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Sylvia Geist
Strahlung Sprache
Über Reisen in die Dichtung und zurück
Essay 6. Folge |
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Erhellung durch die Reise von Partikeln, Durchdringung von Materie durch Teilchen, deren Wesen ihr Unterwegssein ausmacht, Materialität, die vielleicht hauptsächlich aus Unterwegs(gewesen)sein besteht und sich, aus diesem Blickwinkel betrachtet, als eine Form von Erinnerungsvermögen manifestiert: Diese Charakteristika von Strahlung verbinden sich mir zu einem Bild von der dichterischen Sprache, das eine Annäherung an ihre Herkünfte und Wirkmächte erlaubt, ohne dabei einen ihrer Pole zu leugnen.
In loser Folge sollen an dieser Stelle Notizen von Reisen in die Dichtung erscheinen. Keine Reise ist ohne Fährnisse, ja ein Unterwegssein ohne Fährnisse wäre überhaupt keine Reise, Fahrt und Gefahr haben mehr gemeinsam als den Klang dieser beiden Vokabeln. In der Dichtung haben die Wörter eine immense Reise hinter sich, das macht sie zu Worten, macht sie strahlend – und ein Reflektieren, wie Kierkegaard es formulierte, so möglich wie erforderlich: Wie bin ich in dieses und jenes hinein gelangt, und wie gelange ich wieder hinaus, wie endet es?
6. Hundskurve
In einer steppenartigen Landschaft ist eine Jagd im Gange. Den Jäger plagen Hitze und Durst. Er ist einer von vielen, die sich aufgemacht haben, um einen riesigen aschefarbenen, fast schwarzen Hund zu töten, der zwei Kinder gerissen haben soll. Doch in der ausgedörrten Einöde findet sich von dem Untier keine Spur. Nach und nach beginnt der Jäger an der Existenz seiner Beute zu zweifeln, wirft schließlich das Gewehr fort und begibt sich in die Schenke, wo vor Jagdbeginn noch munteres Treiben geherrscht hatte: „Blut macht immer vergnügt.“ Jetzt ist dort keine Menschenseele mehr, dem Jäger ist eiskalt im Lokal, und während es draußen finster wird, erscheint ihm der schwarze Hund nun wieder ganz real: „Auch wenn das Tier / nicht da war, es war doch da.“
Der älteste Jagdhelfer des Menschen als Bestie und gesuchte Beute – mit dieser Ausgangslage setzt Giorgio Caproni in seinem Gedichtzyklus Il Conte di Kevenhüller die Ambivalenz ins Bild, die für das Symboltier Hund charakteristisch ist. Treue und Wachsamkeit, Ausdauer und Wildheit, die Fürsorge des Rudeltiers und die Bösartigkeit des Einzelgängers, all die Kontraste seines Wesens wiesen ihm in der menschlichen Vorstellung seinen Platz auf der Schwelle zu, ließen ihn mal als heiliges, mal als unreines Tier auftauchen, in sich ständig erneuernden, Zeitläuften und Hintergründen angepassten Rollen, die vom Dog of Baskerville bis hin zu Lassie nicht so sehr durch ihre krassen Überzeichnungen frappieren als vielmehr dadurch, dass man dem Hund sowohl das eine als auch das andere Charakterfach abnimmt.
Hekate, Magna Mater und Patronin der Kreuzungen, Abzweige und Übergänge, die einzige der Titanen, die sich, so Hesiod in seiner Theogonie, von Zeus nicht viel dreinreden ließ und die neben dem Göttervater mächtig genug war, Wünsche zu erfüllen, ließ sich auf ihren nächtlichen Jagden von Hunden begleiten. Antike Fresken und Skulpturen zeigen sie als Hekate triformis, und die furchteinflößenden Züge, die sie später als Magierin und Nekromantin annahm, bevor sie im Mittelalter vollends zur Hexe mutierte, die Mehrdeutigkeit, der die widersprüchlichen Potentiale ihres dienstbaren Hundepacks entsprachen, mögen in dieser weiblichen Dreifaltigkeit schon angelegt gewesen sein.
