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Emmanuelle Pagano
Bübische Hände
Schweigen im Walde
Kritik |
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Emmanuelle Pagano
Bübische Hände
Übersetzung: Nathalie Mälzer-Semlinger
Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2011
144 Seiten, 16,90 Euro
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Emmanuelle Paganos Schreiben kreist stets um außergewöhnliche Mutter-Kind- bzw. Frau-Gesellschaft-Beziehungen, die in beschaulichen Dörfern inmitten der relativ unberührten Natur Südfrankreichs angesiedelt sind. Waren es im Roman „Die Haarschublade“ (Wagenbach, 2009) die Schwierigkeiten einer anfangs minderjährigen Frau mit ihrem behindertem Sohn, so schilderte die Autorin in „Der Tag war blau“ (Wagenbach, 2008) das Leben einer Transgender-Persönlichkeit, die nach ihrer operativen Umwandlung zur Frau als Schulbusfahrerin erst noch unentdeckt in ihrem Heimatdorf arbeitet. Nun, im aktuellen Roman, der ebenso schmalen Umfangs wie ausgedehnter Erzählmacht ist, nimmt sie sich des allgemeinen Schweigens um kindlich-sexuelle Übergriffe an – auf leise Art und Weise und von Nathalie Mälzer-Semlinger abermals kongenial auf Deutsch übersetzt.
Diesem vertuschten Skandalon nähern sich – in der Auflösung der Ereignisse erzählchronologisch präziser werdend – vier weibliche Ich-Erzählstimmen ohne Namen rund dreißig Jahre danach an: die 40-jährige Gattin des regional größten Winzers, die 60-jährige Mutter der lokalen Maronenzüchter, deren zehnjährige Enkelin und eine 80-jährige Grundschullehrerin in Ruhestand. Ihnen gemein sind Probleme mit dem Gehör – denn, soviel sei vorweggenommen, sie sind bis auf einen Mann die einzigen Dorfbewohner, die hellhörig waren und sind – und daraus resultierende synästhetische Erfahrungen. Symbolische Aufladungen wie diese sind typisch für Paganos Erzählweise.
Die Winzergattin bewohnt das 80 Hektar große Gut La Pierre Mauve und ist nach der Heirat dazu verdonnert, Standesattitüden zu wahren und als einzige Lebensaufgabe das Personal zu kontrollieren. Von einem seltsamen Tier geplagt, das in ihrem Ohr nistet, freundet sie sich mit ihrer Putzfrau Emma an, die selbstverfasste bildstark sexualisierte Gedichte ihr zu lesen gibt. Letztere ist es auch, die ein Treffen der einstigen Mitschüler der 5. Klasse 1979/80 im Winzerhaus vorschlug – das Motiv wird erst über die älteren beiden Erzählerinnen herangeführt. Während sie von „bübischen Händen“ (17) liest, die offenbar vor langer Zeit in die Putzfrau drangen, imaginiert sie das Stelldichein einstiger Mitschülerinnen, die nun als Vollberufsmütter bloggen und „Träume wie Einkaufslisten“ (33) aufbringen. Für Abwechslung könnte bloß der im Dorf (nicht ohne Grund) angefeindete Kastanienzüchter Claude, die (nicht ohne Grund) einzige männliche Person im Roman mit Namen, sorgen.
Dessen Mutter bewohnt mit ihm, seinem älteren Bruder, dessen Frau und Tochter das Gehöft La Penibe, genauer gesagt, das Geschoss unter dem Dachboden, in dem ein Ziesel ihr Hörproblem und damit Gleichgewichtsstörungen verursacht. Dechiffriert man Paganos Metaphorik, resultieren die inneren Schwankungen der Rentnerin aus ihrem Schuldgefühl, über die damaligen Ereignisse geschwiegen zu haben. Ereignisse, in die ihre Söhne und Schwiegertochter zu unterschiedlichen Graden involviert waren und deren Leidensprotagonistin Emma darstellte, mit deren Mutter die Rentnerin befreundet war. Viele Bilder, die nun skizziert werden – etwa Dornen in und aus einer Vagina, Nähte, stachelige Maronen, Seidenraupen –, finden sich auch im lyrischen Notizheft des Opfers: nicht verwunderlich, denn das Dorf ist klein und die Traumata sind groß. Emmas Mutter gebar innert einer damaligen Kommune 12 Kinder und webte Tücher aus Seide, ehe sich die Hippiesippe auflöste; der Rentnerin entfernte man nach Claudes Geburt Teile der Klitoris und machte ihr „die Gattennaht, die Verjüngungsnaht“ (49), die mit dem beschädigten Jungfernhäutchen des Opfers korrespondiert. Und der Kastanienzüchter Claude schließlich war der einzige Junge gewesen, der sich an jenen Übergriffen nicht beteiligt hatte. Nicht zuletzt deswegen gerät er, der Emma rächen wollte, zum als schwul bzw. pikanterweise gar pädophil diffamierten Dorfaußenseiter – und gerade deswegen benamst ihn Pagano.
