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Sylvia Geist
Strahlung Sprache
Über Reisen in die Dichtung und zurück
Essay 5. Folge |
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Erhellung durch die Reise von Partikeln, Durchdringung von Materie durch Teilchen, deren Wesen ihr Unterwegssein ausmacht, Materialität, die vielleicht hauptsächlich aus Unterwegs(gewesen)sein besteht und sich, aus diesem Blickwinkel betrachtet, als eine Form von Erinnerungsvermögen manifestiert: Diese Charakteristika von Strahlung verbinden sich mir zu einem Bild von der dichterischen Sprache, das eine Annäherung an ihre Herkünfte und Wirkmächte erlaubt, ohne dabei einen ihrer Pole zu leugnen.
In loser Folge sollen an dieser Stelle Notizen von Reisen in die Dichtung erscheinen. Keine Reise ist ohne Fährnisse, ja ein Unterwegssein ohne Fährnisse wäre überhaupt keine Reise, Fahrt und Gefahr haben mehr gemeinsam als den Klang dieser beiden Vokabeln. In der Dichtung haben die Wörter eine immense Reise hinter sich, das macht sie zu Worten, macht sie strahlend – und ein Reflektieren, wie Kierkegaard es formulierte, so möglich wie erforderlich: Wie bin ich in dieses und jenes hinein gelangt, und wie gelange ich wieder hinaus, wie endet es?
5. Im Orbit des Saturn
„The blood jet is poetry / There is no stopping it“, heißt es in Kindness von Sylvia Plath. Ein Strom von Gedichten, wie ein Rauschen aus den Bäumen an der muro della terra, und dann nichts mehr, als wäre sie wirklich durch eine Porta morgana gegangen.
„Ich werde nicht mehr schreiben“ lautete die letzte Tagebucheintragung Cesare Paveses, kurz nachdem er binnen weniger Monate zwei seiner besten Romane geschrieben hatte.
Epikur verbannte die Dichtung aus dem glücklichen Garten.
Es geht nicht darum, dem Lieblingsaberglauben eines aufgewärmten Romantizismus an die Melancholie als Kunstvoraussetzung aufzusitzen, noch will ich den Scharrbildern einer Logik folgen, die die Beziehung zwischen Kunst und Melancholie als Beweis für den „Grausamen Gott“ der künstlerischen Arbeit auslegt, dem Alfred Alvarez 1 seine Studie mit Blick auf Plath widmete. Dort attestierte er dem Schaffensprozess eine immanente Dynamik, nach der „durch den Akt des formalen Ausdrucks dem Künstler das eingebrachte Material nur leichter zugänglich“ werde. Erscheint diese Wendung des Bildes der Kunst als Spiegel, die nun den Künstler als Nachahmer seines Werks zeigt, der das „Geschaffene auch leben“ wolle, auch bestechend plausibel, so grenzt sie doch an die Bezichtigung, jener wolle im Schatten eines grausamen Gottes leben.
„Das Angeblickte blickt mich an, und zwar schon bevor es angeblickt worden ist, es erkennt mich, hat mich erkannt, im Nu“, schreibt Anne Duden 2. Der Angeblickte befindet sich in der Situation des Ausgeliefertseins, oder wie Emmanuel Levinas es formulierte, in der Lage einer Geisel jenes Anderen, das einen anblickt, in einem Verhältnis der Wahrnehmung also, dem man sich ja gerade nicht verweigern kann, in einer „schwer errungenen Indolenz, die erst ermöglicht, daß das Doloröse – und auch das nur unter anderem – zu sich und zu Wort kommt.“ (Bei Levinas ist daher auch nicht vom Autor die Rede, sondern vom Schreibenden.) Im Moment des Angeblicktwerdens liegt die Spannung eines Impulses, jene Unwillkürlichkeit, die entsteht, wo man sich etwas Unkalkulierbarem gegenübersieht.
„Es öffnete sich die Tür und es kam, gut im Saft, an den Seiten üppig gerundet, fußlos mit der ganzen Unterseite sich vorschiebend der grüne Drache ins Zimmer herein. Formelle Begrüßung. Ich bat ihn völlig einzutreten. Er bedauerte dies nicht tun zu können, da er zu lang sei. Die Tür mußte also offenbleiben, was recht peinlich war. Er lächelte halb verlegen, halb tückisch und begann: Durch deine Sehnsucht herangezogen, schiebe ich mich von weither heran“, liest man in Kafkas Nachgelassene(n) Schriften. Nicht ums Wollen geht es hier, sondern ums S ehnen. Niemand wählt, wonach er sich sehnt – das macht die Sehnsucht zum trojanischen Pferd in der Seele, oder physiologisch gesprochen: im Mandelkern, dem Areal des Gehirns, in dem die Impulse des Begehrens und der Angst als Nachbarn wohnen und einander befeuern.
