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Sylvia Geist
Strahlung Sprache
Über Reisen in die Dichtung und zurück
Essay 3. Folge |
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Erhellung durch die Reise von Partikeln, Durchdringung von Materie durch Teilchen, deren Wesen ihr Unterwegssein ausmacht, Materialität, die vielleicht hauptsächlich aus Unterwegs(gewesen)sein besteht und sich, aus diesem Blickwinkel betrachtet, als eine Form von Erinnerungsvermögen manifestiert: Diese Charakteristika von Strahlung verbinden sich mir zu einem Bild von der dichterischen Sprache, das eine Annäherung an ihre Herkünfte und Wirkmächte erlaubt, ohne dabei einen ihrer Pole zu leugnen.
In loser Folge sollen an dieser Stelle Notizen von Reisen in die Dichtung erscheinen. Keine Reise ist ohne Fährnisse, ja ein Unterwegssein ohne Fährnisse wäre überhaupt keine Reise, Fahrt und Gefahr haben mehr gemeinsam als den Klang dieser beiden Vokabeln. In der Dichtung haben die Wörter eine immense Reise hinter sich, das macht sie zu Worten, macht sie strahlend – und ein Reflektieren, wie Kierkegaard es formulierte, so möglich wie erforderlich: Wie bin ich in dieses und jenes hinein gelangt, und wie gelange ich wieder hinaus, wie endet es?
3. Ich in Aberland
Ein paar Fahrradminuten von meinem Elternhaus entfernt stand ein leeres, seit vielen Jahren sich selbst überlassenes Gebäude. Heute assoziiere ich es mit einer Villa aus der Gründerzeit, tatsächlich erinnere ich mich weder an Einzelheiten seiner Fassade, noch an die Anzahl der Zimmer. Ich weiß noch, dass sie mir sehr hoch vorkamen, nicht aber, was genau ich, ein neun- oder zehnjähriges Kind, in den wie zeitlos sich hinziehenden und dabei unversehens verstreichenden Nachmittagsstunden dort eigentlich trieb. Wollte ich an diesem Ort, an dem nichts mehr funktionierte und wo ich der Aufmerksamkeit der Mächtigen entzogen war, nur meinem Exilantengefühl entkommen (dem Verdacht, adoptiert zu sein), zelebrierte ich irgendwelche Spiele? Oder vergaß ich mich so, wie man sich lesend in einem Text vergessen kann (umso leichter, je mehr von sich man darin wiedererkennt), wenn keine Gedanken an etwas anderes mehr zwischen die Zeilen passen, man auch keine Zeilen mehr sieht und keine Zeichen, und aus dieser Zeitspanne später nur noch weiß, was dort geschah, im Text, und dass man ihn somit gelesen haben muss, während das Bild von einem selbst als Lesendem schon fast eine Erfindung ist? Jedenfalls war dieses Haus die verbotene Zone, in der ich, so sehe ich es heute, durch den geringfügigen Ungehorsam, den mein Aufenthalt darstellte, den Regeln und Codes der Eltern, der Schule u.s.w. ein kleines, ellipsenhaftes aber entgegenhielt.
Trotzdem hätte ich es vielleicht irgendwann vergessen, wäre ich nicht eines Morgens fiebernd aufgewacht und hätte auf dem Nachttisch nicht ein Stück gelben, federleichten, staubigen und staubenden Materials gelegen. Ich erinnerte mich nicht an die Stelle, an der ich es gefunden, und kaum daran, dass ich es aufgehoben hatte, doch als ich es nun wieder in die Hand nahm, sah ich mich das etwa handtellergroße Stückchen Wirklichkeit aus einem Haufen Bauschutt herausziehen. Jetzt fühlte ich beinahe Abscheu, auf jeden Fall Scheu, es zu berühren, warf es aber nicht fort, betastete im Gegenteil immer wieder seine poröse, gelblich abfärbende Oberfläche, schmeckte seinen bitter-trockenen, mich eigentümlich an Schwärze erinnernden Geschmack bis in die Kehle und sagte mir, dass es dieses sonnengelbe, schwarz schmeckende Material sein musste, das mich fiebern ließ. Krank und ängstlich fragte ich mich, was es wohl noch mit mir machen würde, und im Gelände eines sich zu Zusammenhängen formierenden inneren Textes wurde der fremde Stoff zum Synonym des Hauses und das Fieber, das ich mir dort zugezogen hatte, zum Zeichen meiner Anwesenheit in der verbotenen Zone.