Und dreiköpfig bewacht auch Dantes Kerberos das Tor zur Unterwelt. Bei Hesiod trug der Höllenhund noch fünfzig Köpfe sowie ein kupferfarbenes Fell, in anderen Überlieferungen die Farben der Mondphasen, weiß, rot und schwarz, ein mächtiger Verwandter der Chimaira und der Hydra, vielgesichtig wie diese und schon deshalb schreckenerregend, dabei ausgestattet mit doppeldeutigen Eigenschaften und Verhaltensweisen, erster Diener des Zwischenreichs und Wächter der Grenze, den Übertritt hier befördernd, da verwehrend, durch Orpheus' Gesang zu besänftigen, mit Psyches Honigkuchen zu bestechen. Bei Dante ist er nur mehr schmutzschwarz, wohl, weil er sich „im Kot“ wälzt, eine Verkörperung der Gier, die Züge des Elends trägt, das sie im Diesseits verbreitet und als dessen Nemesis er im Jenseits in Erscheinung tritt, ein dreckstarrender Köter, der „mit einer Handvoll Dreck“ zum Schweigen gebracht wird, ein widerwärtiges, aber nach wie vor äußerst gefährliches Ungeheuer.
Ob Alighieri den „Dämon der Grube“ mit der Melancholie assoziiert hat, ist ungewiss, auch wenn man das „Zerfleischen der Geister“, das dem Hund im Inferno obliegt, dahingehend interpretieren könnte. In der mittelalterlichen Dämonologie, in deren Lehrmeinungen zur Besessenheit sich erste Beschreibungen depressiver und psychotischer Erkrankungen erkennen lassen, taucht der Schwarze Hund dann aber ebenso auf wie in regionalen Mythen. So begegnet man ihm im britannischen Volksglauben, dessen Zerberusse in Gestalt etwa des Suffolker Dämonenhundes Black Shuck oder des Devil's Dandy Dog in den Schauermärchen Cornwalls auch Samuel Johnson ein Begriff gewesen sein dürften, der, zweihundert Jahre bevor der Ausdruck durch Winston Churchill zum geflügelten Wort wurde, vom Schwarzen Hund der Depression sprach.
Mit dem vorromantischen Melancholiegebräu der so genannten Graveyard School um Young, Blair, Thompson hatte der Wörterjäger und -sammler Johnson freilich nichts gemein, eher wird er seinen Schwarzen Hund im Empfindungsreichtum der Milton'schen Penserosos wiedererkannt haben, in denen die kontemplativen und ekstatischen, die saturnischen und apollinischen Komponenten der Melancholie gleichermaßen zum Ausdruck kamen, oder vielleicht sogar in der Ironie seines Zeitgenossen Lawrence Sterne, obwohl er dessen Tristram Shandy nicht viel abgewann. Dennoch, Sternes Blick fürs Tragikomische, das aus der Spannung zwischen vermessenem, da von vornherein maßlosem Schicksalsanspruch und in einem Geflecht von Zufällen sich verheddernder Lebensrealität entsteht, muss Johnson, der als einer der ersten dieses Stilmittel bei Shakespeare verstanden hatte, näher gewesen sein als die Gefühligkeit der Kirchhofpoeten, deren vager, auf ein genießbares Maß gedämpfter Weltschmerz zwar kaum als Ausdruck eines fragmenthaften, unvollendbaren Daseins taugte, dafür jedoch zum schicken Seelenaccessoire geworden war. Ben Jonsons Mode- Schwermütiger Stephen aus Every Man in his Humour, der Melancholie lernen will, wie man Umgangsformen oder eine Sportart lernt – „Habt ihr einen Stuhl hier, auf dem man melancholisch sein kann?“ – darf man sich durchaus als frühe Verkörperung eines Verständnisses vorstellen, nach dem in der Vorromantik die Gemütsverfassung Frage eines Settings wurde, in welchem sie sich zwischen Eibenbäumen, Ruinen, Friedhofsmauern und traurigen Jungfrauen nahezu rituell, aber richtungs- und eigentlich auch grundlos abspielte. Das Bewusstsein der Vergänglichkeit weicht schwärmerischer Todessehnsucht, bitterer Überdruss wird mit süßlicher Müdigkeit verwechselt und ist nichts, wovor man sich zu schützen versuchte, sondern etwas, das man sich hält und entsprechend pflegt, eine melancholisierte Gestimmtheit, die zum Schwarzen Hund Johnsons steht wie der Geist-der-stets-verneint-Mephisto als Pudel zum Puppenkistenteufel im Kasperletheater.1