Seit Aristoteles galt die Melancholie als Beginn wie auch als Pferdefuß geistiger Arbeit; die Betroffenen hielt man als „Kinder des Saturn“ sowohl für Philosophie und Dichtung determiniert, als auch für Irrsinn: „Viele werden aber auch (...) von krankhaften Anfällen der Raserei und der Verzückung ergriffen; so entstehen die Sybillen, die Wahrsager und alle Gottbegeisterten, soweit sie nicht durch Krankheit, sondern durch ihr physisches Temperament so geworden sind“. Der Krankheitsbegriff war ambivalent: Einerseits wurden Raserei und Verzückung des Melancholikers als krankhaft betrachtet, andererseits jedoch von den durch Krankheit verursachten Zuständen unterschieden, unter denen Nichtmelancholiker leiden konnten. Nach Galen physiologisch zurückzuführen auf das Ungleichgewicht der vier Säfte zugunsten der schwarzen Galle, war Melancholie demnach eine Spielart der „heiligen Krankheit“, als die man die Epilepsie deutete, die Krankheit von Empedokles und Sokrates, aber auch die des Herakles, dessen Wunden vor seiner Entrückung auf dem Öta wieder aufbrachen, und von Bellerophon, dem Bezwinger der Chimaira.
Dieser Auffassung folgte im Mittelalter eine gänzlich negative Bewertung der Melancholie; allenfalls befand man den gemäßigten Melancholiker als qualifiziert für intellektuelle Betätigung. Die davon abweichende These des Renaissancedenkers Marcello Ficino blieb weitgehend unbeachtet. Ficino nämlich interpretierte die Melancholie nicht als Begleiterscheinung bestimmter geistiger Veranlagungen, sondern als Folge der mit ihnen einhergehenden inneren Auseinandersetzungen, als deren Schatten. Zwar argumentierte der Neuplatoniker noch im Sinne der Temperamentenlehre, nach der Saturn der Schirmherr der Melancholiker und die Melancholie eine Krankheit darstellte, nahm aber eine komplexe Wechselwirkung zwischen Tätigkeit und Gestimmtheit des Menschen an: „Bedenke immer, dass wir schon durch die Neigungen und Bestrebungen unseres Geistes (...) leicht und schnell unter den Einfluss der Gestirne geraten können, die diese Neigungen, Bestrebungen und Beschaffenheiten bezeichnen; daher geraten wir durch Absonderung von menschlichen Dingen, durch Muße, Einsamkeit, Festigkeit, esoterische Theorie und Philosophie, durch Aberglauben, Magie, Landbau und Trauer unter den Einfluss des Saturn.“ 3
In Zeiten bildgebender Verfahren liest sich Ficinos Vorstellung vom Zusammenwirken von Gestirn und Gehirn wie eine Metapher für Zusammenhänge, die seit etwa zwei Jahrzehnten zunehmend unter neurobiologischem Vorzeichen untersucht werden. Manie, Wahn, Psychose werden nicht als die Kehrseite von Phantasie und Schöpfungskraft verstanden, aber in Beziehung gesehen. Beide Verfassungen werden von denselben Genvarietäten gesteuert, und die für beide typisch erscheinenden Modifikationen im Gehirn inspirieren zu therapeutischen Ansätzen, die auf den Einfluss gedanklicher Prozesse auf neuronale Strukturen setzen.
Schon zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts beobachteten Eugen Bleuler und Emil Kraeplin bei Schizophreniepatienten auffällige Veränderungen in Wortwahl und Satzbau, später berichtete u.a. Leo Navratil 4 – bei nuancierterer Bewertung – über das gleiche Phänomen. Mittlerweile spielen linguistische und semiotische Gesichtspunkte eine wichtige Rolle bei der Entwicklung geeigneter Therapien, und die Analyse divergenter Sprachmerkmale hat Eingang in die Diagnostik gefunden, deren Verfahren sie als Symptome weiterreichender psychischer Krankheitsbilder behandeln.
