu atmen und sonst nichtszutun als nur dazusitzen. Aufrecht, sich vorbildlich haltend, genau in der Randzone seines Blickfelds, über die sein Gehirn das Gleichgewicht des eigenen Körpers errechnete, und wenn er etwas fragte oder eins der Stücke zu Ende war, drehte er sich genau, bis am unteren Bildrand ihr Stuhl auftauchte und darauf ihr Hintern, ausladend und doch streng. Und suchten erst wieder seine Finger den Weg über die Tasten, stocherten sie sich Jahrhunderte rückwärts in die Hirne längst geschossener Tonkunstkolosse, dann sah er die Form vor sich, erinnerte sich bis an den Anfang ihres Rückens oder sah die Härchen im Gegenlicht die Wange umspielen, die geantwortet hatte, und die Handgelenke, die sich dabei gewunden, massiert hatten. Es gehörte ihm.
Trotzdem wäre wohl alles anders gekommen, wären nicht zwei Dinge passiert, die bisher nie passiert waren. Zuerst hatte sie den Chopin gelobt und ihn das Stück noch einmal spielen lassen. Nicht irgendeine Stelle, das Stück, das Prélude e-moll. Da war er in Gedanken den schwarzen Fluss schon mit ihr hinunter gefahren, in der Barke, die immer nur ihn getragen hatte, die ihm auch ein bisschen eng vorkam für diesen neuen und wilden Traum. Und als das vorbei war (er hatte wie immer angefangen sich zu verspielen, sobald das schwarze Wasser die weißen Tasten zu überschwemmen begonnen hatte und seine Augen darin ertrinken wollten), hatte sie ihn auch noch gebeten ihr etwas von dem vorzuspielen, womit er, wie sie wusste (von ihm wusste), zu Hause den überwiegenden Teil seiner Übungsstunden verbrachte: ziellosen Improvisationen in allen Lagen und Tonarten der Tastatur. Und er hatte schnell ein Thema ausgewählt und es zu variieren und harmonisch zu verstecken, zu vergraben und an unerwarteter Stelle wieder hervor treten zu lassen begonnen und wollte erst gar nicht mehr aufhören, so lange hatte er von dieser Gelegenheit geträumt. Dann aber brach er abrupt ab, stand auf und tat doch das Andere, das ihm ebenso wenig mehr aus dem Kopf kommen wollte, obwohl er alles versucht hatte sich von seiner Lächerlichkeit zu überzeugen. Er sagte:
„Kommen Sie bitte mit. Lassen sie uns zusammen fliehen.“
Natürlich war das auswendig gelernt und merkte man das, die Stimme kam tonlos wie bei einem Schuldgeständnis und er überlegte die ganze Zeit, ob noch irgendetwas Spezielles zu tun oder hinzuzufügen, eine besondere Bewegung auszuführen war. Andererseits war kein günstigerer Zeitpunkt denkbar. Dass sie ihm zugehört hatte, war unwiderruflich. Und der kleine Mann, der zwei Türen weiter in seinem Arbeitszimmer saß, hatte noch nie so wenig gezählt wie heute, wo sein Kleid voll mit bunten Farben an einem Haken im Flur hing und gewissermaßen die Künste im Verein über ihn, der keine von ihnen ausübte, triumphierten. Insofern nahm er jetzt ihre Reaktion gelassen auf, obwohl sie ihn einfach auslachte. Er sagte sich, dass mehr keinesfalls zu erreichen gewesen war.
„Was hast du da bloß wieder gelesen?“ rief sie, immer noch lachend.
„Nichts, ich meine es so.“ Obwohl er von Romeo und Julia, Maria und Mortimer oder sonstwem hätte anfangen können, wehrte er ab. Er wollte sich nicht über Bücher unterhalten.
„Köstlich“, rief sie, und es freute ihn wie einen wirklichen Dieb zu wissen, dass sie den Moment genoss. „Du bist ein Schatz. Da werden sich die Mädchen aber noch umgucken!“ Sie war aufgestanden und hatte am Couchtisch Platz genommen, sich in einen Sessel beinah fallen lassen. Die Stunde war beendet, die Arbeit für heute getan. Das Leben war herrlich, solange beim Abendessen solche Geschichten erzählt werden konnten. Was mehr? Noch die Hausaufgaben.
Als er draußen war erst, merkwürdig, begann es weh zu tun. Durch die Straßen ging er, an den ihm entgegen Kommenden vorbei, als würde erst hier, wo niemand etwas wusste, die Niederlage in ihrem ganzen Ausmaß besiegelt. Dabei war das Weiterleben das Schlimmste, weit schwerer als die Niederlage. Aber das wusste er noch nicht.
Sie hatte ihm einen Mozart aufgegeben, den er nicht hatte. Das gab ihm Gelegenheit noch in die Stadt die Noten kaufen zu fahren, nicht nach Hause zu gehen. Er wollte nicht, aber auch im Bus sah er noch den Flaum um ihre Lippen vor sich, hörte den kleinen Sprachfehler, mit dem jedes „s“ von ihr die Härchen auf seiner Haut aufstellte. Was die Leute an ihr lobten, das lange, hellblonde Haar, die großen Augen, interessierte ihn nicht. Jede Woche saß er ein paar Zentimeter von ihrer Haut, hörte, wie sich ihr Rock um die volle Rundung der Hüften spannte (was wussten die Frauenkenner).
Auch noch in der U-Bahn sah er sie, wenn auch schon schwächer. Wie eines der Gesichter in den schwarzen Spiegeln der Fenster in den langen Tunneln sah er noch ihr Gesicht, deutlich genug, um die mit ihm fahrenden anderen nicht zu sehen. Tatsächlich wachte er auf erst, als er am Ernst-Reuter-Platz die Treppe hinauf zur Hardenbergstraße bis auf zwei Stufen unter sich gebracht hatte und gegenüber dem Studentenwerksgebäude stand. Da sah er nämlich in eine Wand aus Rauch und in rauchende Wurfspuren, Feuerbrände und tatsächliche Explosionen, plötzlich durchfahren von blinkend blau eingefärbten Wasserwürfen, deren Länge nach - längs, quer und schräg über die Fahrbahn geworfen - sich alles in beißendes Licht tauchte, hörte das Bersten der Flaschen, das Schreien der Angreifer (die da irgendwo sein mussten), die zischenden Brandsätze, die er manchmal nicht sah, bevor er sie hörte und den Kopf herumwarf, Polizeisirenen, Megafondurchsagen, Auftreffen harter Gegenstände auf dumpfen Untergründen. Und kehrte um, kaufte den Tag keine Noten. Fuhr nach Hause und dachte nicht mehr an die Frau.
Am Abend hatte er das Gefühl in ein Zimmer geraten zu sein, von dem er nichts wissen durfte. Obwohl das Zimmer keinen Ausgang besaß, würde er von nun an jeden, der ihm begegnen würde, davon zu überzeugen haben, nichts von dem Vorhandensein eines solchen Zimmers auch nur zu ahnen.
Ewart Reder 09.04.2009
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