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Münchner Reden zur Poesie
Herausgegeben von Ursula Haeusgen, später von Maria Gazzetti und ab 2014 von Holger Pils, jeweils mit Frieder von Ammon
Publikationen im Lyrik Kabinett München
Redaktion im poetenladen: Walter Fabian Schmid, Daniel Bayerstorfer und Nikolai Vogel

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Yevgeniy Breyger
Am Anfang knäulte das Wort, am Ende platzt der Gottballon.

Zu Yevgeniy Breygers Münchner Poesierede | Nikolai Vogel

Die Stille im Raum atmete gespannte Konzentration, als Yevgeniy Breyger sich nach den Einführungen von Holger Pils und Frieder von Ammon setzte und mit ruhiger Stimme anhob. Das Draußen lag derweil unter Schnee und Eis, und so war es im Vorfeld nicht klar gewesen, wer diese Münchner Rede zur Poesie am 5. Dezember 2023 überhaupt erreichen würde – ihr Autor zumindest war gut angekommen. München blieb teilweise abgeschnitten vom nahen und fernen Umland, und weiter weg, immer noch – Krieg.

Yevgeniy Breygers Rede scheint sofort in ihr großes Thema zu stoßen, den Unterschied zwischen Wahrheit und Wahrhaftigkeit. Doch wirkt diese Unterscheidung in der so zielstrebig einsetzenden und so widerstandslos dahin laufenden Rede nicht wie aus der Zeit gefallen? Baut sich da nicht ein Unbehagen auf – oder blitzt etwas anderes hindurch? Was wird sichtbar? Wer spricht? Wer unterscheidet? Spricht der Redner hier überhaupt wahr oder wahrhaftig? –

Dann setzt Yevgeniy Breyger eine Zäsur. Stellt sich eine gewisse Verblüffung ein? Der Dichter setzt neu an, wahrhaftig diesmal? »Die innere Wahrheit des Gedichts ist ein fremdes Tier«, sagt er, und der selbstgewisse, objektiv wirkende Tonfall zu Beginn seiner Rede weicht nun einem eher märchenhaft klingenden. Ein Knäuel sei dieses Tier, und mit ihm und einem weiteren, das als »das unverschlüsselte, rohe Leben« charakterisiert wird, führt uns der Redner ohne Vorwarnung an den Kriegsschauplatz zu einem Panzer und zwei toten Menschen, die ein Marschflugkörper zerrissen hat. »Weil Mord keine Metapher ist, bitte ich um eine Minute Ruhe«, fordert Breyger – und unterbricht dieses Schweigen selbst, bevor diese um ist. Anschließend kommt er auf Wahrheit und Wahrhaftigkeit zurück. Es geht um die Metapher, die Manie, um Stil versus Form und immer wieder um das mythologische Motiv der Wunde, die nur der Speer, der sie schlug, heilen kann. Breyger befragt Gedichte von Dagmara Kraus, Matthea Harvey – in der Übersetzung von Uljana Wolf – und Christine Lavant und führt uns seine Lesarten vor, die zeigen, dass er auf Existenzielles zielt.

Die »innere Wahrheit des Gedichts, meine innerste Wahrheit ist der Kampf meiner besten, meiner zartesten Teile gegen meine schlimmsten, gröbsten«, formuliert Breyger. Aber wie sieht sie genauer aus, und wie gestaltet sich dieser Kampf? »Ich kann Ihnen heute keine zufriedenstellende Antwort geben, aber Sie wissen ja, der Zustimmung folgt kein Denken, Zustimmung ist das Ende der Kunst, Zustimmung ist Tod, Widerstand ist Leben.«

Es geht ums Ganze, um ein Leben, das zur Sprache kommt. Breyger stellt existenzielle Fragen, und wohl nur die Poesie kann ihm darauf Antworten suchen. Die bedrohlichen Entwicklungen der Gegenwart sind zu spüren in dieser Rede, und auch das Leiden, das sie verursachen. Und dass sich die Poesie nicht einfach heraushalten kann – dass Poesie in der Welt ist, und dass die Welt in die Poesie greift. Aber Widerstand gegen was? So in dieser Allgemeinheit, so offen gelassen, kriegt dies etwas Dräuendes, etwas, das Frieden in weite Ferne rückt oder ins Ableben und auch ein Paradoxon aufmacht: Denn ist dieser Münchner Rede zur Poesie dann zuzustimmen? Oder verlangt sie nicht vielmehr explizit nach Widerspruch? Ob und inwiefern die Poesie wehrhaft sein muss, das wird sicher noch weiter zu diskutieren sein, nach dieser engagierten Rede von Yevgeniy Breyger mit einer Stimme, die sich auf ihren Atem besinnt und damit darauf, lebendig zu sein. Und so sollten wir alle tief und bewusst Luft holen und nun erst einmal zuhören.

 

13.12.2023

 

Yevgeniy Breyger

Einleitung von Holger Pils: „Herzlich willkommen, sehr geehrte Damen und Herren, liebe Mitglieder, liebe Gäste, ich begrüße Sie im Lyrik Kabinett ...“



Einführung von Frieder von Ammon: „Sehr geehrten Damen und Herren, liebe Freunde und Freundinnen, diesmal fällt es mir schwer, die richtigen Worte zu finden ...“



Rede von Yevgeniy Breyger: „Meine Damen und Herren, verehrte Gäste, es ist eine große Ehre für mich, heute vor Ihnen zu stehen ...“



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  Yevgeniy Breyger
Am Anfang knäulte das Wort, am Ende platzt der Gottballon.

Münchner Rede zur Poesie
28 S., Broschur
Lektorat Lisa Jeschke

Herausgegeben von Holger Pils und Frieder von Ammon

Lyrik Kabinett, Dezember 2023
ISBN 978-3-938776-63-6, 14,00 EUR

Zur Reihe im Lyrik Kabinett  ►