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Münchner Reden zur Poesie
Herausgegeben von Ursula Haeusgen, später von Maria Gazzetti und ab 2014 von Holger Pils, jeweils mit Frieder von Ammon
Publikationen im Lyrik Kabinett München
Redaktion im poetenladen: Walter Fabian Schmid

Ulrike Draesner
Die fünfte Dimension


Walter Fabian Schmid zu Ulrike Draesners Poesierede

In ihrer Rede, gehalten am 04. März 2015, wirft Ulrike Draesner einen inter­diszi­plinä­ren Blick auf die Dichtung, indem sie sich hinein­wagt in das anthro­polo­gisch Ver­bogene der Sprache, aber auch ihre ent­wick­lungs­psycho­logi­schen, kogni­tions­wissen­schaft­lichen und so­zio­logi­schen Gene auf­spürt. Denn „allein, mit den Werk­zeugen der Philosophie, Herme­neutik oder Literatur­geschich­te dringen wir in diese Ver­flechtung nicht hin­reichend hinein.“

Von der Anthropologie her kommend, macht Draesner zunächst nichts anderes, als zu erklä­ren, wer wir sind, schließ­lich haben Selbstbewusstsein und Gedichte eine gemein­same Basis: „Das Ich scheidet sich in Ich und dieses Ich wissendes (sic!) Ich, in Beobach­tung und Beobach­tung der Beo­bachtung. (...) Hier setzt (auch) der Dichter an.“ Und das treibt die Rednerin zum Ent­ste­hungs­pro­zess der Poesie und zur Ver­bindung von Sprache, Welt und dem Mensch als Kom­muni­kator. Erst dieses Dreieck bildet ja die Grund­lage für das mensch­liche Zusammen­leben, für eine Ver­gesell­schaf­tung des Menschen, weil er sich mittels Sprache in Bezie­hung setzen kann zu seiner Umwelt, oder wie Draesner das nennt: „Sprache ist ein Be­ziehungs­organ. Mit ihr tauschen wir uns über unsere Absich­ten, Pläne, Wahr­neh­mungen und die aus ihnen gezo­genen Schlüs­se aus.“

Weil aber durch die Sprachproduktion, durch das Sprechen, ein körperlicher Faktor zur Sprache hinzu­kommt und diese sich durch ver­traute Frequenzen, Arti­kula­tions­weisen oder Lautfolgen und den damit ver­bundenen Erin­nerun­gen wiede­rum im Kör­per­bewusst­sein ablagert, steht für Draesner Poesie zwischen dem Körper und der Sprache. Und bei der Dichtung gelte es, Körper und Sprache wieder aus­ein­ander treten zu lassen, um sie re­flek­tieren zu können. Genau hier kommt die Kognition ins Spiel, wobei für Draesner der reine Gedanke mit seiner Nicht­körper­lich­keit keine Dichtung erzeugen kann, sondern Dich­tung kommt erst zustande, wenn der Gedanke durch die Sprache hindurch­geht. „Gedicht (...): Bewe­gung des Gedan­ken durch Sprache. Bewegung des Sprach­gedankens.“

Mit ihren feinen Wechselspielchen treibt Ulrike Draesner in ihrer epochalen Rede von dort aus aber schon wieder in die entgegengesetzte Denkrichtung, nämlich wie die Sprache erst Gedan­ken produ­ziert. Mit den Vor­reitern Humboldt und Herder nähert sich die Rednerin der Sapir-Whorf-Hypo­these und sucht danach, wie Sprache das Denken formt. Führt Sprache jetzt zu ver­schie­denen Denk­weisen oder ist es doch eher umge­kehrt? Wie die Rednerin weiter­hin mit Ent­wick­lungs­psycho­logi­schen Experimenten zeigt, trifft beides zu, und genau in dieser Wechselwirkung, könnte man sagen, bewegt sich das Gedicht.

Für Ulrike Draesner allerdings bewegt sich das Gedicht noch viel detaillierter. Wieder über die Verbindung von Köper und Sprache kommt sie zu Lauten und Klängen und findet dabei ganz bei­läufig wichti­ge Defini­tionen wie „Die Mächtigkeit von Sprache kann niemals allein ihre Semantik sein“. Genau diese Mächtig­keit gilt es im Gedicht voll auszu­schöp­fen, wes­wegen Draesner die Sprache als fünfte Dimen­sion definiert. Eigent­lich meint sie damit aber nicht die Sprache an sich, sondern eben jene Körper­lich­keit, Kognition, Psycho­logie und Anthro­po­logie, die in der Sprache selbst ent­halten sind und über sie hinaus­weisen, was sich im Gedicht durch deren Fusionen kon­zen­triert. Genau das ist das Faszi­nierende an dieser Rede, dass Draesner das Abwe­sende, das die Sprache mit­trägt, und sie gleichsam trans­zendiert, beleuch­ten kann.

Dorthin – mit der Poesie. Wo Wissen – Sozio­kognition, Gefühls­wissen, Empathie, Intui­tion – hinaus­ragen über (unmit­telb­aren) sprach­lichen Zugriff.
Was wir nicht wissen beziehungs­weise erfahren haben, können wir nicht immer, kom­muni­zieren. Mit Hilfe der Poesie er­reichen wir die heim­lichen / unheim­lichen Orte, in denen wir selbst nicht mit uns kon­gruent sind, unsere Körper­schich­ten nicht exakt auf­ein­ander­passen. Kog­nition und Sprache, Intuition (nicht­sprachlich) und Sagbar­keit klaffen aus­einander. Dabei ist beides wirklich, beides wahr. Wer das zu äußern sucht, stellt sich einem Para­dox. Die Aufgabe: eine unmög­liche Bewegung. Man muss für den Ausdruck eben das Mittel benutzen (Sprache), das an diesem Ausdruck seine Grenze findet.

Und genau deswegen sind Gedichte so schwer zu fassen, weil sie sich in diesem Unver­nünf­tigen, dem Wissen nicht immer zugäng­lichen Bereich der Sprache bewegen. Diese Unsicher­heit gilt es auszu­halten, aber dieses Speku­lativ­potential eröffnet der Poesie auch ihre Möglich­keiten.

Hören Sie rein.



 


Ulrike Draesner

„Guten Abend, meine Damen und Herren, ich bin ganz gerührt von der Rede – es geht mir selten so, dass ich mir wünsche, dass die Einführungen länger dauern ...“

mp3-Audiodatei (Download)

 


  Münchner Reden 14
Ulrike Draesner
Die fünfte Dimension
Münchner Reden zur Poesie
35 S., Broschur
Herausgegeben von Holger Pils und Frieder von Ammon
Lektorat Frieder von Ammon
Mit freundlicher Unterstützung der Eleonora-Schamberger-Stiftung

Lyrik Kabinett, März 2015
ISBN ISBN 978-3-938776, 12,00 EUR

Zur Reihe im Lyrik Kabinett  externer Link



Ulrike Draesner, geboren 1962 in München, ist Lyrikerin, Prosa­autorin und Essay­is­tin. Von ihr erschinen – neben dem Sonett­kranz anis-o-trop (1997) – unter anderem die Lyrik­bände: gedächtnisschleifen (1995), für die nacht geheuerte zellen (2001), kugelblitz (2005), berührte orte (2008) und subsong (2014). Außer­dem verfasst sie Romane, Erzählunge und Essays und wurde vielfach für ihre Arbeit ausge­zeich­net.


 

Poetenladen    23.05.2015