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Sylvia Geist
Strahlung Sprache
Über Reisen in die Dichtung und zurück
Essay 4. Folge |
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Erhellung durch die Reise von Partikeln, Durchdringung von Materie durch Teilchen, deren Wesen ihr Unterwegssein ausmacht, Materialität, die vielleicht hauptsächlich aus Unterwegs(gewesen)sein besteht und sich, aus diesem Blickwinkel betrachtet, als eine Form von Erinnerungsvermögen manifestiert: Diese Charakteristika von Strahlung verbinden sich mir zu einem Bild von der dichterischen Sprache, das eine Annäherung an ihre Herkünfte und Wirkmächte erlaubt, ohne dabei einen ihrer Pole zu leugnen.
In loser Folge sollen an dieser Stelle Notizen von Reisen in die Dichtung erscheinen. Keine Reise ist ohne Fährnisse, ja ein Unterwegssein ohne Fährnisse wäre überhaupt keine Reise, Fahrt und Gefahr haben mehr gemeinsam als den Klang dieser beiden Vokabeln. In der Dichtung haben die Wörter eine immense Reise hinter sich, das macht sie zu Worten, macht sie strahlend – und ein Reflektieren, wie Kierkegaard es formulierte, so möglich wie erforderlich: Wie bin ich in dieses und jenes hinein gelangt, und wie gelange ich wieder hinaus, wie endet es?
4. Porta morgana
In den Seminarschriften, die unter dem Titel „Die Sprache und der Tod“ versammelt sind*, zitiert Giorgio Agamben aus dem ersten Kapitel der „Phänomenologie“: „Es wird das Jetzt gezeigt, dieses Jetzt. Jetzt; es hat schon aufgehört zu sein, indem es gezeigt wird; das Jetzt, das ist, ist ein anderes als das gezeigte. Das Jetzt, wie es uns gezeigt wird, ist ein gewesenes, und dies ist seine Wahrheit; es hat nicht die Wahrheit des Seins.“ In Hegels Deutung der Sprache als an sich dialektischem Prozess stellt das Stattfinden von Vermittlung das gleichzeitige Nichtstattfinden des Vermittelten dar oder, so Agamben, dessen Negativität. Nach diesem Verständnis wäre Negativität allerdings das Fundament von Kommunikation, da die Gegenstände in den Worten ja nur deshalb vermittelt werden können, weil ihnen ein Allgemeines zugehört, das sie – unabhängig von der „sinnlichen Gewissheit“, dass sie so, wie sie da stehen, als Gesagtes oder Geschriebenes, nicht anwesend, nicht da sind – dennoch als Gemeintes wiedererkennbar macht, als Stuhl zum Beispiel, als ein Stück Holz, als Ast und fruchtbarer Zweig. Als Aprikose. Wieder erkennbar, abermals und –tausendmal erkennbar.
Der Epilog zur Schriftensammlung ist dem Dichter Giorgio Caproni gewidmet, dem Agamben sich schon essayistisch zugewandt hatte und dessen nachgelassene Gedichte er 1991 unter dem Titel „Res amissa“ herausgebrachte. Es ist eine Semantik der Negation, die Capronis Werk zusammenhält, eine des Abschieds von Weisheit oder Erkenntnis (vergebens suche des „Forschers Neugier mehr als Liebe / Zur Weisheit“, schrieb der junge Hegel in seinem 1796 dem Freund Hölderlin gewidmeten Gedicht „Eleusis“), eines Abschieds sogar von der Liebe, der die Lebensreise von ihrem Ende her überschattet. Vuoto, Leere, ist ein Kernbegriff dieser Dichtung.
