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Sylvia Geist
Strahlung Sprache

Über Reisen in die Dichtung und zurück

  Essay    6. Folge


Erhellung durch die Reise von Partikeln, Durch­drin­gung von Mate­rie durch Teilchen, deren Wesen ihr Unter­wegs­sein aus­macht, Materia­lität, die vielleicht haupt­sächlich aus Unter­wegs(ge­wesen)sein be­steht und sich, aus diesem Blick­winkel be­trachtet, als eine Form von Erin­nerungs­ver­mögen mani­festiert: Diese Cha­rakte­ristika von Strah­lung verbinden sich mir zu einem Bild von der dichte­rischen Sprache, das eine An­nähe­rung an ihre Her­künfte und Wirkmächte erlaubt, ohne dabei einen ihrer Pole zu leugnen.
 In loser Folge sollen an dieser Stelle Notizen von Reisen in die Dichtung er­schei­nen. Keine Reise ist ohne Fähr­nisse, ja ein Unter­wegs­sein ohne Fährnisse wäre überhaupt keine Reise, Fahrt und Gefahr haben mehr gemein­sam als den Klang dieser beiden Vokabeln. In der Dich­tung haben die Wörter eine immense Reise hinter sich, das macht sie zu Worten, macht sie strah­lend – und ein Re­flek­tieren, wie Kierke­gaard es formu­lierte, so möglich wie erforderlich: Wie bin ich in dieses und jenes hinein gelangt, und wie gelange ich wieder hinaus, wie endet es?


6.   Hundskurve

In einer steppenartigen Landschaft ist eine Jagd im Gange. Den Jäger plagen Hitze und Durst. Er ist einer von vielen, die sich auf­gemacht haben, um einen riesigen asche­farbenen, fast schwarzen Hund zu töten, der zwei Kinder gerissen haben soll. Doch in der ausge­dörrten Einöde findet sich von dem Untier keine Spur. Nach und nach beginnt der Jäger an der Exis­tenz seiner Beute zu zweifeln, wirft schließ­lich das Gewehr fort und begibt sich in die Schenke, wo vor Jagd­beginn noch munteres Treiben ge­herrscht hatte: „Blut macht immer ver­gnügt.“ Jetzt ist dort keine Men­schen­seele mehr, dem Jäger ist eiskalt im Lokal, und während es draußen finster wird, er­scheint ihm der schwarze Hund nun wieder ganz real: „Auch wenn das Tier / nicht da war, es war doch da.“