Während ich schreibe: „Ich schmeckte seinen bitter-trockenen, mich eigentümlich an Schwärze erinnernden Geschmack bis in die Kehle“, wandelt sich dieses bestimmte Stück unbekannten Stoffs in etwas anderes. Auch das Kind, das es aufhob und Fieber bekam, ist ein anderes, nicht nur als erinnertes oder weil ich mich unmöglich genau erinnern kann, weil sich das Gedächtnisbild bei jedem Zugriff geringfügig verkürzt, verfärbt, verändert, sondern weil diese geschriebene Erinnerung an die Worte gebunden ist, die ich im Schreiben dafür finde. In einer anderen Situation fände ich andere Worte, oder sie klängen, wirkten, wären anders, weil sie z.B. nicht in derselben Reihenfolge zu stehen kämen, und die Erinnerung an das Kind, das „ich“ im obigen Satz, nähme eine andere Gestalt an. Aber wenn die Worte, die ich heute schreibend dafür finde, andere sind als die, in denen ich gestern davon erzählt habe, bestimme ich sie dann noch? In welchem Verhältnis steht unter so beweglichen Bedingungen das geschriebene „ich“ zu der, die es schreibt, zum Beispiel jetzt, da die Schreibende das „ich“ dieses Textes ist, eine – wie die selbstvergessene Lesende vorhin – schon fast erfundene Schreibende, die gleichwohl und gleichzeitig eine natürliche, empirische Person ist, die schreibt: »Die alte Frage nach der Sprecherinstanz berührt das Verhältnis, in welches wir Kunst zu unseren Erfahrungen, Wünschen und Ängsten setzen; der Grad der Authentizität, den wir ihr zugestehen, beeinflusst ihre Verbindlichkeit und Relevanz und gibt nicht zuletzt Auskunft über die Deutungen, die wir unserem Dasein geben, oder über die Visionen, die wir von uns haben.«
Die „Phänomenologie meiner Ichbestände“, als die Gottfried Benn die Aus- und Wechselwirkungen seiner Personalunion aus Mann, Familienvater, Mediziner, Dichter und „Radardenker“ annoncierte*, kommt als Umschreibung psychologischer, neurobiologischer, aber auch gesellschaftlicher Kunstvoraussetzungen dem gegenwärtigen Verständnis nahe, der Zweifelhaftigkeit auch, der das Bewusstsein unterliegt, sobald es sich selbst in den Blick nimmt, der ganzen alltäglich gewordenen Diversität, Dissonanz, Disparatheit des Individuums, das in den Spiegel schaut, darauf gefasst, gleich auf den eigenen Hinterkopf zu sehen. Ich kann gar nicht umhin, etwas wiederzuerkennen in diesen Ichbeständen, und gewiss gibt es keine selig-naive Rückkehr zu simplen Identitätsmodellen, die ihren Niederschlag in einer Literatur voller biographischer Abziehbilder empirischer Personen fänden. Und doch stellt sich angesichts einer multiplen, sich ins Wort fallenden Sprecherinstanz eine Art Schwindelgefühl ein. Geschmack nach graugelbem Staub auf der Zunge beim Wortklang: Ichbestände. Die mehr oder minder sorgsam zu verwalten wären, zu organisieren, über die sich verfügen ließe? Ein anderer Zweifel kommt auf, oder auch eine Ahnung im Hinblick auf die Wirkmacht von Dichtung. Denn ein Entwurf, nach dem ein „Mensch in Anführungszeichen“ sich in den wechselnden Projektionen eines inneren Konsortiums zu verstehen gibt, bildet die Kehrseite der Scheinklarheit ab, wie sie etwa Käte Hamburgers Antwort auf die Frage „Wer spricht?“ – „Der Autor.“ – vermittelte, und stellt eher die der Skylla scheinbarer Vereinfachung zugehörige Skarybdis dar: Eine in ihrem Widerstreit an dissoziative Bewusstseinsstrukturen erinnernde Konstruktion scheint geeignet, die Tendenz zu verstärken, „eine jede Verknüpfung von Worten (...) Lügen zu strafen“ (René Char)**, und aus gar nicht so weiter Ferne hört man die Drei alte(n) Männer: „Wir lebten etwas anderes als wir waren, wir schrieben etwas anderes als wir dachten, wir dachten etwas anderes als wir erwarteten, und was übrig bleibt, ist etwas anderes als wir vorhatten.“
Es sei, so Char, Aufgabe der Dichtung, durch ihr Auge blicken und mit ihrer Zunge schmecken zu lassen, „damit diese sich als nichtig erweisende Entfremdung in Nichts zerrinnt“. Wie kann Entfremdung kraft einer sich selbst entfremdeten Sprecherinstanz aufgehoben werden; wie weit könnte wiederum der Dichter sich ihr überhaupt entfremden, bevor er sich dem entfremdete, was er durch sie zur Sprache bringt, bevor es unverbindlich würde? In welchem Verhältnis von „ich“ und Text lässt sich verbindlich sprechen, wo, an welcher Schnittstelle, ist es mir verbunden?