In Capronis Gedicht „Congedo del viaggatore cerimonioso“, das 1965 als Teil eines Zyklus in dem fast gleichnamigen Band** erschien, ist ein lyrisches Ich auf Reisen. Wie an einem Bahnhof werden Abschiede genommen: von einem Arzt, einem Mädchen, einem Soldaten, einem Geistlichen. Der Koffer ist schwer, obwohl er wenig enthält. Die Reise wird zur Metapher des Lebens und endet im Nichts: „Congedo alla sapienza / e congedo all´amore. / Congedo anche alla religione. / Ormai sono a destinazione.“ Das Gedicht ist als Abschied auch von jeglicher Debatte um Glaubensfragen interpretiert worden. Die alternierenden Strophenlängen mit austauschbaren Phrasenabschnitten, die gesamte, dem Zufälligen, Fragmentarischen, unvollendet Bleibenden nachspürende Anlage voller überraschender akustischer Wendungen und der stellenweise ironische Duktus sprechen jedoch zumindest nicht dagegen, dass Caproni es darüber hinaus in ein sprachkritisches Deutungsfeld stellte.
In „Sassate“ stößt das lyrische Ich auf eine Negation, die der Dichtung selbst den Boden entziehen zu wollen scheint: Jede Kommunikation ist im Gedichtgeschehen unmöglich geworden, stattdessen fliegen dem Fragenden als einzige Antwort Steine entgegen. In „La porta“ endlich entzieht Caproni dem Wort jedes Vertrauen, sofern es um das Vermögen geht, die Wirklichkeit in sich zu fassen oder nur darauf zu zielen: „La porta / morgana: // la parola.“ Was Türen öffnete, das Wort als Passwort, ist selbst zu einer Tür geworden, doch nicht zu etwas hin, das seinen Gegenwert in der Realität besäße, diese Tür ist eine Luftspiegelung und führt in die Irre.
Capronis dichterisches Sprechen kreiste immer wieder um die Verneinung des Worts, als sei dies sein eigentliches Anliegen gewesen. In „Generalizzando“ aus der Sammlung „Res amissa“ ist von einem Geschenk die Rede, das jeder erhält, wovon dem Beschenkten aber kaum etwas im Gedächtnis bleibt, an dem er sich demzufolge nicht freuen, das er nicht nutz- oder glückbringend anwenden kann. Das Geschenk steht für Gnade oder Segnung, zugleich für die Dichtung, und es geht verloren, mehr noch: wird fortgeworfen als etwas von vornherein Verfehltes: „Buttate pure via / ogni opera in versi o in prosa. / Nessuno é mai riuscito a dire / cos´è, nella sua essanza, una rosa“. Wie ist es zu erklären, dass einer, der das Leben wie die Dichtung grundsätzlich zum Scheitern verurteilt sah - „nella sua essenza“ –, nicht verstummte?
Agamben sieht sich an die boutade erinnert, mit der Benjamin sein Verhältnis zur Theologie veranschaulichte: zwar sei das Papier mit Tinte durchtränkt, aber wenn es auf das Löschpapier ankäme, wäre da kein einziger Tropfen mehr. Ohne die Formel von der „negativen Theologie“ zu bemühen, sei bei Caproni die poetische Atheologie (der Dichter selbst nannte es auch Pathotheologie) der Moderne zu ihrem Höhepunkt gelangt: „(...) mit einer sehr charakteristischen Gebärde (macht Caproni) die Kategorieaufteilungen, auf denen die westliche Theologie und Ethik gründen, hinfällig – oder besser: er verkompliziert sie und verlegt sie in eine Dimension, in der ihr Sinn sich radikal umkehrt.“