Der älteste Jagdhelfer des Menschen als Bestie und gesuchte Beute – mit dieser Ausgangslage setzt Giorgio Caproni in seinem Gedichtzyklus Il Conte di Keven­hüller die Ambi­valenz ins Bild, die für das Symboltier Hund charak­teris­tisch ist. Treue und Wachsamkeit, Ausdauer und Wildheit, die Fürsorge des Rudel­tiers und die Bösartigkeit des Einzelgängers, all die Kon­traste seines Wesens wiesen ihm in der mensch­lichen Vor­stel­lung seinen Platz auf der Schwelle zu, ließen ihn mal als heiliges, mal als unreines Tier auftauchen, in sich ständig er­neuernden, Zeitläuften und Hinter­grün­den ange­passten Rollen, die vom Dog of Baskerville bis hin zu Lassie nicht so sehr durch ihre krassen Über­zeich­nungen frap­pieren als vielmehr dadurch, dass man dem Hund sowohl das eine als auch das andere Charakterfach abnimmt.
  Hekate, Magna Mater und Patronin der Kreuzungen, Abzweige und Über­gänge, die einzige der Titanen, die sich, so Hesiod in seiner Theo­gonie, von Zeus nicht viel dreinreden ließ und die neben dem Göttervater mächtig genug war, Wünsche zu erfüllen, ließ sich auf ihren nächt­lichen Jagden von Hunden be­gleiten. Antike Fresken und Skulp­turen zeigen sie als Hekate triformis, und die furcht­ein­flößenden Züge, die sie später als Magierin und Nekr­omantin annahm, bevor sie im Mittelalter vollends zur Hexe mutierte, die Mehrdeutig­keit, der die widersprüchlichen Potentiale ihres dienstbaren Hunde­packs entsprachen, mögen in dieser weiblichen Dreifaltigkeit schon angelegt gewesen sein.
  Und dreiköpfig bewacht auch Dantes Kerberos das Tor zur Unterwelt. Bei Hesiod trug der Höllen­hund noch fünfzig Köpfe sowie ein kupfer­farbenes Fell, in anderen Über­lief­erungen die Farben der Mond­phasen, weiß, rot und schwarz, ein mächtiger Verwandter der Chimaira und der Hydra, vielgesichtig wie diese und schon deshalb schre­ckener­regend, dabei ausge­stattet mit doppel­deutigen Eigen­schaften und Ver­haltens­weisen, erster Diener des Zwischen­reichs und Wächter der Grenze, den Übertritt hier befördernd, da verwehrend, durch Orpheus' Gesang zu besänf­tigen, mit Psyches Honig­kuchen zu bestechen. Bei Dante ist er nur mehr schmutz­schwarz, wohl, weil er sich „im Kot“ wälzt, eine Ver­kör­perung der Gier, die Züge des Elends trägt, das sie im Diesseits verbreitet und als dessen Nemesis er im Jenseits in Erschei­nung tritt, ein dreckstarrender Köter, der „mit einer Handvoll Dreck“ zum Schwei­gen gebracht wird, ein widerwärtiges, aber nach wie vor äußerst gefährliches Ungeheuer.
  Ob Alighieri den „Dämon der Grube“ mit der Melancholie assoziiert hat, ist unge­wiss, auch wenn man das „Zerfleischen der Geister“, das dem Hund im Inferno obliegt, dahin­gehend inter­pretieren könnte. In der mittel­alter­lichen Dämono­logie, in deren Lehr­mei­nungen zur Be­sessen­heit sich erste Be­schrei­bungen depres­siver und psycho­tischer Erkran­kungen erkennen lassen, taucht der Schwarze Hund dann aber ebenso auf wie in regionalen Mythen. So be­gegnet man ihm im britannischen Volks­glauben, dessen Zerberusse in Gestalt etwa des Suffolker Dämonen­hundes Black Shuck oder des Devil's Dandy Dog in den Schauer­märchen Corn­walls auch Samuel Johnson ein Begriff gewesen sein dürften, der, zwei­hundert Jahre bevor der Aus­druck durch Winston Churchill zum geflü­gelten Wort wurde, vom Schwarzen Hund der Depression sprach.
  Mit dem vorromantischen Melancholiegebräu der so genannten Graveyard School um Young, Blair, Thompson hatte der Wörterjäger und -sammler Johnson freilich nichts gemein, eher wird er seinen Schwarzen Hund im Emp­fin­dungs­reich­tum der Milton'schen Penserosos wieder­erkannt haben, in denen die kon­templativen und eks­tatischen, die saturni­schen und apol­linischen Kompo­nenten der Melan­cholie gleicher­maßen zum Ausdruck kamen, oder vielleicht sogar in der Ironie seines Zeit­genossen Lawrence Sterne, ob­wohl er dessen Tristram Shandy nicht viel abgewann. Dennoch, Sternes Blick fürs Tra­giko­mische, das aus der Span­nung zwischen ver­mes­senem, da von