Dieser Spielart hielt die englische Romantik eine Rückbesinnung auf den harten Kern, den allgemeinen und umso tiefer verwurzelten Grund der Melancholie entgegen. „No, no! go not to Lethe, neither twist / Wolf's-bane, tight rooted, for it's poisonous wine“, heißt es in Keats' Ode on Melancholy. Der Wolfswurz oder Eisenhut, jenes giftige Kraut, das dem Speichel des Kerberos entspross, nachdem Herakles ihn im Zweikampf besiegt und in die Welt der Lebenden verschleppt hatte, ist jedoch das einzige Motiv der Ode, das die Melancholie mit dem Höllenhund in lose Verbindung bringt. Es ist auch kein Symptomkatalog, überhaupt kein Krankheitsbild, worum es hier geht, sondern eine Verfassung, die als natürliche Reaktion auf das Skandalon schlechthin zu betrachten ist. Klar unterscheidet Keats daher zwischen dem Gift, das einer aus freien Stücken zu sich nehmen kann und in dem die „wache Angst der Seele“ ertränkt zu werden droht, und der echten Melancholie, die man nicht zu suchen hat, da sie „vom Himmel wie eine Wolke sich ergießt, die alle siechen Blumen hebt und die / Den grünen Hügel in Apriltuch schließt“, sogar im Elysium selbst ist sie anzutreffen, wo sie „den Schrein verhängt“. Sie entzündet sich an der Vergänglichkeit – und beleuchtet die „Schönheit, die zerfällt“. Die Schönheit und die Trauer um sie, das Erkennen und das Leiden daran sind aneinander gebunden wie der Schatten ans Licht, mehr noch, die Freude am Leben, ja Lebendigkeit überhaupt, scheint nur mit dem Gewahrwerden der Endlichkeit wachgehalten werden zu können.
Aber ist das nicht schon wieder eine Verklärung der Schwermut, deren giftigen Wein man doch gerade meiden sollte? Der Unvereinbarkeit von Lebensfülle und emotionaler Ungetrübtheit begegnet Keats mit Zorn, man kann so weit gehen zu sagen: Zu einem nicht geringen Teil ist seine Melancholie das innere Rasen eines Menschen, den es, wie im letzten Sonett des Dichters, nach der Unsterblichkeit eines Sterns verlangt, aber nur unter der Bedingung, dass dies nicht das Ende der Fähigkeit bedeute, leidenschaftlichen Anteil an den Dingen zu nehmen, auf allen Ebenen lebendig zu bleiben: „Awake forever in a sweet unrest, / Still, still to hear her tendertaken breath, / And so live ever – or else swoon to death.“ Alles ist besser als dahinzudämmern, deshalb wird in der Ode dieser zornigen Melancholie die Hand gereicht: „Or if thy mistress some rich anger shows, / Emprison her soft hand, and let her rave, / And feed deep, deep, upon her peerless eyes.“2
In Les Murrays Denkschrift zur Depression, die erstmals 1996 unter dem Titel Killing the Black Dog erschien, wird die Geschichte seiner Erkrankung als die seiner Jugend erzählt. Der frühe Tod der Mutter, ein fast lebenslanges, vom väterlichen Schweigen geschürtes Schuldgefühl, dazu andauernde Zurückweisung auf erotischem Gebiet im horriblen Verspottungsszenario einer australischen Provinz-Highschool – Bitterstoffe genug, die sich im Erwachsenenalter anreichern und zu der handfesten Adrenalinsucht führen konnten, als die Murray seine Depression charakterisiert. Auf die Frage, was