In „Mancato Aquisto“ betritt jemand ein leeres Ladengeschäft. Der potenzielle Kunde wartet lange, sehr lange, bis endlich der Inhaber die Szene betritt und sich alsbald als Jesus Christus zu erkennen gibt. Der hat das Geschäft nach dem Tod des Vaters übernommen, steht bereitwillig „zu Diensten“, verspricht die Erfüllung jeden Wunsches und will sogar Kredit gewähren. Doch das Angebot findet kein Echo im so umworbenen Kunden: „(...) Ich sah ihn an. // Ich schüttelte den Kopf. // Er hatte doch gesprochen, / zweifellos, in klarem, aufrichtigem Ton. // Doch wenn es so war: warum ging ich dennoch leer davon?...“*** In „Furto“ wiederum, einem Gedicht aus den „Versicoli del contracaproni“, heißt es lapidar: „Hanno rubato Dio. // Il cielo è vuoto. // Il ladro non è ancora stato / (non lo sarà mai) arrestato.“ Gott ist gestohlen worden, der Dieb aber konnte fliehen und ist noch auf freiem Fuß, wohingegen in dem Gedicht, das den Band „Res amissa“ beschließt, ein hingestreckter Baum von Gottes Flucht zeugt: „Uno dei tanti, anch´io / Un albero fulminato / dalla fuga di Dio.“
Die aus der Flucht – oder dem Raub – Gottes resultierende Leere übersetzt Caproni, quasi analog zur neurologischen Aphasie, einer Störung des logisch- diskursiven Apparats der Sprache, in eine Aprosodie, nicht ohne indes dieser Umkehrung (fast möchte man in Anlehnung an Yannis Ritsos von einem „Umkehrbild des Schweigens“ sprechen) eine weitere Volte beizustellen: Den geradezu obsessiv kalkulierten Abweichungen tonaler und rhythmischer Aspekte etwa in den „Congedo“-Gedichten stehen die versicoli del controcaproni, die „Verslein des Gegencaproni“ gegenüber, sozusagen als Widerrede zur Entfernung vom Prosodischen, wie ein „Liedchen-Summen oder ein Pfeifen inmitten der gestrafftesten Hymne“. Die Frage nach dem Ursprung dieses klanglich schlichten Gegengesangs (Agamben nennt ihn gar „metrisch trivial“), der den gebrochenen Ton der letzten Gedichte auffallend häufig begleitet, beantwortet der Herausgeber in seinem Vorwort zu „Res amissa“ mit der Idee vom Paradox eines Dichters, der in Personalunion mit einem Gegendichter lebte und dessen „versicoli“ als der Abfall – das zu sehr Eigene –, sich „als Splitter von der unerbittlichen Arbeit der Enteignung ablösten“.
Enteignung, das Entfernen des Eigenen (oder das Entferntwerden davon: dem soll noch nachgegangen werden), ist nun freilich conditio sine qua non des Mitteilens, das Aber-Ich des Gedichts beruht als Sprachgeschehen auf eben dem Prozess der Vermittlung, der ohne eine Einbuße an nur dem Sprechenden Angehörendem zugunsten des Allgemeinen und Wiedererkennbaren nicht zustande käme – das Dilemma ist offenkundig. Herkommend von individuare, „sich unteilbar, untrennbar machen“, bedeutet Individuation nicht weniger als die Fähigkeit, uns als Ganzes zu erfahren, zu erkennen, wer wir in Abgrenzung vom Anderen sind. Die zumindest temporäre Entindividuation wiederum, die die „Arbeit der Enteignung“ erfordert und befördert, erfasst die Instanzen des Bewusstseins, auf deren Eigenart die mentale, psychsische und geistige Gesamtheit des Menschen, der spricht, und damit jede Kommunikation gründet. Oder um in der Szenerie des „vereitelten Einkaufs“ zu bleiben: Wie soll Erlösung möglich sein, wenn Gemeinschaft, Kommunion, unmöglich ist, weil das „erlösende Wort“ zwar gesprochen, aber nicht aufgenommen werden kann, es also nicht zur Teilhabe daran kommt? Den Widerspruch kann der Einzelne nicht auflösen, sondern sich bestenfalls in einem prekären Equilibrium dazu verhalten, gleichsam auf der Schwelle der Porta morgana balancierend.