vornherein maßlosem Schick­sals­an­spruch und in einem Ge­flecht von Zufällen sich ver­hed­dernder Lebens­rea­lität entsteht, muss Johnson, der als einer der ersten dieses Stil­mittel bei Shakespeare ver­standen hatte, näher gewesen sein als die Gefühligkeit der Kirch­hof­poeten, deren vager, auf ein genießbares Maß gedämpfter Welt­schmerz zwar kaum als Ausdruck eines frag­ment­haften, unvollend­baren Daseins taugte, dafür jedoch zum schicken Seelen­accessoire geworden war. Ben Jonsons Mode-Schwer­mütiger Ste­phen aus Every Man in his Humour, der Melan­cholie lernen will, wie man Umgangs­formen oder eine Sportart lernt – „Habt ihr einen Stuhl hier, auf dem man melan­cho­lisch sein kann?“ – darf man sich durchaus als frühe Ver­kör­perung eines Ver­ständ­nisses vor­stellen, nach dem in der Vor­romantik die Gemüts­verfassung Frage eines Settings wurde, in welchem sie sich zwischen Eiben­bäumen, Ruinen, Fried­hofs­mauern und traurigen Jung­frauen nahezu rituell, aber richtungs- und eigent­lich auch grundlos abspielte. Das Be­wusst­sein der Vergäng­lichkeit weicht schwärme­rischer Todes­sehnsucht, bitterer Über­druss wird mit süß­licher Müdig­keit ver­wechselt und ist nichts, wovor man sich zu schützen versuchte, sondern etwas, das man sich hält und ent­sprechend pflegt, eine melancho­lisier­te Gestimmt­heit, die zum Schwarzen Hund Johnsons steht wie der Geist-der-stets-verneint-Mephisto als Pudel zum Puppen­kisten­teufel im Kasperle­theater.1
  Dieser Spielart hielt die englische Romantik eine Rückbesinnung auf den harten Kern, den allgemeinen und umso tiefer verwurzelten Grund der Melancholie entgegen. „No, no! go not to Lethe, neither twist / Wolf's-bane, tight rooted, for it's poisonous wine“, heißt es in Keats' Ode on Melancholy. Der Wolfs­wurz oder Eisenhut, jenes giftige Kraut, das dem Speichel des Kerberos entspross, nachdem Herakles ihn im Zweikampf besiegt und in die Welt der Lebenden verschleppt hatte, ist jedoch das einzige Motiv der Ode, das die Melan­cholie mit dem Höllenhund in lose Verbindung bringt. Es ist auch kein Symptom­katalog, überhaupt kein Krank­heits­bild, worum es hier geht, sondern eine Ver­fassung, die als natürliche Reaktion auf das Skandalon schlechthin zu be­trachten ist. Klar unter­scheidet Keats daher zwischen dem Gift, das einer aus freien Stücken zu sich nehmen kann und in dem die „wache Angst der Seele“ ertränkt zu werden droht, und der echten Melancholie, die man nicht zu suchen hat, da sie „vom Himmel wie eine Wolke sich er­gießt, die alle siechen Blumen hebt und die / Den grünen Hügel in Apriltuch schließt“, sogar im Elysium selbst ist sie anzu­treffen, wo sie „den Schrein ver­hängt“. Sie entzündet sich an der Ver­gäng­lich­keit – und be­leuchtet die „Schön­heit, die zer­fällt“. Die Schönheit und die Trauer um sie, das Erkennen und das Leiden daran sind an­einander gebunden wie der Schatten ans Licht, mehr noch, die Freude am Leben, ja Lebe­ndigkeit über­haupt, scheint nur mit dem Gewahr­werden der End­lich­keit wach­ge­halten werden zu können.
  Aber ist das nicht schon wieder eine Verklärung der Schwermut, deren giftigen Wein man doch gerade meiden sollte? Der Unvereinbarkeit von Lebensfülle und emotionaler Ungetrübt­heit begegnet Keats mit Zorn, man kann so weit gehen zu sagen: Zu einem nicht gerin­gen Teil ist seine Melancholie das innere Rasen eines Menschen, den es, wie im letzten Sonett des Dichters, nach der Un­sterb­lich­keit eines Sterns verlangt, aber nur unter der Bedingung, dass dies nicht das Ende der Fähigkeit bedeute, leiden­schaft­lichen Anteil an den Dingen zu nehmen, auf allen Ebenen lebendig zu bleiben: „Awake forever in a sweet unrest, / Still, still to hear her tendertaken breath, / And so live ever – or else swoon to death.“ Alles ist besser als dahin­zudämmern, deshalb wird in der Ode dieser zornigen Melan­cholie die Hand gereicht: „Or if thy mistress some rich anger shows, / Emprison her soft hand, and let her rave, / And feed deep, deep, upon her peerless eyes.“2

