Münchner Reden zur Poesie
Herausgegeben von Ursula Haeusgen, später von Maria Gazzetti und ab 2014 von Holger Pils, jeweils mit Frieder von AmmonPublikationen im Lyrik Kabinett München
Redaktion im poetenladen: Walter Fabian Schmid, Daniel Bayerstorfer und Nikolai Vogel
Martin Mosebach: Ein Haus für Gedichte
Walter Fabian Schmid zu Martin Mosebachs Rede
Kann es überhaupt ein Haus für Gedichte geben, fragt Martin Mosebach in seiner Rede vom 3. März 2005 zur Eröffnung der neuen Räume des Lyrik Kabinetts in der Amalienstraße, oder müsste es nicht für jeden Dichter ein originäres Haus geben? Und „wird ein Haus für Gedichte nicht leicht ein Mausoleum für Gedichte?“ Um das zu verhindern, muss die Institution schon die aktuelle Lyrikproduktion tintenfeucht und die aktuell gebliebene im spuckfrischen Vortrag präsentieren, anstatt ein Bewahrer zu sein. Wie allerdings geht eine Begegnungsstätte für Poesie um mit deren Tendenz zum „Entzug der Vergesellschaftung“ (T.W. Adorno: Rede über Lyrik und Gesellschaft)? Will sich das Gedicht nicht erfolgreich einer Institution entziehen, weil in der Institution die „Kenner“ zu Mördern werden, sie das Gedicht kalt sezieren, es seminaristisch zerreißen und in verschiedene Diskursfelder einstückeln, ohne nach seinen eigenen Affekten zu fragen, ohne es in seiner originären Ästhetik und seiner Gelungenheit zu belassen und es in sich und von sich aus wirken zu lassen?
Auch das Lyrik Kabinett ist davon nicht gefeit, keine Institution kann das verhindern, und Lyrik im öffentlichen Raum bleibt letztlich das, was der Rezipient, was die Publikumsdynamik in seiner jeweiligen soziologischen Zusammensetzung draus macht. Im Grunde bräuchte jede Dichtung einen eigenen ihr angepassten Raum und eine originäre ihr entgegenkommende Moderationsform, um sie in ihrer Art zu präsentieren. Gerade die Lenkung durch die Rahmenbedingungen beeinflussen einen artgerechten Umgang mit der jeweiligen Dichtung enorm und mit diesen Rahmenbedingungen beschäftigt sich Mosebach in der „Nullnummer“ der Münchner Reden zur Poesie.
Anhand des Odeions in Aphrodisias, einem türkischen Gefängnis und Georges Berliner Achilleion vermisst Mosebach exemplarische Darbietungsorte; er verlebendigt die jeweiligen Darbietungsformen, ihre Lenkung der Rezeption und die spezifische Produktion in diesen Räumen. Der erste von Mosebach untersuchte Raum, die Amphitheaterminiatur der hellenistischen Antike, in der das Publikum den Dichter wie eine „Muschel“ umgibt und er als „tönende Skulptur“ auftritt, klingt bei Mosebach zwar etwas statisch, sie mag aber letztlich eine suggestive Sourroundwirkung erzeugt haben. Für das Gedichtgebilde selbst erkennt Mosebach signifikante Parallelen zu diesem Zeitalter, denn auch unsere Dichtung kann „alexandrinisch genannt werden [...]. Auch unsere Lyrik ist ein Produkt der großen Städte; auch unsere Lyrik ist ein Gegenstand gelehrter Betrachtung, auch unsere Lyrik kennt Formversessenheit und die Liebe zum Zitat. Auch unsere Lyrik, jedenfalls soweit sie von Bedeutung ist, ist eine gebildete Lyrik“; auch wenn unsere Lyrik das obligatorische Schönheitsideal fester Formprinzipien aufgegeben hat. Dennoch schleppt die vergangenheitsbewusste und geschichtsträchtige Dichtung von heute die Tradition mit. Ob als Antipode oder als Basis, nie jedoch unreflektiert. Denn dies wäre, so Mosebach, das Todesurteil für jegliche Dichtung, nämlich: Klischee.
Genau solches findet der Redner jedoch in seinem zweiten untersuchten Raum, dem Gefängnis als Dichtungsstätte. Gedichte türkischer Gefangener übernehmen nach der Kenntnis Mosebachs vorgegebene Formeln und Figuren. Die Kunst, die so unbezweifelt von den Inhaftierten herbeigerufen wird, sollte als Ausweg, Zuflucht und als eine neue Heimat dienen, „wo alles andere verloren war“. Und wo – bis auf den Unterschied zu stilistischen Peinlichkeiten – ist der moderne Dichter kein Gefangener in diesem Sinn? Etwas unbefangener, wenngleich genauso steril, wirkt Georges Achilleion: ein karger Raum in „Bauhaus-Ästhetik“. – Nichts anderes als das Konzept des Weißen Würfels, in dem das Gedicht die Atmosphäre erst erschafft, und in dem die exklusiven Rezipienten unbeeinflusst „arbeiten“ und ihr eigenes Werk aus der gegebenen Vorlage unabgelenkt erschaffen können.
