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Münchner Reden zur Poesien
Herausgegeben von Ursula Haeusgen, später von Maria Gazzetti und ab 2014 von Holger Pils, jeweils mit Frieder von Ammon
Publikationen im Lyrik Kabinett München
Redaktion im poetenladen: Walter Fabian Schmid und Daniel Bayerstorfer

Liste der Reden   ↓

 

Daniela Strigl
Sinn und Sinnlichkeit: Lesen, verstehen, schwelgen

Zu Daniela Strigls Münchner Poesierede | Daniel Bayerstorfer

Die Münchner Rede zur Poesie ist mittlerweile beim Buchstaben V angekommen. Also nach der hauseigenen Zählung einmal durchs Alphabet bei der 22, nicht der römischen Fünf. V wie Verstehen, das nach der Rednerin Daniela Strigl vermeintlich »zur Leserpflicht wird«. Daher V eher wie Versagensangst. »Hermeneutischer Versagensangst«. Angst davor, den Sinn nicht zu entschlüsseln, dabei steckt genau in dieser Silbe, nämlich dem »Sinn«, das Sesam für die folgende Rede, die ein beeindruckendes Beispiel von close reading, von virtuoser Gedichtauslegung ist. Gedichte sprechen von Sinn und Sinnen und sprechen diese so an. Deshalb der an Jane Austen angelehnte Titel Sinn und Sinnlichkeit.

Als »Liebhaberin von Lyrik und damit notwendig subjektiv« nimmt sich Strigl fünf Dichterinnen und Dichter vor. Angefangen mit der kürzlich verstorbenen Friederike Mayröcker, deren Gedichte sie auf »Sinnpartikel« untersucht und dabei »Deutungsfährten« folgt: ich habe gerade die sprache erfunden rasende sprache. Durch dieses »genauer betrachten« attestiert sie dem Gedicht und damit der Poesie Mayröckers generell eine Sinnhaftigkeit, die ihr oft abgesprochen wird. Akribisch legt sie Zeile für Zeile aus: Sinnhaft ist die Besprechung der Texte, sinnhaft und sinnlich, was sie darin findet. Und genau das wird zum Scharnier für alle Textinterpretationen, die folgen: »Man kann dem Diktat des Sinns vermutlich nicht entgehen, aber man kann auf die Ebene der Affekte und in die Sinneswahrnehmungen des Gedichts ausweichen und wiederum auf deren affektive Wirkung setzen.«

Strigls luzide Interpretationen funktionieren dabei wie Himmel und Hölle, wo man je nach Knickachse entweder in den Abgrund der Sinne oder dem der Sinnhaftigkeit blickt. So auch bei den folgenden Dichtern und Dichterinnen: Paul Celan, Giannis Ritsos, Theodor Kramer und Christine Lavant. Das Spektrum der Auserwählten reicht vom, wenn ich kurz bei meinem elektromagnetischen Bild bleiben darf, ultravioletten Celan, wo »Dunkelheiten wechselseitig erhellt werden«, über die Röntgenstrahlung von Ritsos (»buchstäblich geerdet«, »konkret« und »handgreiflich«), bis zum Infrarot von Kramers »überschwänglicher« Fleischigkeit. Wobei eigentlich alle besprochenen Texte zwischen dunkel, hermetisch, hell und fleischig changieren, zwischen Idealität und Körperlichkeit. Celans Knödel Trabanten und doppeldeutigen Geschlecht der Geliebten werden seine folgenden Worte gegenübergestellt: Gib deinem Spruch auch den Sinn: / gib ihm Schatten. Man erfährt von Lavants Hostie des Monds, mit der die Sünderin nicht abzuspeisen ist und Theodor Kramers Reim von Hände im Sack auf der bittre Geschmack.

Im Grunde verbinden die Dichter dieser »Sinnsuche«, die immer auch das »Übersinnliche« mitdenken, die Mythen, historisch oder persönlich: Die »marmorne Tiefenschicht der Antike« bei Ritsos oder die »Glücksingredienz«, die die Vögel in Mayröckers privater Mythologie bedeuten. Oder eben die »Religion des Eros« einer Lavant. Alles sinn-geladen. Der Zugang ist immer nur einen homophonen Schritt entfernt. Die außerordentlich erhellende, nicht verdunkelnde Rede von Daniela Strigl schließt mit Ritsos: Eine große unsichtbare Hand hob die Stühle / zwei Handbreit über die Erde. Wie können die Menschen / leben ohne die Dichtung.

 

09.09.2021

 

Daniela Strigl

Einleitung von Holger Pils: „Herzlich willkommen, liebe Mitglieder, liebe Freunde, ver­ehrte Damen und Herren, endlich wieder eine Münchner Rede zur Poesie ...“



Einführung von Frieder von Ammon: „Meine sehr geehrten Damen und Herren, fast zwei Jahre ist es mittlerweile her, seit ich Sie zuletzt zu einer Münchner Rede zur Poesie begrüßen konnte ...“



Rede von Daniela Strigl: „Guten Abend, meine Damen und Herren, vielen Dank, lieber Frieder, für diese überaus liebenswürdige Vorstellung ...“



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  Daniela Strigl
Sinn und Sinnlichkeit: Lesen, verstehen, schwelgen

Münchner Rede zur Poesie
31 S., Broschur
Lektorat Lisa Jeschke
Buchgestaltung und Typographie
von Friedrich Pfäfflin (Marbach)

Herausgegeben von Holger Pils und Frieder von Ammon

Lyrik Kabinett, Juli 2021
ISBN 978-3-938776-56-8, 12,00 Euro

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