Münchner Reden zur Poesie
Herausgegeben von Ursula Haeusgen, später von Maria Gazzetti und ab 2014 von Holger Pils, jeweils mit Frieder von Ammon Publikationen im Lyrik Kabinett München
Redaktion im poetenladen: Walter Fabian Schmid
Ilma Rakusa Listen, Litaneien, Loops – Zwischen poetischer Anrufung und Inventur
Walter Fabian Schmid zu Ilma Rakusas Poesierede
In ihrer Rede vom 9. März 2016 widmet sich Ilma Rakusa der beschwörenden Macht der Litanei und den heterogenen Möglichkeiten von Listen. Mit einer persönlichen Annäherung erzählt sie von der Faszination, die von diesen Formen ausgehen.
Dabei geht sie analog mit Raoul Schrott zuerst einmal zurück zur Entstehung des Gedichtes, zu den sumerischen Litaneien mit ihren appellativen Beschwörungen, und legt die Gründe für deren suggestive Kraft dar: Parallelismen, variierende Wiederholungen, die Musikalität und die progressive Entfaltung der Texte. Interessant ist, was Rakusa für der Entwicklung der Gattung feststellt, was sie bei Mayröcker und Chlebnikov als Verfremdung der Anrufung von Namen und Epitheta bezeichnet. Denn Rakusa sieht darin eine direkte Entwicklung hin zur Selbstrefentialität. Dass in beidem dasselbe Prinzip und dieselbe Wirkung der rezeptiven und schwebenden Aufmerksamkeit steck, klingt logisch. Nur dass das Gedicht eben in sein sekuläres Inneres gegangen ist.
Was die Litanei durch ihre rhetorischen Mittel erreicht, liegt den Listen schon in ihrer Struktur zugrunde, nämlich die Memorabilität. Sind Listen doch eigentlich Inventare, Kataloge und Erinnerungsspeicher. Rakusa interessiert sich vor allem für die Heterogenität ihrer Inhalte und deren Ziellosigkeit oder konkret: „Muster und Musterstörung, Serialität und Improvisation, Strengheit und Phantasie sowie (...) Gegenläufigkeit von Semantik und Sound.“ Eine Liste beinhaltet für sie „Mechanismen der Reibung und Verfremdung, indem sie die regelmäßige Wiederholung syntaktischer Strukturen, bestimmter Wortarten, Wortgruppen oder Einzelwörter durchbricht oder heteroklitisch ergänzt.“
Das zeigt sie anhand des immer wieder virulenten Alfabet von Inger Christensen und der Enzyklopädie der Toten von Danilo Kiš. Ansonsten präsentiert sie Günther Eich, Heimrad Bäcker und Nora Gomringer, aber auch die Sound Patterns von Robert Lax. Gerade Oskar Pastior oder Monika Rinck und Ann Cotten würden die Aktualität von Listengedichten zeigen. Denn insgesamt bleibt Ilma Rakusas Rede in ihrem eigenen Bann und ihrer Beschränkung auf Auslegung etwas stecken. Interessant wären etwa die Bedingtheiten der beiden Gattungen, wenn sie schon gemeinsam behandelt werden, oder die Litanei als politischen Akt der Massenperformanz zu betrachten oder die Liste im Wandel vom nackten Informationsträger zum räsonnierenden Erkenntnisbefähiger zu untersuchen. Perspektiven gibt es viele, die aufgrund der basalen Rede von Ilma Rakusa eingenommen werden können. Eine kleine und brauchbare Grundlagenschrift für den Einstieg.
Ilma Rakusa
„Ich begrüße Sie meine Damen und Herren, auch im Namen von Ursula Haeusgen, sehr herzlich zu dieser 16. Münchner Rede zur Poesie: Listen, Litaneien, Loops – Ilma Rakusa wird zu uns sprechen ... “
Münchner Reden
Ilma Rakusa
Listen, Litaneien, Loops –
Zwischen poetischer Anrufung und Inventur
Münchner Reden zur Poesie
37 S., Broschur
Herausgegeben von Holger Pils u. Frieder von Ammon
Ilma Rakusa, geb. 1946 in Rimavská Sobota (Slowakei), lebt als Lyrikerin, Prosaautorin, Übersetzerin und Literaturkritikerin in Zürich. Zuletzt veröffentlichte sie den Erzählungsband Einsamkeit mit rollendem ‚r' (2014), das Berlin-Journal Aufgerissene Blicke (2013) und die Erinnerungspassagen Mehr Meer (2009). 2016 wird ihr Gedichtband Impressum: Langsames Licht erscheinen. 2009 erhielt sie den Schweizer Buchpreis, 2015 den Manès-Sperber-Preis. Ilma Rakusa ist Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung.