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Sehnsuchtsorte und Nekrotope
Die open books 2014 veranstalten interessante Reisen

 
  open books 2014
 

Bücher und Auftritte mit Seele – open books 2014
 


Und wieder waren alle da bei open books, dem Begleitfestival zur Frankfurter Buchmesse. Im sechsten Jahr, ganz unver­flixt, eröffnete es mit Ken Follett, Lutz Seiler und anderen. Das fünftägige Hör-, Fühl- und Schau­fenster der Neu­erschei­nungen und seine Zentrale, der Kunst­verein, bilden sich ab in einem der präsen­tierten Bücher: „Meine wunder­volle Buch­handlung“ (Dumont). Petra Hartlieb erklärt ihre Liebe zum Buch und zu einem Leben, das mit Büchern so viel auf­regender ist als ohne.
 

© Kulturamt Frankfurt am Main, Foto: Alexander Paul Englert

Literatur auf allen Etagen: der Frankfurter Kunstverein an den Messetagen



Aus einer Urlaubslaune heraus kauften sie und ihr Mann eine bankrotte Buch­handlung in Wien. Bei eBay! Lie­ßen zwei aus­kömm­liche Exis­tenzen, die Stadt Hamburg und viele gut meinende Rat­geber hinter sich für ein ana­chronis­tisches Aben­teuer. Das heißt, ein großes Problem war es nicht, das Biotop Buch­laden wieder zu begrünen in der Stadt Wien, die dazu ebenso bei­trug wie die guten Kontakte des Paars in die Buchb­ranche. Trotz­dem hat man einen Gegner, der Bücher­menschen das Fürch­ten lehrt: den Internet­handel. Und reich wird man nicht als Buch­händler, wie eh und je. Außer an Begegnungen und bild­hübschen Anek­doten, mit denen das Buch nicht geizt. Es gibt ärger­liche Sätze darin („jedes ver­kaufte Buch ist ein gutes Buch“). Wer sich für keinen Autor heißer erwärmt als für T. C. Boyle und Sven Regener, hat vielleicht auch noch manches nach­zulesen. Dennoch ist das Buch ein Geschenk, oder Meta­geschenk: die Erin­nerung an einen immer nach­wachsenden Rohstoff des Glücks: Bücher.
  Von einem „monumentalen Künstler- und Liebes­roman“ spricht der Berlin Verlag und meint Norbert Niemanns „Die Einzigen“. Die Komponistin Marlene wird über dreißig Jahre begleitet und bestaunt von dem mittel­ständischen Unter­nehmer Harry. Klingt nach dem Szenario von „Doktor Faustus“, kompo­nierende Aus­nahme­persön­lich­keit aus bürger­licher Frosch­perspek­tive. Am Vorbild Thomas Mann hat sich der Autor aller­dings schmerz­haft verhoben. Die Kunsthöhe, um die es gehen soll, wird uner­müd­lich behauptet, aber nie erfahrbar. Kunst ist auf den besten fünf Seiten des Buchs ein Kampfbegriff, mit dem Marlene das post­moderne Lieblings­projekt ent­zau­bert: die Liaison der Kunst mit dem Trivialen. Es hat die Kunst geschluckt. Trivial total blieb übrig. Kunst ist irrelevant geworden, ersetzt durch den „Hype“, den vieles er­zeugen kann, auch „Kunst“ in Anführungs­zeichen.
  Leider ist das Buch, das den Nachweis führen will, selbst trivial, nur insofern ein Beweis. Stock­konven­tionell wird er­zählt, wagnis- und geheimnislos. Die Figuren sind Statis­ten, die, statt zu leben, den ihnen vor­geschrie­benen Text denken und sprechen. Vergeblich nach Ironie, Satire, Groteske schreit der Teil, in dem Harry sein Unter­nehmen als Kunstwerk miss­versteht und miss­braucht. Ein­fühlsam erzählt ist das. Geht es um Mar­lenes Musik, arbeitet zur Sprach­erhitzung dieselbe Mikro­welle, die in der post­modernen Küchen­zeile schon „Das Parfum“ und „Schlafes Bruder“ anrich­tete: Wort- und Be­griffs­soufflés, deren Schaum mit Schönheit zu verwechseln nur der trivialen Lektüre gelingt. Und die Liebes­geschichte fällt aus. Erst ganz am Ende verstehen Marlene und Harry sich, und zwar blind. Sie hören ihr Inneres – gegen­seitig. Wie weiland Elias Alder schlicht alles hörte („Schlafes Bruder“). Liebe und Kunst, den vorliegenden Roman und die Welt soll das retten. Unwahrscheinlich.
  Auch Judith Hermann beschreibt in ihrem Roman „Aller Liebe Anfang“ (S. Fischer) ein Paar, dessen Liebe ein Miss­verständnis ist. Auch hier geschieht wenig, bewegt man sich in einem Vorgarten-Nekrotop. Die Schutzmauern Geld, Familie, Beruf trennen Stella und Jason von einer Wirklichkeit, aus der sie sich gegenseitig gerettet haben. Zu Unrecht wundert sich Stella, was aus ihren Jugendträumen geworden ist; sie zielten auf genau das Leben, das sie jetzt führt. Wie Norbert Niemann bleibt auch Judith Hermann ganz bei den Tatsachen, schreibt einfach. Aber nichts ist hier Konvention. Alle Sinne werden wach, um die Erzählung zu begleiten. Denn die zähe Materie, durch die sie sich windet, zeigt Abdrücke der Figuren, verrät ihre Geheimnisse. Stella muss es selbst so machen: leben und gucken, ob sie ihre Spur lesen kann.
