Antonio Scurati
Das Kind, das vom Ende der Welt träumte
Die Ideologie der Hyper-Täuschung
Kritik
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Antonio Scurati
Das Kind, das vom Ende
der Welt träumte
Roman
Rowohlt Verlag, 2010
352 Seiten, 19.95 Euro
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Im Herbst 2007 bezichtigt ein ehemaliger Zögling des katholischen Priesterseminars von Bergamo dessen honorigen Leiter des sexuellen Übergriffs, zwei weitere Anzeigen sollten folgen. Wenig danach erschüttern auch die nach dem kommunistischen Kinderbuchautor Gianni Rodari benannten Kindergärten und Grundschulen, an denen erstmals bolivianische Kinder die Mehrzahl stellen, Anzeigen gegen zwei Erzieherinnen und eine nigerianische Koordinatorin der Ausländerkinderintegration. Marisa Comi, Gattin eines fabrikreichen notorischen Hurenbocks, wird mit einem von ihr selbst gefilmten Video vorstellig, in dem ihre fünfjährige Tochter die Koordinatorin und den Theologen sexueller Akte beschuldigt.
Und nun füge man statt Bergamo den Namen einer deutschen, österreichischen, irischen oder amerikanischen Stadt ein und stelle sich die „Berichterstattung“ des Trash-Senders und Net-Infotainers einer Wahl vor. Genau so ist es.
Erzählt wird dies von einem damals 38-jährigen, in Neapel geborenen und in Mailand wie Bergamo wohnenden Dozenten und Schriftsteller, der am Institut für fremdsprachige Philologie von Bergamo Theorie und Technik der Fernsehsprache lehrt, regelmäßig Kommentare für die im Fiat-Besitz stehende Tageszeitung „La Stampa“ schreibt und in einer Late-Night-Show des Berlusconi-Senders Canale 5 auftritt. Und nun blättere man zum Klappentext oder stöbere in der allwissenden Netzspinne nach biographischen Angaben zu Antonio Scurati, und man erfährt: Genau so ist es.
Was fasziniert stärker: biographische Parallelen, die Pädophilie-Realität, narrative Fiktion?
Alternierend werden Alpträume und Tage eines (wie der Autor) blonden Siebenjährigen in distanziert dritter Person und die Ereignisse in Bergamo zwischen 2007 und 2008 in reflexiver erster Person geschildert. Der hypersensible Toto ist Schlafwandler, träumt von der Apokalypse, kränkelt ohne krank zu sein und lebt doch ein behütetes Dasein in den von Erdbeben und Terror erschütterten italienischen Siebziger Jahren. Symbolische Quellen seiner Traumata – ein Wort, das das Kind wie ein Jo-Jo benutzt – finden sich in den Reportagen ähnlich präzisen Schilderungen anno 2007 wieder. Der erwachsene Toto lebt seit vier Jahren mehr neben denn mit Martina, beide Repräsentanten (nunmehr klassischer) progressiv- postmaterialistischer Intellektueller ohne die „konkreten Grundwerte des Lebens“, dafür mit allzu mächtiger Kindheitserinnerung, Projektarbeit und skeptizistischer Reflexion. Als sie schwanger wird, fällt ihm bloß „Abtreibung“ aus dem Gourmetmund; sie verlässt ihn, er hechelt hinterher.
Zuvor aber berichtet Marisa Comi just ihm, der gerade halbalphabetisierte, geschichts- und biographielose Studentinnen – die Journalisten in spe – prüft, vom Missbrauchsverdacht. Im Auftrag seiner Zeitung besucht er die Schulversammlung besorgter Eltern, die – angeheizt vom willfährigen Übereifer einer Psychologin – eine Massenhysterie entfachen. Binnen weniger Monate wird aus der hoch industrialisierten, von Mitte-Links regierten trägen Provinzstadt ein atavistischer Hexenkessel, in dem Immigranten als Sündenböcke gejagt, Privatleben der öffentlich fressenden Grille namens Privatfernsehen einverleibt und die Kinder penibel überwacht werden. Italien spaltet sich in Verfechter der satanisch aufgeladenen, nur mittels Heiligem Geist beizukommenden Schuld eines Pädophilennetzes und in solche, die erstere einer „hochexplosiven Massenhalluzination“ zeihen. Anwälte und Journalisten betreiben einen schwungvollen Handel mit Sensationalismus, die Macht der Medien wie der ihnen assoziierten Politik gründet sich auf dem Obszönen und Bergamo wird unter dem sinnfreien Geifer der rassistischen Lega Nord fortan von Mitte-Rechts regiert.
Von Universitätskollegen wird der Erzähler gewarnt: „Das Fernsehen zu nutzen, um es gleichzeitig zu attackieren (…) sei bestenfalls eine fromme Illusion, oder – schlimmstenfalls – eine teuflische List.“ Die Attacken à la Enzensberger, Kluge und Schlingensief mögen listig gewesen sein, doch sie funktionierten nicht. Der TV-Sprachendozent und vermeintliche Protagonist wird in der buchstäblichen „Matrix“ – dem Canale 5-Feigenblatt in Berlusconis Medienimperium – zur verzerrten Wortschimäre im Overkill des Bildschnitts, in der Kollektivphantasie zwischen Faszination und Alptraum alleingelassen.
Antonio Scurati, der von der ersten bis zur letzten Seite den Leser in einem Sog gebannt hält, schildert diese spektakuläre Angstosmose und Kollektivregression voller Zweifel. Sein Duktus ist gespeist aus wissenschaftlichen und journalistischen Diskursen, die brillante Erzähltechnik aus Versatzstücken der pseudorealistischen Television und des fiktiven Krimis. Diese hier konstruierte Welt ist unsere europäische Gesellschaft, deren Spielzeuge (Hunde, Kinder, Autos) und Senioren von illegalisierten Flüchtlingen gepflegt werden und deren aufgetriebener Wohlstandsbauch keine Nahrung mehr findet – außer der Angst. Eine Angst, die sich wie beim von Panikattacken und Depression überspannten Erzähler aus Konflikten und Leiden des ureigenen Strahlungsreaktors namens Kindheit speisen kann, die aber – so Scurati als Vertreter starker Medienwirkungen – von häppchenförmigen Simulakren des Überwachungsfernsehens künstlich übersäuert wird. Eine Angst, die zwanghaft Entladung benötigt – sei es in der teufelsgeilen Heilserweckung inmitten des Wertechaos, sei es in der durch simplen Neid in Gang gesetzten Ideologie der Hypertäuschung. – Denn als solche wird sich der Anschuldigungstornado von Bergamo entlüften, das Gift der Massenpsychose aber wird bleiben. Und uns? Ein intellektuell wie emotional verstörendes, großes Buch.
Antonio Scurati wurde 1969 in Neapel geboren, lehrt als Titulardozent an der Mailänder Freien Universität für Sprachen und Kommunikation und koordiniert das Forschungszentrum für Kriegs- und Gewaltsprachen an der Universität Bergamo. Er arbeitet für diverse italienische Medien, seine Romane wurden u.a. mit dem Premio Mondello und mit dem Premio Campiello ausgezeichnet. Dies ist sein erstes Buch auf Deutsch.
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