Die 17-jährige Protagonistin von Thomas Stangls imponierendem Zeitrhizom- Auch Andreas Bichler, ein knapp 15-jähriger Wiener Mittelschüler, erlebt einen solchen letzten Sommer der Wahrheit, Jugend genannt, Ende der 1970er Jahre. Thomas Stangl will sich in dieser Zeitangabe nicht genau festlegen: Mal könnte es 1978 sein, als Atomkraftgegner gegen das nie in Betrieb genommene österreichische Kernkraftwerk demonstrieren, mal 1980, als sich Joy Division -Sänger Ian Curtis erhängt. In seiner „todmüden Überwachheit“ taucht Andreas in Musiken ab, die das staatliche Radio hergibt: von Boomtown Rats' „I don't like Mondays“ über Hard Rock zu Smokies Coverversion von „Needles and pins“. „Walk in silence“ – die Anfangszeilen von „Atmosphere“ (Joy Division) – beschreibt den Lebensgang des mit seiner antisemitischen Großmutter im Gemeindebau zusammenlebenden Waisen ebenso prägnant wie jenen von Emilia. Stangl verflicht das feinporige Empfindungsgefüge beider Hauptfiguren zu mehreren sich en passant verschränkenden Strängen, ohne ihre Art der Sozialisierungsbefreiung, gar fatalistisch, zu parallelisieren. Zwar ist auch Andreas' Ich oft „ein anderer“ und auch er sucht Verstecke in der Phantasie, weshalb er wie Emilia häufig „nicht dort“ ist, „wo er ist“. Doch während Andreas im ersten Jahr nach „Anarchy in the UK“ und Stammheim wünscht, „die Enge soll ihn umschließen“, erlebt die gleichfalls einsame Emilia diese Enge in der herrschenden Ordnung, der Gewalt, diese Ordnung vorzutäuschen. Thomas Stangl hat ihm erzählter Geschichte mediale Diskurse eingemengt, die Ereignisse nahe am Alltag re-generieren: Suizide, Dienstanträge, Zeugnisse bitterer Not neben post-monarchischem Brimborium. Seine Thematisierungen der Hölle des Erwachsenwerdens in diktatorischen wie auch demokratischen Systemen grenzen jene anderer, ungleich tödlicher kollektiver Pein nicht aus, sein machtkritischer Fokus ist dem sprachkritischen inhärent. Mit Emilias durch Geschichtsschichten denkenden Augen sehen wir die Shoa schon in den österreichischen Dreißigern dräuen, mit ihrem hellsichtigen Geist prallen wir vierzig Jahre später auf Andreas' Begehr: „Ein lesbares Zeichen, ein wildes Zeichen soll ihn ersetzen.“ Ihn, den in seiner sexuellen Identität unsicheren, J. G. Ballard wie die Hasskolumnen des Massenindoktrinierungsblattes (Sponsor eingangs zitierter Republiksausstellung) aufsaugenden Sohn zweier verunfallter Eltern – der in sein Schulheft neben den RAF-Stern ein Hakenkreuz zeichnet. Zeichen und Dekonstruktion: Thomas Stangl schloss sein Studium mit einer Arbeit über dekonstruktivistische Literaturtheorie ab, der Diplomarbeitstitel „Lesen, Schreiben, Scheitern“ kann auch auf die Romanfiguren angewandt werden. Sich von außen beobachtend lesen sie in den flirrenden Mehrdeutigkeiten ihres je einzigartigen Sommers, schreiben Unsagbares und scheitern am Kippen ihrer Sehnsüchte in Alpträume. Aber „Geschichte heißt nicht, all das ist aus und vorbei“, sondern „das kommt erst.“ Was kommt: Emilia lernt den 19-jährigen jüdischen Kommunisten Georg kennen, dessen Vater eine Buchhandlung in der Zirkusgasse – ein neben Stangls Vorgängerroman beliebter österreichischer Literaturtopos (Manfred Rumpl, Matthias Mander u.a.) – betreibt, wo sich auch die Synagoge befindet. Georg schart gleichgesinnte junge Widerstandskämpfer gegen Austro- und NS-Faschismus um sich. Sie und Emilia diskutieren halb-legale Stücke von Jury Soyfer und lesen das verbotene „Kapital“, während Emilias Vater das seinige auf Geschäftsreisen mehrt. Ihn, dieses sie mit Schecks abspeisende kalt müde Vaterklischee, besucht Emilia während der Sommerferien in der väterlichen Villa im Salzkammergut. Getrennt von ihrer ersten Liebe, aber mit viel Hitze im Herzen nähert sich Emilia gar ihrer Stiefmutter an, die sie mit dem expressiven Tango-Gesang von Carlos Gardel vertraut macht. Wenige Monate später – Georg ist geflohen, auf der väterlichen Buchhandlung steht die antijüdische Zwangslosung: „Ist in Dachau“ – wird ihr der Vater aus einem dem „Reich“ politisch zugeneigten Argentinien kundtun, dass auch dort kein Bedarf an jüdischen Kommunisten aus Österreich bestünde. (Nach 1945 besteht er umso mehr an NS-Verbrechern.) Emilia wird die Diktatur überleben, anstatt zu studieren in einer Fabrik arbeiten, in der inneren Emigration Gedanken auf Spanisch niederschreiben und diese wie sich selbst verstecken. Als sie 40 ist, schenkt die „kommunistische Frau Dokter“ ihrer Tochter Dora das Leben, der Miterzeuger war bloß „ein Stück Fleisch“. Und während später die weißhaarige Alte – wie in Stangls Roman „Ihre Musik“ – einsam durch Wien streift, wird der mittlerweile delogierte Andreas Bichler die Wunden von Autoaggression und Psychosen am Leibe tragen, aufgegangen in seinen „Höhlungen“, ohne ein „Denken, das Gespenster vertreibt und die Welt aufklärt.“ Thomas Stangl hat einen ungemein beglückenden Roman als Netz aus Licht, Beziehungen und Geschichte verfasst, der überreichliche Momente gedanklicher Hellsichtigkeit und bisweilen gespenstischer Körperlichkeitssensationen atmet. Sein zwischen verschlungener Prospektion und Introspektion changierendes Buch lebt von einer trotz Gliedsentenzkaskaden hochpräzisen Sprache voller Satzperlen und wiederkehrender Bilder, seinen inneren Symmetrien, Kontinuitäten und Brüchen. Neben vielen an Marktblasen geschulten Verlegern und Handwerksadepten erklärten Daniel Kehlmann und Thomas Glavinic zur Jahrtausendwende die Dekonstruktion des Erzählens für passé. Dank der Bücher von Thomas Stangl – oder Andrea Winkler – aber fasst man wieder Vertrauen in eine Literatur, die mehr will als erzählen, in eine Literatur, die bleibt.
|
Roland Steiner
Prosa
Lyrik
Gespräch
Portrait
|