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Sylvia Geist
Strahlung Sprache

Über Reisen in die Dichtung und zurück

  Essay    2. Folge


Erhellung durch die Reise von Partikeln, Durch­dringung von Materie durch Teilchen, deren Wesen ihr Unter­wegs­sein aus­macht, Materia­lität, die vielleicht haupt­sächlich aus Unter­wegs(ge­wesen)sein besteht und sich, aus diesem Blick­winkel betrachtet, als eine Form von Erin­nerungs­vermögen mani­festiert: Diese Charakteristika von Strahlung verbinden sich mir zu einem Bild von der dichte­rischen Sprache, das eine Annähe­rung an ihre Her­künfte und Wirkmächte erlaubt, ohne dabei einen ihrer Pole zu leugnen.
 In loser Folge sollen an dieser Stelle Notizen von Reisen in die Dichtung er­schei­nen. Keine Reise ist ohne Fährnisse, ja ein Unterwegssein ohne Fährnisse wäre überhaupt keine Reise, Fahrt und Gefahr haben mehr gemein­sam als den Klang dieser beiden Vokabeln. In der Dich­tung haben die Wörter eine immense Reise hinter sich, das macht sie zu Worten, macht sie strah­lend – und ein Re­flek­tieren, wie Kierke­gaard es formu­lierte, so möglich wie erforderlich: Wie bin ich in dieses und jenes hinein gelangt, und wie gelange ich wieder hinaus, wie endet es?


2. Plaza de Major

In der Archäologie wie in der Lite­ratur nähert man sich Aus­gra­bungs­orten mit je­weils zeit­genös­sischem Impetus, als Traum- und Sehn­suchts­stätten, als Denk­mälern und Trümmerfeldern. Fand Goethe in Italien noch „im höchsten Sinne die Gegen­wart des klas­sischen Bodens, (...) die sinnlich geistige Über­zeugung, daß hier das Große war, ist und sein wird“, machte solche Andacht im 19. Jahr­hundert einer zu­nehmend abge­klärten Haltung Platz. So schilderte Emile Zola seine Ergrif­fenheit angesichts des Forums Romanum schon mit dem ambi­valenten Aber eines Betrachters, der sich der Diversität des Vorge­fundenen wie auch seiner möglichen Inter­pretationen bewusst ist: „Jetzt aber ist die Ehr­furcht wieder­erwacht, aller­dings die Ehr­furcht von Grab­schändern; die Wis­sen­schaft ist von fieber­hafter Neugier erfaßt und erregt sich über Hypo­thesen, man durch­forscht den histo­rischen Boden, in dem die Kulturen in Schichten über­einander­liegen, und schwankt zwischen den fünfzehn bis zwanzig Rekon­struk­tionen, die man vom Forum ent­worfen hat und von denen die eine so annehmbar ist wie die andere.“
  Knapp achtzig Jahre später sah Rolf Dieter Brinkmann den „Schutthaufen des Kolos­seums, lehmig-gelb angeleuchtet und mit den schwarzen Rundbögen, die an Stollen­eingänge denken ließen.“ Dem Er­kennt­nis­streben wohnt hier das Spie­gel­moment einer ins Histo­rische extra­polier­ten Selbst­befragung inne wie einer Frucht der bit­tere Kern, und folge­richtig verbinden sich bei Brink­mann als einem Kind des Jahr­hunderts der Weltkriege die antiken Ruinen mit den Spuren ganz anderer, jüngerer Ver­wüstungen: „Über schwarze große Ba­salt­brocken ging ich dann an dem Trüm­merfeld hoch, vielleicht habe ich inner­lich gegrinst – auf­gerissene Roll­bahnen eines Flugplatzes in Vechta – Bomben­trichter voll Wasser – einge­fallene Hallen – Zement­mat­ten, die aus den Eisen­gerüsten hängen – grünes Sprühen einer Brand­bombe – lautlos ab­bren­nendes Stangen­pulver nach­mittags – Metall­wracks von Flug­zeugen – gebors­tene Plexi­glas­scheibe der Flug­kanzel – kleine schwarze Figuren, die unter geblähten Pilz­kappen herunter­schweben – Unkraut wuchert das Gelände zu.“
  In Rom. Blicke liegen über den Resten der Alter­tümer wie eine weitere Schicht die assoziierten Schatten einer Geschichte, die noch nicht vergangen ist, sondern im Gegenteil vergegen­wärtigt wird, so greifbar sind die Kriegsschrecken in den Wörtern. Das Forum Romanum wird darin zu einem Sprachort, an dem die Taten und Erfah­rungen der Väter­generation einge­graben sind wie düstere Götzen, die über ihre Zeit hinaus weisen.

