Mit einer derartigen sensorischen Begabung – und Belastung – ist die namenlose Icherzählerin ausgestattet, als sie mit ihrem Freund Fabian („mein Mann“) eine gemeinsame Bleibe bezieht. Die Miete und Überlebenskäufe sichert dessen großmütterliches Erbe pünktlich zur Reifeprüfung. Jenes seiner Eltern hingegen schlägt der Anti-Karrierist zugunsten der Praxisumsetzung seiner Darmträgheit bemühenden Theorie ab. Ihre nachschulischen Zukunftspläne – „Leben und atmen“ – versuchte sie erst übers Kellnern zu verwirklichen, ihre Bindungsangst durch siebenfachen WG-Verschleiß loszuwerden; nun wird vereint geatmet. Die gemeinsame Wohnung im Züricher Sechs-Parteien-Mietshaus wählten sie des Hofgartens wegen, der allzu nahen U-Bahn, Karaoke-Bar und des E-Werks wurden sie erst nach Bezug gewahr. Wie auch der Bewohner, als da wären: Die Post-it-Zettel als Mahnung zur fetischisierten Stille verteilende Lehrerin, gnadenlos – wir schreiben 1994 – „Sisters of Mercy“ abnudelnde Studenten, die weinschwer Schneckenhäuser malende Kinderärztin Conny und der amerikanische Cellist Jeff. Zentral für beider Zukunft und die Dramatik in Schwitters nuanciertem Roman werden das in einer von Pflanzen wie „Sauersack“ und „Geigenfeige“ bevölkerten Tropenwohnung hausende Paar Agnes und Gerd. Während der Bierbauchbiker Computer repariert und sich mit Thrash Metal zudröhnt, stillt die barfüßige „Miss World der Liebenswürdigkeit“ ihre Begierden mit kamerunischer Volksmusik und Psychopharmaka. Dass nicht ausgelebte Begierden Entzweiung und Projektionen erzeugen, macht Schwitter – mehr atmosphärisch als explizit – am jüngsten Paar fest. Während Fabian nur noch fernsieht oder sich auswärts betrinkt, schluckt die Erzählerin analgetische Seelenkeulen und badet in Pornostarfantasien. Das Muster, welches gerade sie vermeiden wollten, holt sie (wie so viele) ein: ihre Adoleszenzliebe vergreist früh. Während ihr Feingehör in leicht paranoide Vorstellungsbilder von Jeffs Geheimnis und Agnes' Beziehung zu Conny umschlägt, steigt Fabian auf Speed um. Schwitters Wende von der lakonischen auf eine emotionalere Erzählweise kündigt die Zerreißprobe der innerhäuslichen Verstrickungen an: In der Silvesternacht wird Agnes zu Tode getrampelt. Nach Gerd wird gefahndet, Fabian verlässt die Stadt, Jeff geht nach Boston zurück, Conny betritt das Haus ihrer Liebe nie wieder… und Schwitter schaltet auf fast forward. Der zweite Teil des Romans ist eine von 1996 bis 2008 reichende Suche ihrer Protagonistin nach der Wahrheit über Agnes' Tod sowie nach ihrer eigenen Identität und Verwurzelung, kurz: der Erfüllung ihrer einstigen Lebenshoffnungen. Denn „die Straße ist eben, und man kann von zwei Seiten kommen“, stellt sie fest. Mit dem Wechsel der Erzählperspektive hin zu einer distanzierten, der Ausweitung der Schauplätze bis nach Kamerun und pointierten, gleichwohl ruhigen Episoden unterstreicht die Autorin den Ausstieg aus der Kapsel. Nachdem die Protagonistin endlich laut – und herzerweichender als Bill Murrays „Lost in translation“-Karaoke – „Ich bau für uns ein Nest, wo sich's leben lässt“ gesungen hat, zieht sie nach Berlin. Just ein in Taubheit spezialisierter Facharzt wird ihr ein froheres Silvester 2007/8 bescheren. „Ich habe Agnes überlebt“, resümiert eine der empathischsten Romanheldinnen jüngeren Datums. Monique Schwitter ist ihrem Romanensemble zärtlich nahe und geht deren seelischen Deformationen entsprechend sehr behutsam vor im Beziehungsknüpfen. Indem sie in ihren lakonischen Duktus dramatische und Folgen zeitigende Sequenzen einflicht, setzt sie im Leser ihres feinsinnigen Vademecums angewandter Lebenskunst einen Prozess in Gang: aus Anteilnahme wird Eingenommensein, aus Mitleben ein banges Hoffen und Weiterspinnen – denn „jede Geschichte verlangt nach anderen Geschichten.“
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Roland Steiner
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