Auf dem schwankenden Boden dieses Balanceakts steht, nein: entsteht das Aber-Ich der Dichtung. Dabei mutiert es zu keinem zu Versen geronnenen Gegenentwurf des Ichs. Es ist vielmehr die Form, die der Andere am Sprachort umso umfassender mit seiner wiedererkennenden Vorstellung füllt, je weiterreichend sie sich vom Eigenen gelöst und zum Allgemeinen hin erweitert hat. In der „linea della vita“, die Caproni als von chiarezza, Klarheit, incisivita, Einprägsamkeit, und franchezza, Aufrichtigkeit bestimmt definierte, erkennt man ein Kontinuum seiner Dichtung. Sicher auch von seiner musikalischen Ausbildung prädestiniert, führte ihn der Sinn für Rhythmus und Harmonie zurück zu traditionellen metrischen Formen, zur Canzonetta aus Kurzstrophen aus Versen zu sechs, sieben oder acht Silben. Vor diesem Hintergrund lässt sich in den „Verslein des Gegencaproni“ nicht bloß ein Abfallprodukt des Eigentlichen erblicken, sondern eine werkgeschichtlich wie poetologisch begründete Entsprechung zur Haltung der Verneinung: Vuoto ist der Raum, den die Form der Vorstellung bietet, eine Voraussetzung, die es weniger unmöglich als vielmehr unnötig macht, zwischen Natur und Gnade, Eigenem und Enteignung zu unterscheiden.
Es scheint, dass er seine Stimme gerade in der Negation behaupten konnte, und dass die darin zum Ausdruck gebrachte Anerkennung des Scheiterns etwas Lebendiges und Lebbares freisetzte, als entfalte das Nein am Ort der Negativität die Dynamik der bekannten mathematischen Gesetzmäßigkeit, nach der minus mal minus sich ins plus emporstößt. Stimme und Gegenstimme finden und halten einander in einer Schwebe, in der auch das Scheitern des Mitteilens sein Aber zu entfalten vermag, Widerworte geben kann, wieder(um) Worte, die zu fließen beginnen wie aus einem der Seelenbäume in Dantes Hölle – ein Verfahren, das die tiefe Skepsis angesichts der Zweischneidigkeit auch des Kunstgriffs mit einschließt, kraft dessen das Scheitern in Richtung Produktivität abgelenkt, gewendet, gewandelt werden kann. Folgerichtig bezieht sich die Überschrift des Bandes „Il muro della terra“ aus dem Jahr 1975 auf den Zehnten Gesang aus dem Inferno.
Schon der Titel der 1959 erschienenen Sammlung, „Il seme del piangere“, war der Göttlichen Komödie entnommen, aus dem Einunddreißigsten Gesang des Läuterungsbergs. „Für einen späteren Sirenensang // Tu ab der Tränen Saat“, muss der in rückwärtsgewandten Trauer- und Verlustgefühlen verharrende Dante der Komödie sich da von Beatrice sagen lassen, und weiter: „Vernimm, wie du dich gerade umgekehrt / Nach meinem Tod bewegen hättest müssen“****.
Liest sich der Rückgriff auf diese Verse noch als programmatisches Motto, nach dem der Dichter sich immer aufs Neue in sein Gleichgewicht aus Rede und Widerrede sang, und damit wie die helle Hälfte des Konzepts, so deutet die Überschrift des späteren Gedichtbandes auf die ständige Vergegenwärtigung des Abgrunds, der dem Ausbalancieren zwischen unerlöst bleibendem Eigenen und nicht aneigenbarem, nicht erlösendem Anderen in der Form des Aber-Ich eine umso größere Notwendigkeit zuwachsen lässt: Die „muro della terra“ markiert die Grenze zum Siebten Höllenkreis, in dessen Wälder die Gewalttäter gegen sich selbst verbannt sind, die Vergeuder aller Art, auch die des höchsten Guts, die Selbstmörder. (Wie der Tod jemandes, „den wir lieber hatten als uns, wie wenn wir in Wälder verstoßen würden, von allen Menschen weg, wie ein Selbstmord“ seien die Bücher, die wir brauchen, schrieb Kafka an Oscar Pollack.) Dort ist das Sprechen an die Verletzung gebunden, der Wortstrom versiegt, wenn die Wunde sich schließt.
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Giorgio Agamben: Die Sprache und der Tod. Ein Seminar über den Ort der Negativität. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2007 |
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Giorgio Caproni: Congedo del viaggiatore cerimonioso & altre prosopopee. Garzanti, Milano 1965 |
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deutsch von Theresia Prammer (vgl. satt.org/italo.log) |
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zitiert nach der Übersetzung von Wilhelm G. Hertz in: D.A., Die Göttliche Komödie, dtv, München 1978 |
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