  Ein Symbol ist der Gartenzaun. Stella mag ihn, weil sie Grenzen wichtig findet. Und eine Grenze ist auch der Stalker, von dessen Nachstellungen das Buch handelt. Stella leidet unter ihm, wird in ihrer Ent­faltung behindert. Noch mehr aber wird sie definiert durch das, was der Fremde in ihr auslöst an Reak­tionen. Unauf­haltsam bewegt sie sich auf ihn zu. Einen Menschen nach dem anderen fragt sie um Rat, bis ihr endlich gesagt wird: Rede mit ihm. Damit kein Missverständnis aufkommt: Nichts wird hier simplifiziert, nichts naiv ›erklärt‹. Und nichts beschönigt. Die Eifersucht des Ehemanns kann eine Erinnerungs­brücke zu seiner früheren Liebe sein. Das nach­reifende Selbst­ver­ständ­nis der Ehefrau lässt sie die Umstände ihres Lebens umso härter er­fassen. Das alles ist so subtil, so stimmig und zugleich so gut auffindbar in dem Text abgelegt, dass man dem Leser mit weiteren Bemerkungen nur das Glück raubt, sie selbst zu machen. Und noch viele mehr. Das kleine Buch hat eine große Seele.
  Anderswo bricht man auf aus der vertrauten Leere, sucht den Sehnsuchtsort. Für die Schriftstellerin Lea in Natascha Wodins Roman „Alter, fremdes Land“ (Jung und Jung) ist das die Erotik oder, präzisier, deren Internet-Ausgabe. Erotic-Chats ermöglichen es der Dreiund­sechzig­jährigen, das Begehren beliebig vieler Männer auf sich zu ziehen. Verschweigt sie ihr Alter, kriegt sie jeden. Ihre profe­ssionelle Wort­gewandtheit knüpft ein magisches Netz im Netz. Erstaunlicher Weise ist aber auch die Alters­angabe kein Hinde­rungs­grund, für Offerten deutlich Jüngerer. Es kommt zu einer Phase rasch wech­selnder Sexual­kontakte in der realen Nebenwelt. Am Ende hat Lea nicht das gekriegt, was ihr am liebsten wäre: Liebe und die körperliche Nähe eines Gleichaltrigen. Trotzdem dankt sie dem Internet. Trotz­dem empfiehlt auch Natascha Wodin die Vor­gehens­weise Leas als Alter­native zum „Alters­zölibat“. Nicht jede Frau wird das überzeugen, gottlob. Die manchmal Atem beraubende Klugheit dieses Buchs ist allerdings eine starke Verführung. Vom Alter in allen Aspekten handelt es. Am Ende stehen Sätze, die zu den besten des Bücherherbsts gehören.
  Ähnliches gilt für Marcel Beyers Gedichtband „Graphit“ (Suhrkamp). Überhaupt ein Gedicht­band mit Sätzen ist nicht selbst­verständ­lich. Eher schon, dass nicht alles in Satzform da steht. Aber grund­sätzlich wird nicht geraunt, sondern formuliert, nicht geschildert, sondern die Beschilderung einer Gegend, eines Erinnerungs­raums gelesen. „Graphit“, der Titel macht An­spielungen. Bei der Retusche von Foto-Nega­tiven ist der Druck des Bleistifts so zu wählen, dass zwar Graphit abgerieben, jedoch die Beschichtung nicht verletzt wird. So erzeugt Beyer im Leser dessen Wahrnehmung: Erst ein be­arbeitetes Bild ist wahr, liegt zutage. Ein sechs­seitiges Gedicht, das von nur einem Foto gesprochen hat, resü­miert: „Dies meine vier Gesichter, / und ich verstecke nichts darin.“ Sehnsuchtsorte eines so im besten Sinn gebildeten Schrei­bens sind abgründig: das Loch unter dem Kölner Stadt­archiv, ein Kunstsee am Set von Sergei Eisenstein.
  Volker Surmann verbannt seinen Helden an eine Sehnsuchts­stätte in den USA, genauer im Wüsten­staat Nevada. Dahin muss der frus­trier­te Werbe­mann, weil er in einem Reisebüro sein Wunsch­ziel von einer Plastiktüte abliest, die ihn seit dem vor­her­gehenden Schuh­kauf beglei­tet: „Reno“. Ähnlich absurd geht es weiter, erzählt mit dem verläss­lichen Humor des Lese­büh­nen-Matadors, der seinen Roman „Extremely Cold Water“ (Voland & Quist) als eine Revue unter­halt­samer Reise­nummern in Szene setzt. Noch lus­tiger als Surmann lesen ist nur Surmann hören, etwa im Programm der Berliner Lese­bühne „Die Brauseboys“. Fast alle Autoren, auch Surmann, kommen da übrigens aus Westfalen.
 