Wortschöpfungen, Auflösung und Neuordnung der Syntax, Assoziationsfluss, Chiffren, Metamorphosen, in deren Verlauf Nomina sich in Verben wandeln, Artikel in den anderen Fall stürzen, ins Originelle rasende Gedankenketten beziehungsweise Begriffsauflösungen, das subjektiv empfundene Verschwinden (oder der Rückzug) des von der Außenwelt wahrgenommenen physischen hinter das sprechende, das lyrische Ich oder die Verlagerung emotionalen Geschehens auf Stellvertretergestalten, auf Figuren 5 – was sich liest wie ein Katalog poetischer Mittel, erweist sich als Liste von Erkennungsmerkmalen, die heute in führenden Kliniken bei der Rasterfahndung nach mentalen Störungen ausgegeben werden. Man kann von Glück sagen, dass sich in der Terminologie wie in der psychiatrischen Praxis neben dem Schizophrenen der Schizotype etabliert hat, der nichtklinische Fall, der nichtsdestoweniger über ähnliche Erfahrungen nicht verfügt, vielmehr mit ihnen leben muss wie mit den Symptomen eines Tropenfiebers, das, einmal virulent gewesen, immer aufs Neue ausbrechen und das Leben aus den Fugen schmelzen kann.
Was zum persönlichsten Erleben manchen Aberlandreisenden gehört, die Erweiterung des inneren Gesichtsfeldes bis hin zu Gesichten und dem damit einhergehenden Schrecken – vergleichbar mit jenem angesichts der Coatlicue –, das blinkt heute, wie Ted Hughes in seinem Aufsatz zu Baskin 6 schrieb, auf empfindlichen Anzeigen als ablesbarer Beweis. Messungen der Hirnaktivität machen die Kraft der Sprache sichtbar, eine zweite, real empfundene Wirklichkeit hervorzurufen (und befreien diese paradoxerweise vom Odeur der Hysterie: Die Wahrnehmung mag wahnhaft sein, ihre reale Anmutung im Gehirn des Wahrnehmenden aber ist nun so nachweisbar wie ein Knochenbruch oder ein Infarkt).
Das neuronale Lexikon speichert die Wörter nicht primär als Laute oder Zeichenkombinationen, sondern als Empfindungsbilder, es hinterlegt ihnen die Eigenschaften, das Wesen der einzelnen Dinge, und was den Gesunden vom Kranken unterscheidet, ist nichts weiter als die dünne Membran des Grades, in dem diese hinterlegten Empfindungen sich zum Sensorium durchsprechen. Die Kranken spüren gesprochene Hiebe und hören erwähnten Lärm, einige berichten sogar, ein Wort werde für sie zur Sache selbst: „Wenn man so will, haben Schizophrene die engste Beziehung zur Sprache, die man haben kann. Aber das ist kein Segen. Es ist ein Fluch“, schreibt Michael Greenberg 7, der die sprachschöpferischen Ausbrüche seiner erkrankten Tochter Sally zuerst mit Neid, später mit tiefem Mitgefühl für die „ausgedörrte Einsamkeit“ ihres Zustands beobachtete. Wäre es nicht überhaupt treffender, von Einsamen anstatt von Kranken zu sprechen, von Abgeschiedenen, die im Aber-Verhältnis zu ihrer Umgebung wie in der Fremde leben? Sallys sprachliche Originalität, ihre poetischen Bilder und Wortschöpfungen waren ein Produkt des Zusammenbruchs jener semantischen Übereinkünfte, die das Fundament von Verständigung bilden, oder um mit Kafka zu reden: der Drache hatte sich weiter und weiter ins Zimmer geschoben, und die Tür, anfangs möglicherweise in beidseitigem Einverständnis offen gelassen, ließ sich beim besten Willen nicht mehr schließen.
Es liegt eine seltsame Widersprüchlichkeit in dieser gesteigerten Sensibilität seitens der Medizin für die Bedeutung der Sprache. Indem man den Blick auf ihre „saturnische“ Seite lenkt, nimmt man sie als Indikator und Therapiemodul mentaler Erkrankungen ernst, andererseits mündet die Einsicht in ihre Möglichkeiten, den Verstand auch zum Wahnhaften hin zu öffnen, in ein harmonisierendes, „heilsames“ Angleichen, das auf eine Einschränkung, eine Ausdünnung ihrer Potentiale hinausläuft. Umgekehrt erweckt die Tatsache, dass es eben ihre von der Alltagskommunikation, vom Zweckdienlichen abweichenden Charakteristika sind, die sie nun als Steckbrief aus der Psychiatrie verwendbar machen, ein gewisses Misstrauen. Seit Don Quixote avancierte das Thema wiederholt zum literarischen Motiv, dennoch scheint der Umstand, dass Sprache in ihren poetischen Formen neben der Chance, dem herbeigesehnten Drachen zu begegnen, auch das Risiko birgt, die Kontrolle darüber einzubüßen, wie weit diese Annäherung gehen soll, für manchen mit dem Ruch eines Liebesverrats behaftet zu sein.
