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Roberto Cotroneo
Die Jahre aus Blei
Kinder eines Landes ohne Erinnerung
Kritik |
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Roberto Cotroneo
Die Jahre aus Blei
Insel Verlag 2010
297 Seiten, 19,90 Euro
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Die via Mario Fani, im bürgerlichen Viertel Trionfale der italienischen Hauptstadt gelegen, ist eine von blühenden Bäumen und gediegenen Mehrparteienhäusern gesäumte Straße, die in Richtung der Katholischen Universität stark abschüssig gerät. Beschaulich wie in einem Dorf geht es zu, und doch vibriert hier die ambivalente Erinnungspolitik zu den italienischen Siebzigerjahren: An der Ecke zur via Stresa findet sich die 1979 seitens der Stadtgemeinde errichtete Gedenktafel für die am 16. März 1978 erschossenen fünf Leibwächter Aldo Moros, der hier von den Roten Brigaden entführt wurde. Einen Straßenzug weiter rechts steht das 2007 seitens eines privaten Gedenkvereins aufgestellte Mahnmal zu Ehren des Linksradikalen Walter Rossi, der hier rund ein halbes Jahr vor Moros Entführung durch Neofaschisten erschossen wurde. Wird auf der ersten Tafel die „Pflicht“ hoch gehalten, so beruft man sich auf letzter auf „Ideale“.
Ideale, die auch Cristiano Costantini und Giulia Moresco in jenen späten Siebzigern antrieben. Beide, in ihren Schatten aber vor allem ihre Väter, bestreiten den Großteil des analytischen wie hochspannenden Generationen- und Zeitgeschichteromans von Roberto Cotroneo, der 30 Jahre nach Moros Entführung unter dem trefflicheren Titel Il vento dell’odio (dt. Der Wind des Hasses) im Original publiziert wurde. Denn von einem mysteriösen Manuskript, das Cristianos Vater verfasste, und erklärend rahmenden Worten des Erzählers abgesehen, lesen wir alternierend beider Sicht auf die Geschichte aus der Ich-Perspektive. Der Erzähler meint, die laut Polizei anno 2005 bei einem Verkehrsunfall Verunglückten am 4. Juli 2006 in einem römischen Restaurant gesehen zu haben, und schildert die Genese der folgenden Kapitel. Cristianos Schwester übergab ihm eine Aktenmappe, woraufhin er in Europa und Argentinien nachforschte und schlussendlich seinen Bericht in Form dieses Zweistimmen-Romans niederlegte.
Seit 16 Jahren lebt Cristiano Costantini, nunmehr als argentinischer Staatsbürger unter falschem Namen, im Dorf Puerto Pirámides, welches er auch dank eines satten Vermögens obskurer Herkunft kaum verlässt. Sein Vater war einst Soldat in der italo-faschistischen Teilrepublik Salò (1943-45), in den Nachkriegsjahrzehnten war er Geheimdienstberater der Entwickler jener Italien bewusst destabilisierenden „Strategie der Spannung“. Cristiano hingegen wurde zu einer mordenden Galionsfigur des Linksterrorismus zwischen 1975 und 1978, zu lebenslanger Haft verurteilt entzog er sich nach Lateinamerika – dank Vatikan und Geheimdienste auch Zufluchtskontinent für Nazis und Faschisten. Giulia, gleichfalls Römerin, wurde ebenfalls nicht belangt für ihr (unwissentliches) Mitwirken an der Entführung von Aldo Moro, dem Betreiber des historischen Kompromisses zwischen Christdemokraten und Kommunisten. Sie überbrachte von Mailand aus in jenen Jahren Dokumente und Tonbänder im Auftrag eines Professors nach Paris. Diese Vergangenheit ihrem Ehemann eisern verschweigend, arbeitet sie nun als einflussreiche Journa&listin wieder in Rom. Dass man sich beider in den nach wie vor untergründig wirkenden geheimdienstlichen wie terroristischen Organi&sationen wieder erinnert, ist Giulias vermeintlichem Zufallsfund zu verdanken: In der Wand ihrer neuen Wohnung, die sie zu auffällig günstigem Preis dem verschollenen Cristiano abkaufte, war ein Manuskript eingemauert, das diverse Verstrickungen und Novitäten im Fall Moro verrät und das sie an den Sohn des Verfassers über den Umweg Paris nach Argentinien schickt.
