In ihrer Rede, gehalten am 04. März 2015, wirft Ulrike Draesner einen interdisziplinären Blick auf die Dichtung, indem sie sich hineinwagt in das anthropologisch Verbogene der Sprache, aber auch ihre entwicklungspsychologischen, kognitionswissenschaftlichen und soziologischen Gene aufspürt. Denn „allein, mit den Werkzeugen der Philosophie, Hermeneutik oder Literaturgeschichte dringen wir in diese Verflechtung nicht hinreichend hinein.“
Von der Anthropologie her kommend, macht Draesner zunächst nichts anderes, als zu erklären, wer wir sind, schließlich haben Selbstbewusstsein und Gedichte eine gemeinsame Basis: „Das Ich scheidet sich in Ich und dieses Ich wissendes (sic!) Ich, in Beobachtung und Beobachtung der Beobachtung. (...) Hier setzt (auch) der Dichter an.“ Und das treibt die Rednerin zum Entstehungsprozess der Poesie und zur Verbindung von Sprache, Welt und dem Mensch als Kommunikator. Erst dieses Dreieck bildet ja die Grundlage für das menschliche Zusammenleben, für eine Vergesellschaftung des Menschen, weil er sich mittels Sprache in Beziehung setzen kann zu seiner Umwelt, oder wie Draesner das nennt: „Sprache ist ein Beziehungsorgan. Mit ihr tauschen wir uns über unsere Absichten, Pläne, Wahrnehmungen und die aus ihnen gezogenen Schlüsse aus.“
Weil aber durch die Sprachproduktion, durch das Sprechen, ein körperlicher Faktor zur Sprache hinzukommt und diese sich durch vertraute Frequenzen, Artikulationsweisen oder Lautfolgen und den damit verbundenen Erinnerungen wiederum im Körperbewusstsein ablagert, steht für Draesner Poesie zwischen dem Körper und der Sprache. Und bei der Dichtung gelte es, Körper und Sprache wieder auseinander treten zu lassen, um sie reflektieren zu können. Genau hier kommt die Kognition ins Spiel, wobei für Draesner der reine Gedanke mit seiner Nichtkörperlichkeit keine Dichtung erzeugen kann, sondern Dichtung kommt erst zustande, wenn der Gedanke durch die Sprache hindurchgeht. „Gedicht (...): Bewegung des Gedanken durch Sprache. Bewegung des Sprachgedankens.“
Mit ihren feinen Wechselspielchen treibt Ulrike Draesner in ihrer epochalen Rede von dort aus aber schon wieder in die entgegengesetzte Denkrichtung, nämlich wie die Sprache erst Gedanken produziert. Mit den Vorreitern Humboldt und Herder nähert sich die Rednerin der Sapir-Whorf-Hypothese und sucht danach, wie Sprache das Denken formt. Führt Sprache jetzt zu verschiedenen Denkweisen oder ist es doch eher umgekehrt? Wie die Rednerin weiterhin mit Entwicklungspsychologischen Experimenten zeigt, trifft beides zu, und genau in dieser Wechselwirkung, könnte man sagen, bewegt sich das Gedicht.
Für Ulrike Draesner allerdings bewegt sich das Gedicht noch viel detaillierter. Wieder über die Verbindung von Köper und Sprache kommt sie zu Lauten und Klängen und findet dabei ganz beiläufig wichtige Definitionen wie „Die Mächtigkeit von Sprache kann niemals allein ihre Semantik sein“. Genau diese Mächtigkeit gilt es im Gedicht voll auszuschöpfen, weswegen Draesner die Sprache als fünfte Dimension definiert. Eigentlich meint sie damit aber nicht die Sprache an sich, sondern eben jene Körperlichkeit, Kognition, Psychologie und Anthropologie, die in der Sprache selbst enthalten sind und über sie hinausweisen, was sich im Gedicht durch deren Fusionen konzentriert. Genau das ist das Faszinierende an dieser Rede, dass Draesner das Abwesende, das die Sprache mitträgt, und sie gleichsam transzendiert, beleuchten kann.
Dorthin – mit der Poesie. Wo Wissen – Soziokognition, Gefühlswissen, Empathie, Intuition – hinausragen über (unmittelbaren) sprachlichen Zugriff.
Was wir nicht wissen beziehungsweise erfahren haben, können wir nicht immer, kommunizieren. Mit Hilfe der Poesie erreichen wir die heimlichen / unheimlichen Orte, in denen wir selbst nicht mit uns kongruent sind, unsere Körperschichten nicht exakt aufeinanderpassen. Kognition und Sprache, Intuition (nichtsprachlich) und Sagbarkeit klaffen auseinander. Dabei ist beides wirklich, beides wahr. Wer das zu äußern sucht, stellt sich einem Paradox. Die Aufgabe: eine unmögliche Bewegung. Man muss für den Ausdruck eben das Mittel benutzen (Sprache), das an diesem Ausdruck seine Grenze findet.
Und genau deswegen sind Gedichte so schwer zu fassen, weil sie sich in diesem Unvernünftigen, dem Wissen nicht immer zugänglichen Bereich der Sprache bewegen. Diese Unsicherheit gilt es auszuhalten, aber dieses Spekulativpotential eröffnet der Poesie auch ihre Möglichkeiten.
Hören Sie rein.