Wenn in „Hopkins Tagebüchern fortwährend etwas heran(leuchtet oder klingt oder duftet), das ich-förmig ist“***, handelt es sich dabei nicht um ein in den Text implantiertes „ich“. Hier wandelt eine Identität, die im Zuge des Wahrnehmungsprozesses zwischen Betrachter und Betrachtetem, Beschreibendem und dem, was sich beschreiben lässt, zutage tritt: „Jede kleine Besonderheit, Beschreibbarkeit scheint eine kleine Ich-Information zu sein (...) Jeder schwierige Platz (…) ist eine kleine Konstitutions- oder Kontinent-Schwierigkeit des Ich.“ Im poetischen Sprachbild des Aber-Wolke-Ichs bei Peter Waterhouse spiegeln sich keine Ichbestände, die Wahrnehmung der Außenwelt wird als Zustand des Ich (an)erkannt. Das Ich-Förmige des Textes braucht keine Gestalt darin, geschweige denn ein Personalpronomen, es ersteht als Text-Gestalt. Die kann ein „ich“ umfassen, doch ist das in einer ich-förmigen Textlandschaft weder Marionette oder Avatar des Autors, noch ein fiktionales Konstrukt, vielmehr wird in einem Transformationsgefüge, in dem das Wahrgenommene sich als der Reim offenbart, den ich mir mache, die Trennlinie zwischen textinterner Ich-Figur und -externem Schreibendem selbst fiktiv. In dieser Textur steht aber auch das geschriebene „ich“ zu dem Menschen, der es schreibt, in einem innigeren und dabei unabhängigeren Verhältnis als eine (Rede-)Figur, die den Erfüllungsgehilfen irgendeiner Handlung oder Aussage zu spielen hätte. Es ist auch nicht Stellvertreter eines oder mehrerer Protagonisten der Ichbestände, sondern tritt in Erscheinung als eines, das sich im Verweben von Wahrnehmung und Wiedererkennen, Eindruck und Äußerung erst findet. Die Worte, die gefunden werden, sind in der Perzeption des Einzelnen quasi vorformuliert.
In der Denktradition der Rhetorik war die ratio inveniendi der Verstandesprozess, der es uns ermöglicht, Worte zu „finden“, gleichsam anzukommen bei ihnen. Der Idee von einem inneren Ort, an dem die menschliche Rede entspringt, lag wiederum die Vorstellung zugrunde, Sprache sei durch den menschlichen Intellekt zwar zu erfassen und zu deuten, existiere aber unabhängig von ihm, ja habe immer schon Statt gehabt. Daher war dieser innere Ort ursprünglicher gedacht als der Bezirk der Logik, die ratio iudicandi, die über die Richtigkeit des Gesagten urteilt, denn im Bereich des Urteils – des Rechtens – ist das Wort gegeben, während ihm in der ratio inveniendi erst noch ein Ort geschaffen werden muss. Um diese Aufgabe zu erfüllen, bildete die Topik das „Argument“, dessen Stamm argu sich auch in argentum, „Silber“, findet und „Glanz“ bedeutet, „Helligkeit“. Zu argumentieren hieß zunächst nichts anderes als etwas zu beleuchten, es in hellem Licht zu zeigen, es erstrahlen zu lassen. Das Finden des Worts in der ratio inveniendi ist im Begriff des Arguments ein lichtes, erleuchtendes Ereignis. Zunehmend konzentrierte man sich jedoch auf das verlautbarte Wort, sein Stattfinden, gerade im Sinne des Argumentierens, trat im Lauf der Zeit gegenüber dem Problem des Findens in den Vordergrund, zumal beides nicht getrennt voneinander gedacht wurde. So reduzierte sich die Topik schließlich auf eine Mnemotechnik, die dem Redner das Wort in Form möglichst leicht erinnerbarer Argumente zur Verfügung zu stellen half, und die loci gingen in locutio auf, in der Redeweise: nicht mehr das Erstrahlen des am inneren Ort gefundenen Worts, sondern der Lampenschein der treffenden Formulierung, nicht mehr der Glanz des Findens, sondern das rhetorische Glänzen.
