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Salvatore Niffoi
Die barfüßige Witwe
Archaische Glut des Lebens
Kritik |
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Salvatore Niffoi
Die barfüßige Witwe
Roman
Paul Zsolnay Verlag, Wien 2011
202 Seiten, 18,90 Euro
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Es sei vorweggenommen: Dieser Roman beglückt in jeglicher Hinsicht, ob in Thematik, Erzählkonstruktion, Stil oder Sprache, auch ist die Übersetzung schlichtweg als grandios zu bezeichnen. Bereits in seinem bisher einzigen auf Deutsch übersetzten Roman „Die Legende von Redenta Tiria“ (2007) wurde die soziale Eigengesetzlichkeit des sardischen Lebens – drastischer noch als in Michela Murgias atmosphärisch ähnlichem Roman „Accabadora“ (Wagenbach, 2010) – eindrucksvoll dargebracht. Im aktuellen Buch spannt sich das Inselportrait vom Beginn des 20. Jahrhunderts bis zu den 1980er Jahren, ehe Berlusconi Teile der Küsten kommerzialisierte und pornographisierte.
Einen Teil des Archaismus macht bereits das Sardische selbst aus, ist es doch jene Minderheitensprache Italiens, welche – neben spanischen Einflüssen – noch die stärksten Relikte aus dem Lateinischen aufweist. Auch daher war es eine kluge Entscheidung, die expressiven Dialoge und Einschübe von Deskriptionen verstärkenden Lautmalereien – Niffois Besonderheiten – im Original zu belassen und ihnen Übersetzungen nebst Glossar zur Seite zu stellen. Diese Originalsequenzen und des Autors expressionistisch kontrastharter Duktus sowie seine äußerst bild- und metaphernreiche Sprache machen den Sog des Romans aus, die Spannung wird durch ein bereits in den ersten Sätzen geschildertes, schockierendes Ereignis erzeugt: Mintonia Savuccu wäscht den abgeschlachteten Leichnam ihres Mannes Micheddu. Von den 20 Kapiteln gehören zwei Itriedda Murisca, die restlichen ihrer Tante Mintonia. Der Kniff dabei: 17 Kapitel entstammen im Originalton dem Heft Mintonias, die es Mitte der Achtziger Jahre kurz vor ihrem Tod aus Capo San Diego, Argentinien, ihrer es nun lesenden Nichte schickte – aus dem Leser wird also ein Mitleser. Dieses autobiographische, ein Leben zwischen zwei Weltkriegen schildernde Notizbuch verfasste Mintonia rund fünf Jahrzehnte zuvor, als sie von ihrem Racheopfer schwanger auf ihre Überfahrt ins argentinische Exil wartete. Die Flucht war notwendig geworden, da sie den Mord an ihrem Mann vergalt.
1915 im Dorf Laranei der Provinz Noroddile als eines von elf Kindern einer bettelarmen Bauern- und Tagelöhnerfamilie geboren, durchlebt Mintonia ihre Kindheit in einem Haus mit kaputtem Dach und Stall im Erdgeschoß. Die Kinder essen Pferdeeppich, Affodill, Klatschmohn und Lattich, rauchen Clematis-Stengel und ziehen Nattern die Haut ab, gegen den Hunger trinken die Erwachsenen illegal erzeugten Branntwein. Mintonia, die frechste und stärkste Tochter von Naredda und Baglione, bringt sich als einzige in der Verwandtschaft Lesen und Schreiben bei und lernt gar das verpönte, weil sich nur für Reiche geziemende Italienisch. Bereits mit zehn Jahren vergöttert und küsst sie den drei Jahre älteren, bärenstarken Micheddu aus dem Nachbardorf Taculè, der kurze Zeit später erstmals verhaftet wird, da er Mussolini verhöhnte. Nach der Absolvierung der sechsten Grundschulklasse, was hierorts einem Universitätsabschluss gleichkommt, soll das Mädchen – um es von Micheddu loszueisen – in ein Klosterinternat geschickt werden, doch zieht es zu ihrem Verlobten, der sich mit einer Schafsherde selbständig machte, auf dessen Erbhof in Taculè. Hier glauben die Menschen an einen mit Naturmythen angereicherten Katholizismus und haben mit 20 Jahren bereits all ihre Emotionen aufgebraucht, während das junge Paar sowohl die Kirche als auch Staatsmacht verabscheut und offen in Gefühlen schwelgt. Der kriegsversehrte Anarchist Imbece hilft Mintonia erwachsen zu werden, sie ihm wiederum, jung zu bleiben. Als er 1935 ob seines Alkohol- und Tabakmissbrauchs stirbt, vermacht er ihr 500 Bücher von Balzac, Zola, Tolstoi, Grazia Deledda etc., woraufhin sie umso mehr liest und schreibt. Im selben Jahr heiratet das Paar, doch bereits wenige Monate hernach muss Micheddu, dem die Faschisten zwei Überfälle und den Mord am Bürgermeister anhängen wollen, fliehen. Ihren Sohn Daliu zeugen sie bereits in einem Versteck, seinen Vater wird er niemals kennen lernen, denn Micheddus Leben als untergetauchter Rebell wird bis zu seiner Ermordung 1938 dauern.
„Die Moderne wird als Krankheit betrachtet“ (155), konstatiert Mintonia, deren geerbte Bibliothek die Miliz verbrennt, während – wie bereits in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg – viele Dorfbewohner nach Australien, Argentinien oder Frankreich emigrieren. Niffoi zeigt sehr deutlich, dass sich das Beharren auf Eigenständigkeit von sturer Rückständigkeit und Geistesfeindlichkeit unterscheidet, regionalgesellschaftliches Gruppenbewusstsein von folkloristischem Provinzialismus: „Man bräuchte für jeden von uns eine Enzyklopädie, denn wir sind merkwürdige Menschen in einem merkwürdigen Land.“ (110) Egalisierende (und gleichzeitig elimisnierende) Regime haben in solchen Regionen, die im Spannungsfeld zwischen Inklusion und Exklusion gewachsen sind, nur soziale Oberflächen begradigen, die hier auch emotional archaische Mentalität jedoch nicht einebnen können. Itriedda Murisca, uneheliche Tochter von Mintonias Bruder Pascale und der Matratzennäherin Martina, stellt denn auch 1985, nach der Lektüre des Heftes ihrer Tante samt deren Blutrachegeständnis, fest, dass sich in den letzten Jahrzehnten in Laranei und Taculè nichts geändert hat: Man heiratet wegen Weideland und Vieh, Geld und Häusern, die Sitten und Gebräuche haben sich erhalten, Gefühle ohne Schmerzen sind hier fade.
Salvatore Niffois expressiver Postnaturalismus konserviert Traditionen, ohne sie gegen Fortschritt und Veränderungen abzuschließen. Seine Meisterschaft liegt in der Empathie aufseiten der Menschen wie auch der Natur und deren Wechselwirkungen – in einem Regionalismus im besten Sinne, wie ihn Cesare Pavese oder William Faulkner beherrschten.
Salvatore Niffoi wurde 1950 in Orani, Sardinien, geboren, wo er nach Jahrzehnten als Lehrer heute als freier Schriftsteller lebt. Nachdem er seine ersten fünf Romane bei italienischen Kleinverlagen publiziert hatte, wechselte er mit „Die Legende von Redenta Tiria“ (2005, dt. 2007) zum renommierten Verlagshaus Adelphi. Für „Die barfüßige Witwe“ wurde er 2006 mit dem Premio Campiello ausgezeichnet, seither erschienen weitere sechs Bücher.
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