denn nun entscheidend für das Ausbrechen der Krankheit sei, hormonelle Disposition oder traumatisierende Erlebnisse, antwortete ihm sein Arzt, es handle sich um ein Henne-oder-Ei-Problem. Es gebe die angeborene Veranlagung, und es gebe Menschen, die ihre Nerven so konsequent belasteten, dass dies die falsche Chemie auslöse. Wie scharf die Grenzlinie zwischen den letzteren und denen, die, wie Keats gesagt hätte, sich „die Stirn vom Nachtschatten küssen“ lassen oder gar wie gewisse Vorromantiker dem Wehmutsfusel hingeben, zu ziehen ist, bleibt dahingestellt, auch Murray rechnet sich der Gruppe der Quasi-Freiwilligen zwar nicht zu, räumt aber ein, in einem Gefühl „scheußlicher Wichtigkeit“ an seiner „Opferkrankheit“ gehangen zu haben. Es fühle sich dramatisch und ergreifend an und sei besser als Leere: „(...) wie ein Süchtiger gehst du schniefend an Bord, zu deinem Käfig, // denn an dieses Biest wirst du dich klammern, während es dich frisst“ schreibt er in dem Gedicht Corniche3. Ähnlich der Melancholie in Keats' Ode ist Murrays Opferkrankheit in Corniche mehr als nur bleierne Lethargie, zuweilen ist sie eine „Hindenburg maßloser Wut“, die über dem Kranken faule, während das Leben in ihm „brüllt und rast“, „Treibstoff / und Strafe des Strebens.“ In diesen Phasen infiziert ihn der Schwarze Hund mit Tollwut, und der Betroffene hat nur den Wunsch, ihn zur Strecke zu bringen.
Das „Gesicht in Flammen“ und „das Herz am Zerspringen“, lauert in dem eingangs erwähnten Gedichtzyklus Il Conte di Kevenhüller von Caproni der Jäger auf das aschfarbene Biest. Mörderisch ist der Hund, soviel erfährt der Leser bereits im Prolog. Doch das Monster bleibt verborgen. Überall und nirgends anwesend im Dickicht des dürren Buschwerks unterläuft es alle Schreckensbilder, es ist nicht da und doch da: „Im Herzen.“
Dass die Objekte der Furcht Spiegelungen des (Zu-Sehr-)Eigenen sind, ist fast schon eine Binsen#-weisheit, zumal das, was Furcht erregt, kaum dass es benannt ist, den Biss zu verlieren scheint, ohne dass indes dem Impuls, der einen die Straßenseite wechseln lässt, sobald ein dunkler Köter um die Ecke biegt, auch nur ein Yota seiner Kraft genommen wäre. Aggression, Dominanz, Triebhaftigkeit, solche Psychologisierungen erinnern heute mehr an Pfleglinge in einer gut ausgeleuchteten Hundepension als an des Pudels Kern. Bei Caproni verbieten sich dem Leser derlei Benennungen, der Hund ist hier etwas, das „in seinem Namen verschwindet“. Stattdessen wird die Aufmerksamkeit auf das verängstigte – und beängstigende – Verhalten des Jägers gelenkt.
Mittlerweile mutlos in die Schenke eingekehrt, drängt der Erschöpfte sich „noch dichter (immer noch dichter)“ an sich und beginnt „mit einem Lächeln (seinem) Weinen zu lauschen“, während die Zweifel an der Bekanntmachung des Conte – „Dieser Graf – zum Teufel! – sah er nicht recht?“ – nun der Gewissheit Platz macht, dieser habe das Tier sehr wohl gewittert. Nach einem inneren „Erdrutsch, den die Vernunft erzwingt“, offenbart es sich endlich in seiner angestammten Zone, „zwischen den Bäumen“, im Schatten, und dann heißt es: „So schieß! // Nicht suchen den Zielpunkt. // Schießen!“ Aber man ahnt schon: Es ist die Beute, „die jedesmal wieder das Blei / irreführt, das sie trifft, die Ziel- / linie umbiegt ...“, und der Fangschuss würde nicht nur das Ende der Jagd bedeuten. Wenn die Beute in seinem Herzen ist, kann der Jäger nur verlieren „in dem Augenblick / da (er) sie (trifft)“.