In Les Murrays Denkschrift zur Depression, die erstmals 1996 unter dem Titel Killing the Black Dog erschien, wird die Geschichte seiner Erkrankung als die seiner Jugend erzählt. Der frühe Tod der Mutter, ein fast lebenslanges, vom väter­lichen Schweigen geschürtes Schuldgefühl, dazu andauernde Zurück­weisung auf eroti­schem Gebiet im horriblen Ver­spottungs­szenario einer austra­lischen Provinz-Highschool – Bitter­stoffe genug, die sich im Erwachsenen­alter anreichern und zu der hand­festen Adre­nalin­sucht führen konnten, als die Murray seine Depres­sion charakterisiert. Auf die Frage, was denn nun entscheidend für das Ausbrechen der Krank­heit sei, hormo­nelle Dispo­sition oder trauma­ti­sie­rende Erleb­nisse, ant­wortete ihm sein Arzt, es handle sich um ein Henne-oder-Ei-Problem. Es gebe die an­gebo­rene Ver­anlagung, und es gebe Men­schen, die ihre Nerven so konsequent belasteten, dass dies die falsche Chemie auslöse. Wie scharf die Grenzlinie zwischen den letzteren und denen, die, wie Keats gesagt hätte, sich „die Stirn vom Nachtschatten küssen“ lassen oder gar wie gewisse Vor­romantiker dem Weh­muts­fusel hingeben, zu ziehen ist, bleibt dahin­ge­stellt, auch Murray rechnet sich der Gruppe der Quasi-Frei­willigen zwar nicht zu, räumt aber ein, in einem Gefühl „scheußlicher Wich­tig­keit“ an seiner „Opfer­krankheit“ gehangen zu haben. Es fühle sich dramatisch und ergreifend an und sei besser als Leere: „(...) wie ein Süchtiger gehst du schnie­fend an Bord, zu deinem Käfig, // denn an dieses Biest wirst du dich klammern, während es dich frisst“ schreibt er in dem Gedicht Corniche3. Ähnlich der Melancholie in Keats' Ode ist Murrays Opferkrankheit in Corniche mehr als nur bleierne Lethargie, zuweilen ist sie eine „Hindenburg maßloser Wut“, die über dem Kranken faule, während das Leben in ihm „brüllt und rast“, „Treib­stoff / und Strafe des Strebens.“ In diesen Phasen infiziert ihn der Schwarze Hund mit Tollwut, und der Betroffene hat nur den Wunsch, ihn zur Strecke zu bringen.