Beim Ausgraben geht es nicht so sehr darum, ein Licht auf die Vergangenheit zu werfen, als um den Wunsch, die Kontinuität menschlicher Träume und Ängste sichtbar, spürbar zu machen. Methoden und Deutungs­ansätze ändern und ent­wickeln sich, und wenn sie nicht dazu taugen, eine zuverlässige Brücke zum Gestern zu schlagen, geben sie doch Aufschluss über den Stand der Dinge heute.
  Manche Funde scheinen eine umso stärkere Wirkung zu entfalten, je weiter ihre ursprüng­liche Bedeutung dem Bezug­system des Betrachters entrückt ist. Die legendäre Aus­grabung eines solchen universal wirkenden Bildnisses, das weit über die Epoche seiner Ent­deckung hinaus und unab­hängig von der Wandelbarkeit der Interpretationen oder den indi­viduellen Prägungen seiner Betrachter ähnliche Eindrücke zu erwecken vermochte, schildert Octavio Paz in seinem Essay zur Kunst Mexikos. Während Schacht­arbeiten auf der Plaza de Mayor in Mexiko-Stadt stießen Bau­arbeiter am 13. August 1790 auf eine Statue von kolos­salen Aus­maßen. Wie sich heraus­stellte, handelte es sich um eine Skulptur der Göttin Coatlicue, der Gottheit „mit dem Schlangen­rock“. Der Vize­könig ordnete an, die Statue als „ein Denkmal des amerikanischen Altertums“ in die Königliche und Erzbi­schöf­liche Universität von Mexiko zu bringen, wo sie zwischen den Exponaten einer Samm­lung von Gips­abgüssen griechisch-römischer Werke aufgestellt wurde, die Carlos III. der Univer­sität geschenkt hatte. Doch schon nach wenigen Monaten beschlossen die Profes­soren mit der Begründung, der Anblick der Figur sei „unerträglich“, Coatlicue an dem­selben Ort, an dem man sie gefunden hatte, wieder zu vergraben.
  Zuvor hatte der Gelehrte Antonio de Léon y Gama der Statue sowie einem anderen Stein, der neben ihr entdeckt worden war, dem Azteken-Kalender, eine Beschreibung gewidmet, die schließ­lich 1804 in Rom veröffentlicht wurde. Dort las sie Alexander von Humboldt, und als er noch im selben Jahr nach Mexiko kam, äußerte er den Wunsch, die Statue sehen zu dürfen. Man gab seiner Bitte statt und grub die Statue erneut aus. Der interes­san­teste Teil dieser Geschichte ist auch ihr vor­läu­figer Schluss: Nachdem der weit­gereiste Gelehrte Coatlicue in Augen­schein genommen hatte, vergrub man sie ein weiteres Mal – eine Kolos­sal­statue von immerhin andert­halb Tonnen Gewicht!
  Über den personellen und technischen Aufwand dieser Maßnahme berichtet Paz nichts, doch er muss erheblich gewesen sein und wurde in Kauf genommen, obwohl man im Jahr 1804 keinem Aberglauben mehr angehangen haben dürfte, der eine derartige Anstren­gung hätte ange­messen erscheinen lassen können. Die Statue war kein kulti­scher Gegenstand mit Beziehung zu irgendeiner Macht mehr, sondern längst Kunst­werk. In Anbetracht der Historizität ihrer Bedeutung ist die Empfindung, einem unerträglichen Anblick ausge­setzt zu sein, also weder auf ihre Bedeutung für eine vergessene Religion noch allein auf ihre Hässlichkeit zu­rück­zu­führen, der ästhe­tisch begrün­dete Widerwille, den „die mit dem Schlangen­rock“ bei vielen Betrach­tern auslöste, war eher Nachhall als Ursache eines Ent­setzens, das an Joseph Conrads Auf­schrei „Der Schrecken! Der Schrecken!