Münchner Reden zur Poesie
Herausgegeben von Ursula Haeusgen, später von Maria Gazzetti und ab 2014 von Holger Pils, jeweils mit Frieder von AmmonPublikationen im Lyrik Kabinett München
Redaktion im poetenladen: Walter Fabian Schmid, Daniel Bayerstorfer und Nikolai Vogel
Im Innern eines Vokals
Aus dem Russischen von Olga Radetzkaja
Zu Maria Stepanovas Münchner Rede zur Poesie | Nikolai Vogel
Marina Stepanovas Stimme war zunächst aber doch zu erleben, sie trug den Anfang ihrer Rede im russischsprachigen Original vor. Nach einigen Minuten begann dann Olga Radetzkaja noch mal: »Es gibt ein Gedicht von Gennadij Aigi, dessen Titel länger ist als der Text selbst« – das Gedicht, dass die Zuhörerinnen und Zuhörer vorher noch auf der Leinwand gesehen hatten, »Ruhe eines Vokals« ist es betitelt. Mit einem kleinen »a«, einem zitierten »a«, einem übersetzten »a« fängt diese Ansprache also an, in der es wegereich um Subjektivität und Intersubjektivität, Idiom und Übersetzung, Stimme und Sprache, Original und Kopie, Zeit und Überzeitlichkeit, Anwesenheit und Abwesenheit geht.
Eine Rede, die viele interessante Fragen aufmacht, etwa die, ob und wie ein Gedicht dasselbe bleiben kann, auch wenn es mit völlig anderen Worten von jemand anderem noch mal geschrieben wird; ob das Gedicht aus seinen Worten, seiner Form besteht oder aus etwas davor; was eine Stimme ist; und ob eine Übersetzung dem Gedicht auch neue Freiheiten geben kann. »Kein Gedicht wird von einer Autorin allein verfasst, kein Text wird im Alleingang gelesen«, schreibt Stepanova. Neben Aigi, kommen auch Grigorij Daševskij, Kim Hyesoon und Anne Carson in Zitaten zu Wort.
Insbesondere die Leere ist ein Leitmotiv, die Leere, um die dieser Text kreist – eine Leerstelle, in der, ohne dass sie explizit thematisiert oder genannt wird, die Schrecken unserer Zeit aufscheinen. Maria Stepanova schrieb ihre Rede in russischer Sprache, außerhalb Russlands, erfuhren wir in der Einführung. Welche Tempel werden errichtet und wie lange ist ihre Dauer?
Immer wieder führt Stepanova in ihrer Rede ins Museum, zu Exponaten, die von der Leere zeugen, von Abwesenheit, vom Tod, der das Leben imitiert und doch kein Innen hat. Zu Dingen, die ohne die Menschen, die sie berühren, seltsam fremd werden. So wie Gedichte. »Sie alle, auch die Gedichte, brauchen den Menschen: Er allein kann den leeren Raum betreten, den ein Wollpullover oder ein poetischer Text bestimmt/begrenzt, und ihn zu einem bewohnten Raum machen.« Maria Stepanova nimmt uns mit in solche Räume, und ihr Text ist voller flirrender Sätze, die nachklingen, wie: »Die Zeit endete gleich hinterm Fahrkartenschalter«.
Die Rede ist eingeteilt in 23 kurze Kapitel. Am Ende sitzt ihre Verfasserin in Ostia Antica am Rande einer runden Wiese, auf der vor langer Zeit ein runder Tempel gestanden haben wird, der nun nicht mehr da ist und doch andauert. Und wir sitzen mit ihr an der Grenze dieser Rundung und lauschen, wie am Rand eines Vokals, der nun also die Form des Buchstabens O angenommen hat. Aber was ist in seinem Inneren? Es könnte Atem sein.
An den eindrücklichen Vortrag dieser Münchner Rede zur Poesie schloss sich ein kurzes Gespräch zwischen Maria Stepanova, Olga Radetzkaja und Frieder von Ammon an, in dem auch die Erfahrung thematisiert wurde, wie das ist, zu schreiben, wenn der Boden unter den Füßen nicht mehr da ist.
14.10.2024
Einleitung von Holger Pils: „Herzlich willkommen, sehr geehrte Damen und Herren, liebe Gäste, liebe Mitglieder, ich begrüße Sie im Lyrik Kabinett ...“
Einführung von Frieder von Ammon: „Sehr geehrten Damen und Herren, liebe Freunde, liebe Freundinnen, liebe Olga Radetzkaja, dear Maria Stepanova. In dem gerade erschienenen neuen Roman ...“
Rede von Maria Stepanova (Anfang der Rede auf Russisch)
Rede von Maria Stepanova (Rede auf Deutsch von Olga Radetzkaja)
Gespräch von Frieder von Ammon, Maria Stepanova und Olga Radetzkaja
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Maria Stepanova Im Innern eines Vokals Aus dem Russischen von Olga Radetzkaja Münchner Reden zur Poesie ca. 30 S., Broschur Lektorat: Lisa Jeschke Buchgestaltung und Typographie von Friedrich Pfäfflin (Marbach) Herausgegeben von Holger Pils und Frieder von Ammon Lyrik Kabinett, Oktober 2024 ISBN 978-3-938776-650, 14,00 EUR Zur Reihe im Lyrik Kabinett ► |