Das „Gesicht in Flammen“ und „das Herz am Zerspringen“, lauert in dem eingangs erwähnten Gedichtzyklus Il Conte di Keven­hüller von Caproni der Jäger auf das asch­farbene Biest. Mörderisch ist der Hund, soviel erfährt der Leser bereits im Prolog. Doch das Monster bleibt verborgen. Überall und nirgends anwesend im Dickicht des dürren Busch­werks unterläuft es alle Schreckensbilder, es ist nicht da und doch da: „Im Herzen.“
  Dass die Objekte der Furcht Spiegelungen des (Zu-Sehr-)Eigenen sind, ist fast schon eine Binsen#-weisheit, zumal das, was Furcht erregt, kaum dass es benannt ist, den Biss zu verlieren scheint, ohne dass indes dem Impuls, der einen die Straßen­seite wechseln lässt, sobald ein dunkler Köter um die Ecke biegt, auch nur ein Yota seiner Kraft genommen wäre. Aggre­ssion, Dominanz, Trieb­haftig­keit, solche Psycho­logi­sierungen erinnern heute mehr an Pfleglinge in einer gut aus­geleuch­teten Hunde­pension als an des Pudels Kern. Bei Caproni verbieten sich dem Leser derlei Be­nennungen, der Hund ist hier etwas, das „in seinem Namen verschwindet“. Statt­dessen wird die Aufmerksamkeit auf das ver­ängstigte – und beängs­tigende – Verhalten des Jägers gelenkt.
  Mittlerweile mutlos in die Schenke eingekehrt, drängt der Erschöpfte sich „noch dichter (immer noch dichter)“ an sich und beginnt „mit einem Lächeln (seinem) Weinen zu lauschen“, während die Zweifel an der Be­kannt­machung des Conte – „Dieser Graf – zum Teufel! – sah er nicht recht?“ – nun der Gewiss­heit Platz macht, dieser habe das Tier sehr wohl gewit­tert. Nach einem inneren „Erdrutsch, den die Vernunft erzwingt“, offenbart es sich endlich in seiner ange­stammten Zone, „zwi­schen den Bäumen“, im Schatten, und dann heißt es: „So schieß! // Nicht suchen den Zielpunkt. // Schießen!“ Aber man ahnt schon: Es ist die Beute, „die jedes­mal wieder das Blei / irre­führt, das sie trifft, die Ziel- / linie umbiegt ...“, und der Fangschuss würde nicht nur das Ende der Jagd bedeuten. Wenn die Beute in seinem Herzen ist, kann der Jäger nur verlieren „in dem Augenblick / da (er) sie (trifft)“.
  Als poetische Figur verbildlicht Capronis Hund die Verstrickung des Menschen in seine Träume, Ängste und Selbst­erklä­rungs­versuche. Ein diffuser und umso eindrucksvollerer Schatten, ist er gewiss mehr als eine eindeutig auf­zulösende Allegorie, und doch steht er nur scheinbar im Mittelpunkt. Die so oder so scheiternde Jagd nach der tod­bringenden Beute selbst aber ist vielleicht eines der ein­dring­lichs­ten Motive, die sich für die melan­choli­sche Grund­anlage des mensch­lichen Geistes denken lassen. Damit stellt es keinen Vorschlag zur Auflösung des Wider­streits zwischen Lebenstrieb und Todes­gewissheit, noch zur Über­windung der daraus folgenden Grundierung des Daseins dar, sondern zu deren Aner­kennung und Integration. „Das Mördertier“, das „unter dem Grund – ein gefälschter Jagdhund – täglich dich aufzehrt“, ist kein anderer als der ihm Nachjagende: „Nur ich, einen Kloß in der Kehle, / wußte.“ Die Ambiguität dieser Erkenntnis-Beute, die sich „in den Schwanz beißt“, macht das gleich­zeitige Lächeln und Weinen des sich an sich selbst fest­haltenden Jägers begreif­lich, denn was immer er erlegt, kann der Hund nicht sein, und erlegte er ihn, wäre das ein Pyrrhussieg, dem kein weiterer folgen müsste, um sich zu Tode gesiegt zu haben. Der dunkle, „in seinem Namen“ ver­schwindende Teil seiner selbst kann nicht erle(di)gt werden, das „Mördertier“ in ihm ist es auch, das „leben­dig macht“.