“ denken lässt. In der Uner­träglichkeit ihres Anblicks selbst trat etwas zutage, das jenseits des der Ratio zugäng­lichen Horizonts mensch­lichen Erlebens als real wahr­genommen wurde. Noch einmal Paz: „Das, was wir Kunstwerk nennen (...), ist viel­leicht nichts anderes als eine Konfiguration von Zeichen. Jeder Betrachter kombi­niert diese Zeichen auf eine andere Weise, und jede Kombi­nation strahlt eine andere Bedeu­tung aus. Gleichwohl mündet die Pluralität von Bedeu­tungen in einen einzigen Sinn, in immer den gleichen, der vom Empfun­denen untrenn­bar ist.“
  Was sich hinter diesem, vom individuellen Bezugssystem des Betrachters unab­hängigen Ent­setzen ver­bergen könnte, deutete Ted Hughes in seinem dem Künstler Leonard Baskin zuge­dachten Aufsatz Der Gehenkte und die Libelle an. Darin wird Coatlicue als „ein riesiges zusammengesetztes Wort in aztekischer Hiero­glyphen­schrift“ bezeichnet, als ein „dämo­nischer Klumpen mana (...), eine versteinerte Masse grotesker Musik“.
  Auch Hughes grenzte den „einen einzigen Sinn“, von dem Paz sprach, durch keinen bestimmten Terminus ein, nahm darin aber „das Eine“ in der Kunst an, das fähig sei, „uns zu packen und aus dem Gefängnis unserer Selbstsucht heraus­zureißen.“
 Darin liegt die zweischneidige Kraft des Kunstwerks. Die Zeichenkonfiguration des Schreckens, die „die mit dem Schlan­gen­rock“ darstellt, vermag zwar schon dessen Bannung im Rahmen eigener Aus­legungen einzuleiten. Der tiefere, der eigentliche Schrecken geht mit dem Ausbruch aus dem Selbst(suchts)ge­fängnis einher: „Die Nerven haben in einen Spiegel geblickt, und die Erfahrung schwirrt einem am Schädel vorbei, hinter­läßt ein paar Schweißtropfen über der Braue und vermutlich meßbare elektro­stati­sche Verän­derungen, selbst in dem Augen­blick, wenn der Beobachter sagt: Gefällt mir nicht.“
  Seit ich sie zum ersten Mal las, ist die Geschichte von Coatlicue – die ihren Platz im Museum von Mexico City inzwi­schen längst wieder­erobert hat – für mich zur Meta­pher dessen geworden, was in der verbo­tenen Zone diverser Aus­gra­bungs­orte vermutlich ebenso oft statt­findet wie das Ent­decken und Frei­legen. Sie steht für das Wieder­ein­graben eines Gegen­stands in der Schrift, für das Bedecken von etwas, das nur im Gewand der Dichtung zu tragen ist, für das Zurück­bringen des Schreckens in die Zeichen, die ihn bannen sollen und in etwas verwandeln, das wir ansehen können.
Sylvia Geist    09.07.2012   

 

 

 
Sylvia Geist
Lyrik
  1. Hundskurve
  2. Im Orbit des Saturn
  3. Porta morgana
  4. Ich in Aberland
  5. Plaza de Major
  6. Hölle und Halde