Aus der Gegenüberstellung des Odeions und des Achilleions kristallisiert sich eine Aufgabe jeder Institution wie die des Lyrik Kabinetts: ein Changieren zwischen der Öffnung zu einem großen, heterogenen Publikum und dem Zufriedenstellen des „Verschwörerkreis[es] der Kenner“, wie Mosebach das in Bezug auf Georges Achilleion bezeichnet. Um diesen Spagat anspruchsvoll hinzulegen, darf die Institution aber nicht nur kulturvermittelnd sein, sondern muss auch zur Kulturproduktion anregen und sich undoktrinär-demokratisch an abgelegene, risikobelastete und weniger publikumswirksame Bereiche einer Kunst heranwagen. Und dafür: Großen Respekt ans Lyrik Kabinett.
Auch das Lyrik Kabinett ist davon nicht gefeit, keine Institution kann das verhindern, und Lyrik im öffentlichen Raum bleibt letztlich das, was der Rezipient, was die Publikumsdynamik in seiner jeweiligen soziologischen Zusammensetzung draus macht. Im Grunde bräuchte jede Dichtung einen eigenen ihr angepassten Raum und eine originäre ihr entgegenkommende Moderationsform, um sie in ihrer Art zu präsentieren. Gerade die Lenkung durch die Rahmenbedingungen beeinflussen einen artgerechten Umgang mit der jeweiligen Dichtung enorm und mit diesen Rahmenbedingungen beschäftigt sich Mosebach in der „Nullnummer“ der Münchner Reden zur Poesie.
Anhand des Odeions in Aphrodisias, einem türkischen Gefängnis und Georges Berliner Achilleion vermisst Mosebach exemplarische Darbietungsorte; er verlebendigt die jeweiligen Darbietungsformen, ihre Lenkung der Rezeption und die spezifische Produktion in diesen Räumen. Der erste von Mosebach untersuchte Raum, die Amphitheaterminiatur der hellenistischen Antike, in der das Publikum den Dichter wie eine „Muschel“ umgibt und er als „tönende Skulptur“ auftritt, klingt bei Mosebach zwar etwas statisch, sie mag aber letztlich eine suggestive Sourroundwirkung erzeugt haben. Für das Gedichtgebilde selbst erkennt Mosebach signifikante Parallelen zu diesem Zeitalter, denn auch unsere Dichtung kann „alexandrinisch genannt werden [...]. Auch unsere Lyrik ist ein Produkt der großen Städte; auch unsere Lyrik ist ein Gegenstand gelehrter Betrachtung, auch unsere Lyrik kennt Formversessenheit und die Liebe zum Zitat. Auch unsere Lyrik, jedenfalls soweit sie von Bedeutung ist, ist eine gebildete Lyrik“; auch wenn unsere Lyrik das obligatorische Schönheitsideal fester Formprinzipien aufgegeben hat. Dennoch schleppt die vergangenheitsbewusste und geschichtsträchtige Dichtung von heute die Tradition mit. Ob als Antipode oder als Basis, nie jedoch unreflektiert. Denn dies wäre, so Mosebach, das Todesurteil für jegliche Dichtung, nämlich: Klischee.
Genau solches findet der Redner jedoch in seinem zweiten untersuchten Raum, dem Gefängnis als Dichtungsstätte. Gedichte türkischer Gefangener übernehmen nach der Kenntnis Mosebachs vorgegebene Formeln und Figuren. Die Kunst, die so unbezweifelt von den Inhaftierten herbeigerufen wird, sollte als Ausweg, Zuflucht und als eine neue Heimat dienen, „wo alles andere verloren war“. Und wo – bis auf den Unterschied zu stilistischen Peinlichkeiten – ist der moderne Dichter kein Gefangener in diesem Sinn? Etwas unbefangener, wenngleich genauso steril, wirkt Georges Achilleion: ein karger Raum in „Bauhaus-Ästhetik“. – Nichts anderes als das Konzept des Weißen Würfels, in dem das Gedicht die Atmosphäre erst erschafft, und in dem die exklusiven Rezipienten unbeeinflusst „arbeiten“ und ihr eigenes Werk aus der gegebenen Vorlage unabgelenkt erschaffen können.
Aus der Gegenüberstellung des Odeions und des Achilleions kristallisiert sich eine Aufgabe jeder Institution wie die des Lyrik Kabinetts: ein Changieren zwischen der Öffnung zu einem großen, heterogenen Publikum und dem Zufriedenstellen des „Verschwörerkreis[es] der Kenner“, wie Mosebach das in Bezug auf Georges Achilleion bezeichnet. Um diesen Spagat anspruchsvoll hinzulegen, darf die Institution aber nicht nur kulturvermittelnd sein, sondern muss auch zur Kulturproduktion anregen und sich undoktrinär-demokratisch an abgelegene, risikobelastete und weniger publikumswirksame Bereiche einer Kunst heranwagen. Und dafür: Großen Respekt ans Lyrik Kabinett.
29.08.2010
Martin Mosebach Sinn und Sinnlichkeit: Lesen, verstehen, schwelgen Münchner Rede zur Poesie 31 S., Broschur Ein Haus für Gedichte Rede zur Eröffnung des neuen Lyrik Kabinetts 24 S., 7,00 EUR Zur Reihe im Lyrik Kabinett ► |