Im 13. Jahrhundert wandte sich der Aristoteliker Thomas von Aquin**** noch einmal den vor-rhetorischen Beziehungen zwischen Sprachimpuls, Wort und Hervorbringung zu. In einer seiner Quaestiones disputatae unterschied er zwischen „dreierlei Wort“: Das verbum cordis, das „Herzenswort“, meinte einen quasi präintellektuellen Zustand des Wortes, seine früheste, noch nicht formulierte Intention, die auch vor dem, der es schließlich hervorbringen wird, verborgen ist. Den geistigen Akt der Hervorbringung, das Finden im Sinne der ratio inveniendi, ortete Thomas im verbum interius, dem „inneren“ Wort. Beide, Herzenswort und inneres Wort, bewirken und ermöglichen jedes geäußerte, sind aber noch sine voce. Entsprechend wurde für das verlautbarte Wort, wie es in der ratio iudicandi schon eingeschlossen war, ein dritter Terminus eingeführt, das verbum vocis. Dieses zwischen Menschen geäußerte Wort ist gegenüber dem geheimen Herzenswort ein „Wort des Wortes“, quasi sit verbum verbi. Man könnte es eine Übersetzung nennen, die sich dem Original mal mehr, mal weniger gelungen annähert.
Kein Wunder und kein Zufall, dass einem das Aber-Wolke-Ich an einem Tag in Wien. Wald begegnet, der mit dem Übersetzen beginnt, davon ausgeht, vom im Grunde unmöglichen Übersetzen. Denn „ich kann nicht eintreten in diese Sprache, weil ich eine tiefe Erinnerung habe; und ich kann nicht eintreten, weil ich eine tiefe Erinnerung bin; und ich kann nicht eintreten, weil die Sprache eine tiefe, dauerhafte Erinnerung ist“.
Das innere Wort bleibe lautlos in der Seele, so wie die Liebe im Liebenden bleibt, es gehöre zu seiner Natur, nicht als es selbst geäußert werden zu können, schrieb Josef Pieper und erinnerte daran, dass es für Augustinus, aus dessen Trinitas Thomas zitierte, keiner geschichtlichen Sprache angehörte: „Wir denken alles, was wir sagen, in jenem inneren Wort, das zu keines Volkes Sprache gehört.“ Übersetzung tut not, unmögliches Übersetzen. Mit Waterhouse der Versuch, eine Sprache – Deutsch oder Italienisch oder Englisch – wieder unbekannter zu machen, das Verlernen auch einer falsch gewordenen Bekanntheit, auch: Verlernen von Gewandtheit, Gewandetheit. Von Getrenntheit.
Über die Wege dieser geheimnisvollen Übersetzung setze ich von einem inneren Ort über ins Geäußerte, bewege mich von einem Ich-Zustand in meinen anderen, wie von Dampf zu Wasser, zu Eis, zu Wasser. Wenn ich so auf der Halde meiner Anlässe einen Stoff finde und ausgrabe – oder ihn eingrabe in meinem Schutthaufen wie eine Coatlicue – geschieht das dem Aberland meines Textes wie mir. Ich wandle nicht nur hindurch, er wandelt auch mich. Ich schaue nicht hinüber zu einem verlassenen, vergangenen Haus, ich stehe darin, übersetzt in seine Gegenwart in mir, es „gibt kein Blicken hinüber zu etwas, denn das Schauen und..., nein, das Schauen ist ein Ganzes. Das weiße Haus ist ein Augenaufmachen.“ Ich schreibe vom Fieber (aus), das ich mir in der verbotenen Zone hole, weil es einer meiner Ich-Zustände ist, und ich fiebere, weil ich davon schreibe. Das Aberland des Textes ist ein weiteres, ein abermaliges ich, verbunden mit allem Wahrgenommenen, Dazwischensein, mitempirisch, mitnatürlich, mittig. Mit-ich. Das meint nicht weniger mich, sondern umfassender, das entfremdet sich nicht, sondern verbindet mich.
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Gottfried Benn, Doppelleben. Stuttgart 2005 |
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René Char, übers. von Paul Celan in: P.C. Gesammelte Werke, Bd.4, Frankfurt a.M. 1986 |
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Peter Waterhouse: Wien Wald, in: Die Geheimnislosigkeit, Salzburg / Wien 1996 |
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Josef Pieper: Über das innere Wort, in: Sinn und Form 5/47, Berlin 1995 |
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