Denn sonst hält sich die Autorin zurück mit expliziter Zeichnung sowohl der Erzählerinnen, als auch der Missbrauchsschuldigen wie -taten. Es geht ihr nicht um eine Deutung der Gräueltaten, sondern um die sozialpsychologischen Muster hinter dem Schweigen, kraft derer sich ein Sozialwesen um eine Lüge zusammenschweißt und das Opfer umso stärker erdrückt. Wie ist es möglich zu vertuschen, dass ein zehnjähriges Mädchen ein ganzes Jahr lang im Schultreppenhaus von Klassenkollegen und Schulfremden manuell penetriert werden kann, wie konnte es sein, dass die gleichaltrigen Mädchen bloß spöttisch lachten und selbst die beobachtende Lehrerin schwieg? Durch Normalisierung bis Idyllisierung des zwischenmenschlichen Alltags, durch Sublimierung der Triebkräfte in Profitgier und Scheinmonstranzen – bis der unabgesprochene Drang eines Kollektivs über den Einzelnen wieder ausbricht.
Brüchig wird eine Sozialbiographie vor allem im Alter: Nicht umsonst schildert die ehemalige Grundschullehrerin trotz ihres Alters und Tinnitus die Untaten am genauesten. Beinahe täglich mit der Zärtlichkeit der nebenberuflich als Altersheimpflegerin tätigen Emma konfrontiert, entwickelt sie aus Schuldgefühlen so etwas wie späte Empathie für das Opfer, das eine „Gefangene einer Schale aus täglicher Angst und Kummer, aus Einsamkeit“ (93) geworden ist. Von einem weiteren möglichen Opfer kann sie nichts ahnen. Doch wie Emma fehlen auch der zehnjährigen Nichte von Claude, der ihr von den Übergriffen und der Zermürbung der Familie über diesem „non-dit“ erzählte, die Worte, die „die Fäden für das Vernähen der Wunden ersetzen“ (122) könnten; ihrer Wunden, erlitten durch einen Bruch im Eierstock. Das Mädchen, nun ebenfalls in der 5. Klasse, geleitet den Leser durch das leicht phantastische Ende, den Klassenempfang im Winzerhaus, an dem Emma die Kleine vor ähnlichen Missetaten warnt und eine Wolleulen-Raupe aus dem Ohr der Hausherrin operiert …
Emmanuelle Pagano berührt in ihrem Roman das Unerträgliche, trägt es mit seelisch-sinnlicher Nachvollziehbarkeit ans Licht. Ihre glasklare und doch in jeder Sentenz poetisch zarte Sprache konterkariert die Gräuel dabei nicht, ihre in die kleinregionale Natur eingepassten impressionistischen und statischen Bilder von Individuumszuständen berühren gerade wegen ihrer dynamischen Wechselbeziehung. Eine explizite Psychogrammatik ist bei ihr nicht zu finden, doch sitzt und besticht in Paganos Prosa jedes einzelne Wort, um die Bedingungen, Konflikte und Nöte der menschlichen Existenz einfühlen zu lassen: im buchstäblichen Wortsinne eine Sensation.
Emmanuelle Pagano wurde 1969 im französischen Département Aveyron geboren und studierte Filmwissenschaft und Filmästhetik. Sie lebt im Süden Frankreichs, ist Mutter dreier Kinder und unterrichtete Bildende Kunst. Sie hat bis dato fünf Romane publiziert, von denen dieser der dritte auf Deutsch erschienene ist. Zuletzt wurde sie mit dem Europäischen Literaturpreis 2009 ausgezeichnet.
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