Noch schwerer wiegt natürlich die Befürchtung, eine Grenze zu verletzen, jenseits der Sprachbetrachtung und -kritik in Ideologie umschlagen könnten. Ein harmonisierendes, verharmlosendes Bild von den Wirkmächten der dichterischen Sprache wäre jedoch nicht weniger ideologisch und zöge darüber hinaus den Verzicht auf Qualitäten nach sich, die ohne die Risiken des Sich-Aussetzens, sogar des Kontrollverlusts – signifikanter Teil des Angeblicktwerdens – nicht zu haben sind. Dichtung beleuchtet die Dinge und lässt sie lange Schatten werfen. Ihre Erhellungen sind nicht ein- und auszuschalten wie eine Nachttischlampe. Mir dessen bewusst zu sein, bedeutet weder ein Hemmnis noch eine Selbstverpflichtung auf Erbauungsliteratur, aber es hat mir auch niemand versprochen, ich hätte nichts zu fürchten.
Die ursprüngliche Bedeutung des italienischen Worts pensiero, „Gedanke“, war Angst. Das lateinische Verb pendere, auf das es zurückgeht, bedeutet in der Schwebe sein, und in diesem Sinne verwendete es Augustinus, um den Prozess der Erkenntnis zu beschreiben: „Das Begehren, das der Forschung innewohnt (…), bleibt gewissermaßen in der Schwebe ( pendet quodammodo) und ruht erst dann, wenn (der Forschende) gefunden hat, was er suchte und sich mit ihm vereint hat.“
Die Geschichte der deutschen Worte „Wahn“ und „Sinn“ wiederum bewahrt die Beziehung zwischen beidem auf. „Wahn“ ist mit dem gotischen „vans“, leer, verwandt, während „Sinn“ auf Gang oder Weg der Gedanken zurückging. Noch reicher ist die indogermanische Wurzel „wen“: Dieses Wort, aus dem sich sowohl Wüste als auch gewinnen herleiten, stand für trachten, wünschen, erhoffen, nach etwas suchen, für verlangen und begehren. Im Alt- und noch im Mittelhochdeutschen bedeutete „wan“ daneben auch Vermutung, Meinung und Erwartung – ein Begriff, der Denken und Streben verknüpfte, Kognition mit Emotion. Von einem Streben angetrieben, macht sich jemand auf den Weg der Gedanken, schreibend wird er zum selbstvergessenen Leser seines inneren Textes, seines verbum interium, das ihm aus dem verbum cordis erwächst, dem fruchtbaren Mandelkern der Sprache, der beides gleichermaßen birgt, die Kraft zu begehren und die Möglichkeit, durch eine Porta morgana zu gehen, hinter der auf einer abschüssigen Bahn auch die Wechselfälle des Lebens entgleiten können; und während – und weil – er nach etwas sucht, etwas erhofft und ersehnt, kann er Freude (englisch „wine“) erfahren und Angst, er kann die Liebe finden (lateinisch „venus“ und altindisch „vanati“) und durch die Wüste kommen, in die er auf seiner Suche geraten ist.
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Literaturhinweise:
1Alfred Alvarez: Der grausame Gott. Eine Studie über den Selbstmord, Hoffmann und
Campe 1999 (Ungeachtet meiner Kritik an der o.g. These Alvarez´ möchte ich an dieser Stelle ausdrücklich auf seine bedenkenswerten Überlegungen zu den veränderten Kunstbedingungen und die daraus resultierende Zunahme psychischer Erkrankungen von Künstlern im 20. Jh. hinweisen.)
2Anne Duden: Zungengewahrsam. Kleine Schriften zur Poetik und zur Kunst, Kiepenheuer und Witsch 1999
3 vgl. R. Klibansky / E. Panovsky /F. Saxl: Saturn und Melancholie, Suhrkamp 1992
4 Leo Navratil: Schizophrenie und Sprache. Zur Psychologie der Dichtung, dtv 1966
Navratil berichtet über Madame Sechehaye, die in Frankreich ein schizophrenes Mädchen behandelte, indem sie die infantilen Wünsche der Kranken »symbolisch erfüllte«. Da das Kind zu ängstlich war, um eine Liebesbezeugung anzunehmen, brachte ihr die Therapeutin Puppen, denen sie dann gemeinsam die Zuneigung angedeihen ließen, die eigentlich der Patientin galt.
5 Richard Davidson: Warum wir fühlen, was wir fühlen: Wie die Gehirnstruktur unsere Emotionen bestimmt und wie wir darauf Einfluss nehmen können, arkana 2012
6 Ted Hughes: „Der Gehenkte und die Libelle“, in: Wie Dichtung entsteht. Essays. Insel 2001 (vgl. Strahlung Sprache: 2. Plaza de Mayor)
7 Michael Greenberg: Der Tag, an dem meine Tochter verrückt wurde. Hoffmann und Campe 2009
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