„Ich weiß jetzt, man kann den Hund nicht töten, und der englische Titel dieses Buches, Killing the Black Dog, passt nicht. Es hätte Learning the Black Dog heißen müssen.“, schrieb Les Murray im Nach­wort zu seiner Denkschrift, als er die 2009 in einer über­arbei­teten Fassung erneut heraus­brachte. Nach einem weiteren Jahr­zehnt mit dem Hund hat keine Ver­brüderung statt­gefunden: „Was ich immer noch betrauere, ist die fürchter­liche Energie­ver­geu­dung, die der Hund mir während meines ganzen Lebens auf­zwang, (…) und wie viel mehr ich hätte erreichen können, wenn ich einen einzigen gesunden Geist gehabt hätte, der auf meiner Seite stand.“ Doch das Streben, das der Autor von Fredy Neptune in Corniche als ein Element des Krank­heits­treib­stoffs be­zeichnet hatte, war, wie er inzwi­schen wusste, ebenfalls ein „Trieb“ des Hundes, der bereits in den schmerz­haften Highschool-Jahren die Hin­wendung zur Dichtung wie auch „meine Misere mit­ver­ursacht hat“. Der Hund ist vom Jäger nicht mehr zu trennen, er ist (wieder) zum Begleiter geworden, bringt ihn auf die Spur.
  Ein Teil der, so verstanden, gemeinsamen Beute, die nach Caproni „in den Stunden des / Gewinns (…) / sich vergißt – / sich einnistet in unsere Stimme“, sind bei Murray er­klärter­maßen die Gedichte des Schwarzen Hundes, unter ihnen das 1969 in The Weatherboard Cathedral erschienene, also lange vor dem in der Denk­schrift unter­nommenen Analyseversuch entstandene Ein ganz gewöhnlicher Regenbogen. Darin sitzt ein Mann auf einem öffent­lichen Platz und weint. Er ist von nieman­dem zu beruhigen, und sein untröstliches Weinen bringt die Betrieb­sam­keit rings­um zum Er­liegen: „Männer (blicken) von ihren Zahlenbögen auf, / die Börsen­schreiber ver­gessen die Kreide in ihren Händen und Männer mit Brot in der Tasche verlassen den griechischen Club“. Man umringt den Weinenden, rat- und hilf­los, starrt ihn an, manche in der Menge „schreien auf“, ein Mann ver­schanzt sich hinter dem Urteil: „lächerlich“, eine Frau, die die Hand aus­streckt, em­pfängt dagegen „das Geschenk des Weinens“, das eine Sehnsucht „wie nach einem Regen­bogen“ aufkommen lässt und viele mitnimmt, so dass auch sie weinen, „aus reiner Hin­gabe“, während noch mehr sich „weigern zu weinen aus Angst vor der Hingabe“. Das wortlose Weinen des Mannes findet keine Erklärung, es scheint keinen kon­kre­ten Anlass zu haben, noch hat er eine Botschaft, „sondern Leid, / hart wie die Erde, durchsichtig, gegenwärtig wie das Meer“, nur dieser den Umstehenden wiedererkennbare allgemeine Grund ver­leiht seiner Trauer ihre Unwiderlegbarkeit und ihre Würde. Schließlich hört der Mann zu weinen auf und „eilt (…) die Pitts Street hinab“, zurück in seinen Alltag, so hofft man, wie immer der aussehen mag.
  Der größte „Gewinn“, den Murray seinem Schwarzen Hund zuschreibt, ist natürlich der Versroman um den „deutsch-austra­lischen Seemann namens Fred Boettcher aus Dungog“, der als Hilfsmatrose, Artist, Reporter durch die Welt getrie­ben wird, bevor er nach unzäh­ligen Aben­teuern wieder zu seiner Familie nach Aus­tralien heimkehren kann. Nach einem schweren Trauma kann er weder Furcht noch Schmerz mehr empfinden, was den weich­herzigen Kraft­menschen zu Zirkus­kunst­stücken, aber auch zu Heldentaten befähigt. Doch neben dem Schmerz sind ihm auch die Sinne für Berüh­rung und Zärtlichkeit ab­handen gekommen, er vegetiert in einem „Nullkörper“, von dem er erst am Ende in einer Art Offenbarung aus Reflek­tieren und Erinnern befreit wird: „Und alles, was ich hatte, war auf einmal etwas, das ich wiederhatte, außer dem Schmerz, den ich nie kannte (…) / In jener Woche lernte ich, in Liebe und in Flüchen, daß meine früheren / Rückkehren niemals vollständig gewesen waren, nur ein gespenstisches / Halb-Hiersein (…), und / ich wußte, von Anfang an, daß kein Gegengebet, kein Schrecken, nichts // meinen Nullkörper wiederbringen würde.“
  Aus dem Titel des letzten Kapitels, Lazarus von Banden frei, spricht wohl auch die Hoffnung, die Murray für sich selbst mit der Arbeit an dem Epos verband. Fredy Neptune war ein Unter­nehmen, in das er sich gegen den Hund ver­schanzen konnte und das gleich­wohl ohne diesen nicht entstanden wäre. Murray überhöht diese Ver­bindung nicht, sondern zieht abgeklärt Bilanz. Das Zusammen­spiel zwischen ihm und dem Hund, mit dem zu leben er weiterhin lernt, hat sich allem Bedauern über die gezwun­gener­maßen ver­schwendete und dem unter freund­licheren Bedin­gungen Erreich­baren (über das sich ohnehin nur spekulieren lässt) ver­loren­ge­gangene Ener­gie zum Trotz nicht aus­schließ­lich als Höllen­fahrt, sondern auf ihren besseren Strecken als eine Reise nach Serendip erwiesen, hin zu Findungen, die womöglich umso glücklichere waren, als sie unter einem ungünstigen Stern ihren Anfang nahmen.

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1In seiner Einleitung zu Goethes Faust. Erster und Zweiter Teil (Ramm & Seemann, Leipzig 1900) weist Hermann Steuding auf die Rolle hin, die das Kasper­letheater bei aller schablonen­hafter Ver­flachung für die Lebendig­erhaltung der Faust-Sage im deutschen Sprachraum spielte.

2Zitiert nach der Übersetzung von Alexander v. Bernus (John Keats: Gedichte. Sankt Agnes-Abend. Hyperion. Heidelberg 1958)

3 Alle Gedichtzitate von Les Murray sind dem Band Der Schwarze Hund. Eine Denk­schrift über die Depression (Edition Rugerup, 2012) entnommen.
Sylvia Geist    31.12.2013   

 

 

 
Sylvia Geist
Lyrik
  1. Hundskurve
  2. Im Orbit des Saturn
  3. Porta morgana
  4. Ich in Aberland
  5. Plaza de Major
  6. Hölle und Halde