Der erzählerische Trick des Autors funktioniert hervorragend: Als Leser vergisst man alsbald, dass die Berichte der beiden ehemaligen Linksmilitanten von einem Erzähler, den Cotroneo wiederum von sich distanziert, verfasst wurden, und wähnt sich in Cristianos und Giulias selbstreflexiven, retrospektiv analytischen Gedankenwelten. Deren Selbstanklagen oszillieren ihrer Gedankenschärfe wegen, gar emotionslos kühl rekurrieren sie auf Movens und Agens ihrer Aufbrüche: Übergroße Vaterfiguren, ausgeblendete und darob weiter brodelnde Kriegsvergangenheiten, einsamer Hass und das Schweigen einer Generation bildeten die Nährböden für ihr Mitwirken am versuchten Umsturz des Staates. Eines schwachen Staates, der in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg und insbesondere in den 1970ern mehr amerikanische Kolonie und Testfeld westlicher wie östlicher Geopolitik-Planspiele denn eigenständige Nation war. Warum Italien auch heute noch keine geeinte Nation ist, erläutert Cotroneo so nebenbei auf brillante Weise, wie er auch die Hintergründe des „Aufstiegs“ religiös statt politisch motivierter Terrorgruppen beleuchtet.
Was eint eigentlich diese Mordbrigaden? Die Auslöschung der Demokratie und die alle verbindende Pariser Schaltzentrale namens Professor Italo, der die Motive schwarzer wie roter Revolutionäre zusammenfasst, denn die „Erfindung der Demokratie war eine kulturelle Diktatur.“ Aus dem Memoirenmanuskript von Cristianos Vater, das dieser just Tage nach dem Fall der Berliner Mauer verfasste, geht schließlich hervor, dass sich die staatliche Implosionsstrategie der Faschisten wie auch Linksterroristen, der Gewohnheitsverbrecher wie auch Mafiosi bediente, um einen Rechtsruck der mächtigsten westlichen Kommunistischen Partei zu bewirken – Cristiano selbst war bloß eine Schachfigur. Wie auch Giulia, deren schweigsam-geheimnisvoller Vater als KGB-Agent gar als Spitze einer internationalen paramilitärischen Geheimorganisation, des linken „Gladio“, agierte. Beide Marionetten fliegen nach Paris, wo die Fäden wie bereits Jahrzehnte zuvor zusammenfallen. Cristiano, der beauftragt wird die neuen Terrorgruppen in Italien auszuspionieren, tötet Prof. Italo, Giulia, die mittels Costantinis Manuskript und Moros Verhörprotokolle implodierende Gegeninformation betreiben soll, verschwinsdet mit ihm.
Utopie, so zeigt Roberto Cotroneo in seinem erhellenden Zeitge&schichteroman, ist hier ein Nicht-Ort, auf den unter der Bürde generationeller Geschichtsverdrängung und staatlicher Machthybris vereinsamte Menschen ihre moralischen Hoffnungen, politischen Kluft&vibra&tionen und sozialen Wunschvorstellungen projizieren. Die Raum&werdung des Romans aber gebiert Gewalt und Gegengewalt – folglich bleibt er Nirgendwo und manifestiert Geschichte.
Roberto Cotroneo wurde 1961 in Alessandria geboren, verantwortete lange das Kulturressort der italienischen Wochen&zeitschrift L’Espresso, lehrte Journalismus an einer römischen Privatuniversität und verfasst Kommentare für die linke Tageszeitung L’Unità . Er hat bis dato neun Bücher veröffentlicht, zuletzt Diese Liebe (2008), für die er zahlreiche Preise erhielt.
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Roland Steiner
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