© Kulturamt Frankfurt am Main, Foto: Alexander Paul Englert

Haben gut lachen: David Wagner und Jochen Schmidt



Noch dahinter, bei Bonn, ereignete sich die Kindheit von David Wagner. Er legt das Buch „Drüben und Drüben“ (Rowohlt) vor, zusammen mit Jochen Schmidt, der bei Ostberlin aufwuchs. „Zwei deutsche Kind­heiten“ verspricht der Untertitel und damit, aus der Feder solcher Erzähl­meister, mal jedenfalls Unterhaltung satt. Unter­schiede zwischen den zwei Herkunfts­ländern ergeben sich. Wagner spielt Ritter, träumt sich in Rhein­bur­gen und integriert dabei das WK-I-Bayonett, ein Kon­firma­tions­ge­schenk. Testweise fällt ihm das Kinder­bett zum Opfer. Mädchen tauchen auf und ver­schwinden wieder, irgend­wann auch mit dem Autor. Aufregend im Detail ist so eine bürgerliche Kindheit, und um­stellt von ein­schüchternd viel Konsum­kram.
  Der fehlt im Hochhausghetto Buch bei Berlin. Deswegen sind die Begeg­nungen inten­siver, die Bezie­hungen viel­fältiger, die sozialen Lern­protokolle nuan­cierter bei Jochen Schmidt. Da ist er in seinem Element, der Aus­nahme-Humorist, der er schon lange ist. Da kommt Leser­freude auf, vom Grinsen bis zum Weg­schmei­ßen. Über den domes­tizier­ten DDR-Alltag, den der Heran­wach­sende mitmacht wie Schwejk den Krieg, nämlich gar nicht, aber das mit Feuer­eifer. Kein „Rasen­latscher“ will er sein, kein gefähr­licher Jugendlicher mit bunten Haaren – die er dann umso ergebener feiert. In Kinds­köpfen wie dem von Jochen Schmidt hatte die DDR-Volks­bildung rettungs­los verloren, lange bevor die Mauer fiel. Die machte dann auch mit ihrem Fall keinen Ein­druck mehr. Er­frischend klar wird in dem Doppel­band: Weder Deutsch­land, das angeblich eine, noch seine beiden Teile waren oder sind beson­ders wichtig für die Jüngeren.
  Das ist ja die Provo­kation in „Kruso“, Lutz Seilers buch­preisge­kröntem Roman (Suhr­kamp). Was da bewegt, was die Sehnsucht weckt und ihre willigen Opfer hinter sich her zerrt, liegt so wenig in einem selbst­zufrie­denen Westen, wie es im Osten zu finden war. Uralte und ewig junge Frei­heits­hoff­nungen er­schaf­fen sich ihre eigene Welt, und sei es in Büchern oder einigen Wochen auf einer ab­brechen­den Steil­küste. Bis heute übersieht die westdeutsche Kritik allerdings (Wolf­gang Herles auf der Eröff­nungs­feier), dass die DDR ihren Menschen mehr Raum ließ, Träume zu vereinen. Die Kellner des „Klausner“ auf Hiddensee sind Brüder der verrückten Kneipiers auf Korsika in Jérôme Ferraris „Predigt auf den Untergang Roms“. Anders als sie sind Kruso und seine Kollegen aber Ange­stellte eines Betriebs, tragen die Bürde und die Würde von Menschen, die gebraucht werden. Der sozia­lis­tisch-gemein­same Mangel ermöglicht erst die herrliche Szene, für die das Publi­kum im Kunst­verein Lutz Seiler feiert: dass eine „Not­karte“ aus­gerufen wird und die Kellner das Volk herrisch in „Soljanka“ und „Schnitzel“ einteilen können. Der Moment ist da, in dem die Träumer regieren und alle von dem Zauber des Endes erfasst werden, das einem möglichen Anfang zwingend voraus geht.
Ewart Reder   15.10.2014    Druckansicht  Zur Druckansicht - Schwarzweiß-Ansicht

 

 
Ewart Reder
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