Münchner Reden zur Poesie
Herausgegeben von Ursula Haeusgen, später von Maria Gazzetti und ab 2014 von Holger Pils, jeweils mit Frieder von Ammon Publikationen im Lyrik Kabinett München
Redaktion im poetenladen: Walter Fabian Schmid
Joachim Sartorius Der Mensch fürchtet die Zeit. Die Zeit fürchtet das Gedicht
Walter Fabian Schmid zur Poesierede von Joachim Sartorius
„Sie wissen, was sie tun, aber sie sagen es nicht“, beginnt Joachim Sartorius seine Münchner Rede zur Poesie, gehalten am 24. Oktober 2017, und widmet sich dem inhärenten Aufbegehren der Gedichte gegen die Zeit, um aufzuzeigen, dass Poesie für die Zeit unangreifbar ist, weil sie mit ihrem „anarchischen Überschuss“ eine neue Zeit erschaffe. Was Gedichte also nicht aussprechen, beantwortet Sartorius mit: „Die Aufhebung von Zeit, die Verstetigung von Dauer ist das Unausgesprochene des Gedichts. Genauer: das unausgesprochene Verlangen des Gedichts.“
Zunächst wendet sich Sartorius dem Movens des Schreibens, dem Schreibtrieb zu. Für den Dichter seien seine Produkte ein Antidot des Physischen und setzten der Sterblichkeit einen Kontrapunkt. Sie negieren den Tod, weil sie durch die Zeit hindurchgehen. Sartorius bindet das Gedicht also an den Dichter, macht es zu einem Mittel, mit dem der Dichter gegen das Vergessen anschreibt. Aber das macht das Gedicht nicht einzigartig. Mit Konsequenz könnte man sagen: Genau das ist der Grund zur Entwicklung und Nutzung der Schriftlichkeit per se. Folglich bezeichnet Sartorius Gedichte auch als räumliche „Erinnerungspaläste“. Sobald aber Erinnerung eintritt, hat die Zeit schon am Gedicht genagt, weil Erinnerung chronisch verzerrt.
Um wirklich zu zeigen, dass das Gedicht heraustritt aus den kollektiven Zeitgesetzen und seine eigene Zeit schafft, müsste es unabhängig vom Dichter oder dem Leser betrachtet werden. Selbst dann wäre dies aber erst einmal nur ein fiktionales Merkmal. Eigentlich – und das ist das Elementare an dieser Rede – zielt sie nicht darauf ab, dass Gedichte zeitlos oder unzeitig sind, sondern dass sich Poesie durch Relativität und Antirelativismus auszeichnet. „Wir sprechen vom Gedicht vor dem Horizont der Zeit. Es gibt unzählige philosophische Bücher über die Zeit, aber fast nie denken sie Kategorien von Raum und Zeit zusammen und haben daher grosse Schwierigkeiten, Gültiges zum Gedicht zu äussern.“ Deswegen wäre es höchstinteressant, auch einmal Einstein bei solchen Fragen zu Rate zu ziehen. Die stattdessen zu Rate gezogenen Beispiele von Pound, Shakespeare, Dickinson, Benn oder Zwetajewa beschränken dann auf die Inhalte von Gedichten, die zeitlich überdauern.
So stellt Sartorius eine existenzielle These für das Gedicht auf. Diese hätte auch ein Argumentarium verdient, das über die Konservierungsfunktion von Gedichten hinausgeht.
Zur eigenen Meinungsbildung lässt sich die gesamte Rede unten nachhören.
Joachim Sartorius
Einführung von Frieder von Ammon und Rede von Joachim Sartorius: „Meine Damen und Herren,
Mîn herze und mîn lîp diu wellent scheiden,
diu mit ein ander wâren nû manige zît.
der lîp wil gerne vehten an die heiden,
sô hât iedoch daz herze erwellet ein wîp
vor al der werlt, daz muot mich iemer sît
daz siu ein ander niht volgent beide.
mir habent diu ougen vil getân ze leide.
got eine müeze scheiden noch den strît.
Das war die erste Strophe eines berühmten Liedes Friedrichs von Hausen, eines Minnesängers aus dem 12. Jahrhundert.
Joachim Sartorius, geboren 1946 in Fürth/Bayern, studierte Rechtswissenschaften und Politische Wissenschaften in München, London und Paris. 1973 trat er in den Auswärtigen Dienst ein, wurde 1986 Leiter des Künstlerprogramms des DAAD, 1994 Abteilungsleiter für Kulturelle Angelegenheiten in der Berliner Senatsverwaltung und 1996 Generalsekretär des Goethe-Instituts. 2001-2011 leitete er die Berliner Festspiele. Darüber hinaus trat er selbst mit Gedichten hervor – zuletzt erschien der Lyrikband Für nichts und wieder alles (2016) –, gab u. a. die maßstabsetzende Anthologie Atlas der neuen Poesie (1995) und Niemals eine Atempause. Handbuch der politischen Poesie im 20. Jahrhundert (2014) heraus, übersetzte John Ashbery, Wallace Stevens, E.E. Cummings und Jacques Roubaud ins Deutsche und verantwortete als Herausgeber umfängliche Ausgaben von Malcolm Lowry und William Carlos Williams.