Münchner Reden zur Poesie
Herausgegeben von Ursula Haeusgen, später von Maria Gazzetti und ab 2014 von Holger Pils, jeweils mit Frieder von Ammon Publikationen im Lyrik Kabinett München
Redaktion im poetenladen: Walter Fabian Schmid
Ulf Stolterfoht Wurlitzer Jukebox Lyric FL –
über Musik, Euphorie und schwierige Gedichte
Walter Fabian Schmid zu Ulf Stolterfohts Poesierede Auf der Suche nach dem Kick
In seiner Rede vom 11. November 2015 tritt Ulf Stolterfoht konsequent „als Experte der Euphorie“ auf und erzählt aus der eigenen Erfahrung heraus vom Unverständlichen. Auf seine leichte und amüsante Art gibt Stolterfoht seine eigene Initiation preis, die er bei Oskar Pastior erfahren hat. Ähnlich einer Transzendenzerfahrung in der Musik tat sich für den Dichter ein ganz neuer Horizont auf: Das Nicht-Verstehen von schwierigen Gedichten. Und damit meint Stolterfoht in seiner Rede keineswegs hermetische Gedichte.
Denn Unverständlichkeit ist etwas ganz anderes als Schwerverständlichkeit: Das schwer verständliche, hermetische Gedicht fordert mich als Leser zu hermeneutischen Bestleistungen auf, es ist klüger als ich und hält etwas von mir verborgen, aber ich, wenn ich nur intelligent genug, belesen genug und dazu noch beharrlich bin, kann mir Einlass verschaffen in die geheimen Kammern der Schwerverständlichkeit. Wenn das schwer verständliche Gedicht das aristokratische, elitäre und hierarchische Gedicht ist, denn genau so hatte ich diese Gedichte im Deutschunterricht erlebt – der nebenbei ein sehr guter war –, dann waren diese Gedichte demokratisch und unhierarchisch. Dass ich sie tatsächlich auch für nicht elitär halte, genau darum geht es ja in dieser Rede.
So spricht Stolterfoht dem Unverständlichen eine grosse Befreiung zu – eine Befreiung vom Zwang des Verstehens und somit auch eine Befreiung des Denkens. Erst so stellt sich für den Dichter Euphorie ein, die nur schwer vom Gefühl der Freiheit zu trennen ist. Oder wie er selbst ex negativo formuliert: „Plan-und Pflichterfüllung sind schlechte Euphorieproduzenten“. Damit meint Stolterfoht aber keineswegs ausschließlich anarchische Schreibweisen, die ganz offensichtlich auf das Unverständliche setzen oder mit einer leeren, „heruntergekommenen Sprache“ kommunizieren, wie Ernst Jandl das bezeichnen würde. Ulf Stolterfoht interessiert sich vielmehr für das komplex Arrangierte, die hochgradig konzipierten Strukturen und Formen, welche das Verständnis erkenntniskritisch übersteigen. Deswegen ist auch Oulipo und ihre auf den ersten Blick strenge, regelgeleitete Schreibweise für ihn eine Befreiung.
Mit einem Kriterium wie „Qualität“ kann Stolterfoht in seinem enthierarchisierten Zugang natürlich nicht viel anfangen, und man könnte noch weiterfragen, ob sich solche Schreibweisen nicht per se dieser Kategorie entziehen. Stolterfoht geht lieber in wenig beachtete Nischen hinein und widmet sich unter dieser Prämisse auch Dieter Roth, Dominik Steiger, Gunter Falk oder Ernst Herbeck – einer jener Künstler, die in der psychiatrischen Anstalt Maria Gugging von Leo Navratil zur sogenannten „zustandsgebundenen Kunst“ angehalten wurden. Auch bei dessen Gedicht „Die Wüste“ stellt sich für den Redner eine Euphorieerfahrung ein: „Und als ich es zum ersten Mal gelesen hatte, und völlig fassungslos war, und mir wünschte, ich könnte auch solche Gedichte schreiben, über diese anscheinend grenzenlose Freiheit verfügen, die sich doch der größtmöglichen Unfreiheit verdankte, da wurde aus der euphorischen Fassungslosigkeit grosse Ratlosigkeit.“
Mit seinem ganz und gar egalitären Zugang liefert Ulf Stolterfoht eine optimale Einführung in die Poetik des Unverständlichen, die unmissverständlich jeder kapiert und auch noch Spass macht. Seine Kernaussage ist, dass das schwierige Gedicht schlichtweg Freude bereitet – verursacht durch die Freiheit des Denkens, das Glück des Möglichen oder die Überraschung des Ungewissen. Und auf gelungene riskante Texte dürfen wir uns aufgrund des weiterhin steigenden Professionalisierungsgrads sowie der breiten und internationalisierten Zugangsmöglichkeiten zur Lyrik noch mehr freuen.
Hören Sie rein!
Ulf Stolterfoht
„Vielen Dank, Frieder von Ammon, vielleicht hätten diese 10 Thesen auch schon gereicht, oder? (lacht) ... Sehr geehrte Damen udn Herren, ich freue mich wirklich sehr darüber, heute Abend für Sie die 15. Rede zur Münchner Poesie halten zu können.“
Münchner Reden 14
Ulf Stolterfoht
Wurlitzer Jukebox Lyric FL – über Musik, Euphorie und schwierige Gedichte
Münchner Reden zur Poesie
32 S., Broschur
Herausgegeben von Holger Pils und Frieder von Ammon
Lyrik Kabinett, November 2015
ISBN I 978-3-938776-40-7, 12,00 EUR
Ulf Stolterfoht, geboren 1963 in Stuttgart, lebt in Berlin. Studium der Germanistik und Allgemeinen Sprachwissenschaft in Tübingen und Bochum. Gedichtbände u.a. im Verlag Urs Engeler und bei kookbooks, so zuletzt: neu-jerusalem. Preise unter anderen: Peter-Huchel-Preis 2008, Anna-Seghers-Preis, Christine Lavant Lyrik-Preis. Gründete 2015 den Verlag Brüterich Press.