Als poetische Figur verbildlicht Capronis Hund die Verstrickung des Menschen in seine Träume, Ängste und Selbsterklärungsversuche. Ein diffuser und umso eindrucksvollerer Schatten, ist er gewiss mehr als eine eindeutig aufzulösende Allegorie, und doch steht er nur scheinbar im Mittelpunkt. Die so oder so scheiternde Jagd nach der todbringenden Beute selbst aber ist vielleicht eines der eindringlichsten Motive, die sich für die melancholische Grundanlage des menschlichen Geistes denken lassen. Damit stellt es keinen Vorschlag zur Auflösung des Widerstreits zwischen Lebenstrieb und Todesgewissheit, noch zur Überwindung der daraus folgenden Grundierung des Daseins dar, sondern zu deren Anerkennung und Integration. „Das Mördertier“, das „unter dem Grund – ein gefälschter Jagdhund – täglich dich aufzehrt“, ist kein anderer als der ihm Nachjagende: „Nur ich, einen Kloß in der Kehle, / wußte.“ Die Ambiguität dieser Erkenntnis-Beute, die sich „in den Schwanz beißt“, macht das gleichzeitige Lächeln und Weinen des sich an sich selbst festhaltenden Jägers begreiflich, denn was immer er erlegt, kann der Hund nicht sein, und erlegte er ihn, wäre das ein Pyrrhussieg, dem kein weiterer folgen müsste, um sich zu Tode gesiegt zu haben. Der dunkle, „in seinem Namen“ verschwindende Teil seiner selbst kann nicht erle(di)gt werden, das „Mördertier“ in ihm ist es auch, das „lebendig macht“.
„Ich weiß jetzt, man kann den Hund nicht töten, und der englische Titel dieses Buches, Killing the Black Dog, passt nicht. Es hätte Learning the Black Dog heißen müssen.“, schrieb Les Murray im Nachwort zu seiner Denkschrift, als er die 2009 in einer überarbeiteten Fassung erneut herausbrachte. Nach einem weiteren Jahrzehnt mit dem Hund hat keine Verbrüderung stattgefunden: „Was ich immer noch betrauere, ist die fürchterliche Energievergeudung, die der Hund mir während meines ganzen Lebens aufzwang, (…) und wie viel mehr ich hätte erreichen können, wenn ich einen einzigen gesunden Geist gehabt hätte, der auf meiner Seite stand.“ Doch das Streben, das der Autor von Fredy Neptune in Corniche als ein Element des Krankheitstreibstoffs bezeichnet hatte, war, wie er inzwischen wusste, ebenfalls ein „Trieb“ des Hundes, der bereits in den schmerzhaften Highschool-Jahren die Hinwendung zur Dichtung wie auch „meine Misere mitverursacht hat“. Der Hund ist vom Jäger nicht mehr zu trennen, er ist (wieder) zum Begleiter geworden, bringt ihn auf die Spur.
