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Giorgio Vasta
Die Glasfresser

Liebe im Alphastumm
  Kritik
  Giorgio Vasta
Die Glasfresser
Deutsche Verlags-Anstalt, München 2011
320 Seiten, 19,99 Euro


Es nimmt nicht Wunder, dass 2008 zumindest zwei italienische Romane erschie­nen, die auf die Ermordung Aldo Moros durch die Roten Brigaden anno 1978 rekur­rieren. Die „bleiernen Jahre“ mit jenem Kulmi­nations­punkt, der mit dem möglichen histo­rischen Kompro­miss zwischen der rechts­bürgerlichen Democrazia Cristiana und dem Partito Comunista Italiano Schluss machte, lasten noch immer auf der italieni­schen Gesellschaft, da sie deren diskursiv breite Auf­arbeitung scheute. Das fehlende Geschichts­bewusst­sein heutiger Wähler­schaften ermöglicht derart gar einen neuen historischen Kompromiss, welcher in Italien derzeit zumindest angedacht wird: die partei­liche Koope­ration zwischen dem gleicher­maßen smarten wie machtgierigen Post­faschisten Gianfranco Fini und dem links­demo­krati­schen Ex-Bürger­meister Roms, Francesco Rutelli. In einer solchen Jetztzeit spielt Roberto Cotroneos im Original ebenso vor zwei Jahren publizierter Roman „Die Jahre aus Blei“, während Giorgio Vasta seinen auf Italienisch mit „Il tempo mate­riale“ trefflicher betitelten Roman im Jahr 1978 ansiedelt. Dem Jahr, in dem Desil­lusio­nierung wie Angst­lähmung den Rückzug ins Private vor­berei­teten, Berlusconis illegale TV-Sender dominant wurden und staatliche Repression bzw. eine ominöse Heroin­welle viele links­politische Aktivisten hinwegraffte.

Der elfjährige Ich-Erzähler wohnt in Palermo, wo er die Mittelschule besucht, zusammen mit seiner ihn zum Phobiker und Fantasten erziehenden Mutter („die Schnur“ genannt), seinem bibel­gläubigen und doch immer verzwei­felten Vater („der Stein“) und seinem sieben­jährigen quasi-autistischen Bruder („der Lappen“); sich selbst nennt der atheistische Wortfanatiker „Nimbus“. Er hasst das „schöne halb analphabetische Italien“, dessen ironische Ader und dessen Dialekte, rezipiert eifrig politische Nach­richten, ist getrieben von einer Lustangst vor Tetanus und anderen Infektions­krank­heiten, fasziniert von Tieren die er quält und verliebt in seine kreolische Schulkollegin Wimbow, der er zur imaginierten Hochzeit ein Stück Stachel­draht schenkt. Wie er sind auch seine Freunde Dario Scarmiglia und Massimo Bocca Außenseiter, mit ihnen bespricht er Politik und radikale Kritik in einer Diktion, die jener schrift­lichen der Roten Brigaden ähnelt: ordnend wie simpli­fizierend, schwarz-weiß, dogmatisch und phallisch techno­kratisch. Die mytho­logisch-poeti­sche Sprache, die der Autor seinem Helden in den Mund legt, ist ebenso inadäquat – was in anderen Romanen als Alt­klugheit stört, fasziniert ob der größt­möglichen Diskre­panz in diesem. Wie ein links­ideolo­gisch und sozio­logisch geschulter Analy­tiker beobachtet das verwach­sene Kind eine von Egoismus getriebene und in mediale Unter­haltung einge­lullte Gesell­schaft im Nieder­gang, tief fährt er mit seinem kalten Blick in Mensch und Getier, deren Moleküle und Physiog­nomie. Dennoch ist auch er, der den Lebens­kampf der Deklas­sierten mit jenem der kranken Stadt­tiere ver­sinn­bildlicht, von Ambi­valenz geprägt: Die „anderen sind die Infektion, die ich zurück­weise, die mir fehlt.“ Als Mitte März 1978 der christ­demokra­tische Befür­worter der Histo­rischen Kompro­misses Aldo Moro entführt wird, saugen die drei Jungen die Kommuniques der Roten Brigaden auf wie Gleich­altrige ihre Comics, besprechen deren Kampf wie auch Körper­lichkeit und beschließen inmitten der sich breit machenden (bald institu­tionali­sierten) Ent­rüstung und Angst, eine Brigaden­zelle zu formieren. Sie rasieren sich die Köpfe, um unkennt­lich zu werden, trainieren ihre Körper und Kollektividentität und geben sich Kampfnamen: aus Dario wird „Genosse Flug“, der Gewalt­phantasien spinnende Ideologe, aus Massimo „Genosse Strahl“ und der Erzähler wird zum „Nimbus“.

