„Eine gestalterische Katastrophe“ nennt Meike Fessmann in der Süddeutschen Zeitung den Buchumschlag, lobt dem gegenüber das „feine Sprachgespür“ der Autorin. Umgekehrt ist es. Treffsicher markiert die Bunkerzelle auf dem Titel zusammen mit dem Romantitel „Der Glückliche“ das Paradox, das hier verhandelt wird, in einer Art U-Comix-Anmutung auf das Samizdat-Schrifttum psychiatrischer Gefangener anspielend. Die Sprache dagegen ist katastrophal. Sie muss es sein, damit Roswitha Quadflieg diese Familientragödie erzählen kann. Wie gewöhnlich ist die Familie selbst die Tragödie. Sieben nahe Verwandte, assistiert von drei weiteren Figuren, erinnern sich an Dr. med. Leopold Wagner sowie aneinander. Die Rollentexte kreisen um Leopolds angeblichen Unfalltod im Gebirge, drei Tage nach seiner Entlassung aus der Psychiatrie, einundzwanzig Jahre nach seiner Einweisung in dieselbe. Voraus ging damals eine U-Haft wegen Beleidigung Hitlers, sodass sich die Frage stellt: Ist Wagner ein Verfolgter des Naziregimes oder ein „normaler Psychotiker“? Jeder und jede erzählt da seine Geschichte, jede Geschichte schließt die anderen aus. Spannend ist das zu verfolgen wie in Kurosawas Kultfilm „Rashomon“. Und immer gruselt die Sprache, an der die Figuren sich kaum individuell unterscheiden lassen: ein glatter, unangreifbarer, selbstgerechter Alt- und Neusprech von Leuten, die so gut in die Nazizeit passen wie in eine von ihnen ungelebte Gegenwart. Auf halber Strecke des Buchs scheint es, als sei die Psychiatrie Leopolds Rettung geworden, als hätte eine Person von dieser vitalen Boshaftigkeit den Anpassungsgrad nie erreichen können, den die Nazis verlangten. Wer da allerdings schon an „Die Physiker“ denkt, den Helden mit einer Sendung ausstatten will, deren die Welt nicht wert ist, den holen Briefe und Aufzeichnungen des Patienten Wagner schnell auf den Teppich. Glück mag der Mann gehabt haben, edler ist er davon nicht geworden. Oder wie ein Experte des Themas, Hermann Kesten in „Glückliche Menschen“ schreibt: „Die Glücklichen sind gefährlich. Die Glücklichen werden übermütig und toll. Die Glücklichen schweifen aus! Die Glücklichen verzweifeln! Die Glücklichen morden!“ und so weiter, nachlesenswert. Das eigentlich Großartige an Roswitha Quadfliegs nach einem recherchierten Fall geschriebenen Romandrama ist die Rolle, die Hitler darin spielt. Er war in jeder Hinsicht überflüssig, weiß man nach der Tragödie. Die Akteure hätten sich ohne ihn genauso beflissentlich zugrunde gerichtet wie mit seiner dilettantischen Unterstützung, alle Verbrechen inbegriffen. Bis zum Rand steckt jede Einzelexistenz voll mit einem das Dorf, ersatzweise die Welt umspannenden Wahn ihrer Allein-Wichtigkeit. Jeder wünscht jedem den Tod. Ins Politische übersetzt denkt so ein braves Volk von Faschisten. Wozu dann noch Hitler? Und doch, es gibt Verwendung für ihn. Leopold besetzt ihn als den Gehilfen des Papstes, welcher beschlossen hat ihn, Leopold, fertig zu machen. Leopolds Frau sucht einen Ernährer. Nachdem die berufliche Existenz des Gatten durch einen NS- Und ein neuer Verdacht: Wurden die Geisteskranken auch deshalb früh zur Vernichtung bestimmt, weil ihre vielstimmige Oper so viel bunter und aufregender klang als Hitlers Zweiviertel-Unisono? Wie die ermordeten Juden ein, vielleicht tödlicher, Verlust für die Welt sind, fehlten in Nachkriegsdeutschland jedenfalls auch die verrückten Euthanasieopfer.
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Ewart Reder
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