Ein Teil der, so verstanden, gemeinsamen Beute, die nach Caproni „in den Stunden des / Gewinns (…) / sich vergißt – / sich einnistet in unsere Stimme“, sind bei Murray erklärtermaßen die Gedichte des Schwarzen Hundes, unter ihnen das 1969 in The Weatherboard Cathedral erschienene, also lange vor dem in der Denkschrift unternommenen Analyseversuch entstandene Ein ganz gewöhnlicher Regenbogen. Darin sitzt ein Mann auf einem öffentlichen Platz und weint. Er ist von niemandem zu beruhigen, und sein untröstliches Weinen bringt die Betriebsamkeit ringsum zum Erliegen: „Männer (blicken) von ihren Zahlenbögen auf, / die Börsenschreiber vergessen die Kreide in ihren Händen und Männer mit Brot in der Tasche verlassen den griechischen Club“. Man umringt den Weinenden, rat- und hilflos, starrt ihn an, manche in der Menge „schreien auf“, ein Mann verschanzt sich hinter dem Urteil: „lächerlich“, eine Frau, die die Hand ausstreckt, empfängt dagegen „das Geschenk des Weinens“, das eine Sehnsucht „wie nach einem Regenbogen“ aufkommen lässt und viele mitnimmt, so dass auch sie weinen, „aus reiner Hingabe“, während noch mehr sich „weigern zu weinen aus Angst vor der Hingabe“. Das wortlose Weinen des Mannes findet keine Erklärung, es scheint keinen konkreten Anlass zu haben, noch hat er eine Botschaft, „sondern Leid, / hart wie die Erde, durchsichtig, gegenwärtig wie das Meer“, nur dieser den Umstehenden wiedererkennbare allgemeine Grund verleiht seiner Trauer ihre Unwiderlegbarkeit und ihre Würde. Schließlich hört der Mann zu weinen auf und „eilt (…) die Pitts Street hinab“, zurück in seinen Alltag, so hofft man, wie immer der aussehen mag.
Der größte „Gewinn“, den Murray seinem Schwarzen Hund zuschreibt, ist natürlich der Versroman um den „deutsch-australischen Seemann namens Fred Boettcher aus Dungog“, der als Hilfsmatrose, Artist, Reporter durch die Welt getrieben wird, bevor er nach unzähligen Abenteuern wieder zu seiner Familie nach Australien heimkehren kann. Nach einem schweren Trauma kann er weder Furcht noch Schmerz mehr empfinden, was den weichherzigen Kraftmenschen zu Zirkuskunststücken, aber auch zu Heldentaten befähigt. Doch neben dem Schmerz sind ihm auch die Sinne für Berührung und Zärtlichkeit abhanden gekommen, er vegetiert in einem „Nullkörper“, von dem er erst am Ende in einer Art Offenbarung aus Reflektieren und Erinnern befreit wird: „Und alles, was ich hatte, war auf einmal etwas, das ich wiederhatte, außer dem Schmerz, den ich nie kannte (…) / In jener Woche lernte ich, in Liebe und in Flüchen, daß meine früheren / Rückkehren niemals vollständig gewesen waren, nur ein gespenstisches / Halb-Hiersein (…), und / ich wußte, von Anfang an, daß kein Gegengebet, kein Schrecken, nichts // meinen Nullkörper wiederbringen würde.“
Aus dem Titel des letzten Kapitels, Lazarus von Banden frei, spricht wohl auch die Hoffnung, die Murray für sich selbst mit der Arbeit an dem Epos verband. Fredy Neptune war ein Unternehmen, in das er sich gegen den Hund verschanzen konnte und das gleichwohl ohne diesen nicht entstanden wäre. Murray überhöht diese Verbindung nicht, sondern zieht abgeklärt Bilanz. Das Zusammenspiel zwischen ihm und dem Hund, mit dem zu leben er weiterhin lernt, hat sich allem Bedauern über die gezwungenermaßen verschwendete und dem unter freundlicheren Bedingungen Erreichbaren (über das sich ohnehin nur spekulieren lässt) verlorengegangene Energie zum Trotz nicht ausschließlich als Höllenfahrt, sondern auf ihren besseren Strecken als eine Reise nach Serendip erwiesen, hin zu Findungen, die womöglich umso glücklichere waren, als sie unter einem ungünstigen Stern ihren Anfang nahmen.
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1In seiner Einleitung zu Goethes Faust. Erster und Zweiter Teil (Ramm & Seemann, Leipzig 1900) weist Hermann Steuding auf die Rolle hin, die das Kasperletheater bei aller schablonenhafter Verflachung für die Lebendigerhaltung der Faust-Sage im deutschen Sprachraum spielte.
2Zitiert nach der Übersetzung von Alexander v. Bernus (John Keats: Gedichte. Sankt Agnes-Abend. Hyperion. Heidelberg 1958)
3 Alle Gedichtzitate von Les Murray sind dem Band Der Schwarze Hund. Eine Denkschrift über die Depression (Edition Rugerup, 2012) entnommen.
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