Giorgio Vasta, der sich die Freiheit genommen hatte temporale Fakten der Erzähldramaturgie anzupassen, macht an keiner Stelle seines Romans den Fehler, die Kinder zu Monstern zu schreiben, ihren Eigensinn lässt er auch im altersüblich Alltäg­lichen aufblitzen. So spielt Nimbus wie andere Jungen Fußball und verbringt die Sommerferienwochen am Meer, im nahe Palermo gelegenen Mondello. An dieser Stelle lässt der Autor seine Vorliebe für Comics einfließen: Ganz wie die Situationisten in den Fünfziger und Sechziger Jahren betreiben die Jungen eine Art Zweck­entfremdung populär­kultureller Sujets um sie mit neuen Inhalten zu füllen, entwenden den Plattencovers von Celentano & Co. sowie TV-Sendungen Figuren für ihr alternatives, stummes Alphabet, das „Alphastumm“, welches Vasta mit Zeichnungen illustriert. Es wird ihnen zu einer wortlosen Kommuni­kation dienen, mittels derer sie einander warnen können. Das Schweigen in Nimbus' Familie hingegen lässt den Jungen empfäng­lich werden für halluzinierte Gespräche mit Tauben, Bienen und weiteres Kleingetier. Der Schrecken beginnt sich in Existenz zu verwandeln, einzig seine unaus­gesprochene Liebe zur nach Italien adoptierten taub­stummen Kreolin haftet ihn an die mitteil­bare Realität. Im selbst erschaf­fenen Kampf­universum aber gehen die drei Jungen im Wunsch nach Präsenz zur Tat über: Sie erkunden systematisch die Gegend, beschatten potentielle Opfer, zünden Schul­mobiliar an und hinterlassen, ganz im Stil ihrer ebenso blinden Idole, Botschaften ihrer viralen Mikro­zelle, dem Nucleo Osceno Italiano (NOI). Ein größerer Brand­anschlag bringt ihr in der Phraseologie der Brigate Rosse verfasstes Kommunique tatsächlich in die Zeitung: „Die einzige glaubwürdige Avantgarde in Palermo ist jetzt die der Schüler der Mittel­schulen.“ Ihre Hass­objekte symbolisieren sie mit Puppen, doch bereits ein Anschlag auf das Auto des Schuldirektors kostet vier Verletzte. Nimbus' Reaktion? „Man verwandelt sich vom Subjekt zum Objekt, existiert in der Wahrnehmung der anderen. Das mag als Missbrauch erscheinen, als eine Form der Mani­pulation, doch es ist eine Lust.“

Ähnlich abgehoben vom Sozialen und verstrickt in einen mit Kälte immuni­sierten Hass argumen­tierten auch die realen Terroristen. Doch Vasta zeigt auch das Brodeln unter diesem Ideenkerker, den begin­nenden Widerwillen und das in Schlaflosigkeit manifestierte Zaudern seines Prota­gonisten. Dennoch: Der NOI entführt einen retar­dierten, schweigsamen und schwachen Klassen­kollegen, der in seinem Keller­versteck mit subtiler Körpergewalt eine Woche lang gefoltert wird, bis er stirbt. Flug, die Inkarnation der menschen­verach­tenden Ideologie, geht in den Untergrund, nach ein paar Tagen in denen er offiziell selbst als Opfer gilt teilt er seinen Kameraden den Ent­schluss mit, Wimbow an Nimbus' Geburtstag vor dessen Haustür zu entführen. – Doch im „Alphastumm“ gibt es keine Stellung die „Liebe“ heißt, welche der wieder ver­menschlich­te Erzähler empfindet und die ihn zum Verrat an seinen Genossen verleitet. „Und erst jetzt, da im Werden unserer Nacht die Sterne im Dunkel explodieren, beginnt am Ende der Worte das Weinen.“

Giorgio Vasta spielt in seinem Romandebüt konkrete Zeitge­schichte – das Italien in der Geiselhaft staatlich konstruierter Spannung mit dem Ziel einer Rechtsdiktatur einerseits und terroristischer Misanthropie anderer­seits – über eine Dystopie alternativen Heran­wachsens. Ganz im Unter­schied zu anderen Prosawerken zum linken Gewaltpol ist seine Erzähl­haltung weder eine urtei­lende noch schwärme­rische, sondern konjunktivisch abstrakt. Er dekli­niert die Fragen durch, wie aus diffuser Angst eine Gier nach Herrschaft entstehen kann und wie weit das Egoismus-Postulat einer entsoli­dari­sierten Gesell­schaft reichen könnte. Die Devastierung der Kommu­nikation und Werte zeigt er in alle­gorischen Bildern, die Verhärtung empha­tischer Gefühle in kühl philo­sophischen Sprach­medita­tionen. Vasta schreibt metal­lisch und düster, seine Meta­physik ist ethisch grundiert, sein ange­wandter Sur­realis­mus kein spielerischer. „Die Glasfresser“ ist eine beklemmende, verstörende Machtparabel und ein grandioses Exempel dafür, dass Italien auch ironiefreie Abstraktionskünstler hervorbringt.

Giorgio Vasta, 1970 in Palermo geboren, arbeitet als Verlagslektor, Lehrer für Creative Writing und Anthologien­herausgeber in Turin. Sein im Original 2008 publizierter Debütroman „Die Glas­fresser“, dessen Über­setzungs­rechte in sechs Länder verkauft worden sind, wurde für den Premio Strega nominiert, das Times Literary Supplement bezeichnete ihn als einen der „bedeutendsten italienischen Romane der vergangenen zehn Jahre“.


Roland Steiner  12.01.2011   

 

 
Roland Steiner
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