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Milena Magnani
Der gerettete Zirkus
Phantasie versus Peripherie
Kritik |
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Milena Magnani
Der gerettete Zirkus
Edition Nautilus 2010
192 Seiten, 18,90 Euro
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Er darbte in der Peripherie der Peripherie, an den gepanzerten Flanken des Wohlstandsbauchs einer globalisierten Euro-Stadt, nun geht sein junges Leben zu Ende: Branko, Fremder unter Fremden, Ungar unter Rumänen, Bulgaren, Kosovaren, Türken, Bosniern, fernab der Italiener; Branko, der tote Roma, inmitten einer abgestumpften weil von außen getöteten Kultur – die Rassenfetischisten verteufelten ihr Nomadentum, und die Nationalsozialisten schließlich stoppten dieses und vergasten Roma und Sinti. Und die Zirkusse, die in den Nachkriegsjahrzehnten noch vereinzelt in westlichen Städten gastierten? Verschwunden, auch sie. Die Gesellschaft des Spektakels war ihrer überdrüssig geworden, das Fernsehen wurde der Kinder neues Zauberreich.
Die engagierte Journalistin, Sozialaktivistin und Autorin Milena Magnani hat sich in ihrem dritten Roman diesem Phänomen angenommen. Ausgangspunkt waren Recherchen knapp vor der Jahrtausendwende in italienischen Camps, in denen Jugoslawienflüchtlinge auf Roma anderer Länder trafen: ein friktionsreiches, auch linguistisches Babylon. Im vorliegenden Roman, den sie zeitlich in die erste Dekade des 21. Jahrhunderts einbettet, löst sie dieses Sprachengemisch, indem sie eine gemeinsame Sprache annimmt – eher Romani denn Italienisch – und Ausdrücke jeweiliger Nationalsprache unübersetzt einflicht. (Ein Glossar wäre durchaus hilfreich wie interessant gewesen.)
Branko Hrabal also stirbt mit rund 30 Jahren gleich zu Beginn des Romans, mit sieben Messerstichen dahingemetzelt im Roma-Camp zwischen Fabrikruinen, Abwasserkanälen und Autobahnring. Seine Erzählstimme behält er jedoch: Sie schildert einerseits, wie er aufgefunden, behördlich registriert, von Lokalreportern inszeniert, in einem Sarg fortgeführt und schlussendlich doch nach Roma-Art zeremoniell bestattet wird. Andererseits, und dies macht den anrührenden Roman aus, erinnert er seine Ahnen und den Zirkus – und die Aufnahme im Lager. Dieser Elendstrabant, auf den Einheimische von der Autobahn aus schießen, besteht aus Pappbaracken, Blechcontainern, Wohnwägen und Zelten, chemischen Toiletten und Schlamm. Inmitten der trunksüchtigen Erwachsenen, die mit Glück für eine Papierfabrik schwarzarbeiten, dealenden Jugendlichen und Rosen verkaufenden Kindern geistern Füchse umher. Man ist überzeugt, bloß temporär hier zu weilen, dennoch wurden bereits heutige Jugendliche hier geboren. Askan, ein von Serben gefolterter Bosnier, ist der ungekrönte, tyrannische Lagerkönig. Dem nächtens ankommenden Ungarn Branko befiehlt er sogleich, die auf seinem Laster mitgebrachten Zirkuskisten samt Fahrzeug loszuwerden. Man begegnet ihm feindselig, einzig die Kinder fressen buchstäblich einen Narren an ihm. Sie verstecken seine mit Kostümen und Artistenutensilien gefüllten Kisten für ihn in der Ruine, er selbst stiehlt Essen im Supermarkt und bettelt an Straßenampeln. Ein Außenseiter unter Außenseitern.
Was hat sich da über zwei Generationen geändert? War sein Großvater noch Seiltänzer gewesen, der in den 1920ern regionale Artisten zu einem Zirkus scharte, dessen Zelt er selbst nähte, und wirkte sein Vater bereits als ungarischer Finanzbeamter, so schmiss Branko die Schule und arbeitete als Gerüstbauer. Was also hat sich warum geändert? Als Leser ahnt man das, was der Ungar den Holocaust unkundigen Campkindern Teil für Teil erzählt: Der stolze Leiter des Kék Circusz hatte erst noch den Rassisten Paroli geboten, wurde dann aber mit allen Zirkusleuten von seinem einstigen Kompagnon Laszlo verraten. Ehe sie ins KZ Birkenau deportiert wurden, bat er allfällig Überlebende um Rache – seinem Sohn wurde das Glück zuteil. Von russischen Soldaten in ein Waisenheim transferiert, beschloss Sandor, alles Erlebte ungeschehen zu machen und leugnete Kultur wie Sprache seines Volkes. So erfuhr Branko, erst als der Vater angesichts seines am Baugerüst akrobatisch schwingenden Sohnes retraumatisiert wird, von der Familiengeschichte, mit dem Resultat, dass Branko Verlobte und Beruf aufgab, den Zirkus rettete und Laszlo tötete.
Magnani begeht auch an diesen dramatischen Erzählsträngen nie den Fehler, Vergleiche zwischen den Tragödien zu ziehen. Nie dramatisiert sie unnötig, auch simple Schuldzuweisungen wären ihr zu platt. In der sanften Stimme ihres Protagonisten oszillieren Kraft und Poesie, Verletztheit und Selbstbestimmtheit. Das Phantastische in Gestalt der Zirkusschilderungen und animierter Kinderaugen konfrontiert die Autorin mit nüchternen Bestandsaufnahmen des Barackenlagers, wo ebenso Europäer leben, die aber für Konsumpostillen mit zwölf Euro abgespeist werden. Der Autorin gebührt Dank, diese gar wenig abseitigen Realitätsschichten aufzudecken, gerade in Italien, wo Roma mit Fingerabdrücken zwangsregistriert und immer wieder attackiert wurden. Die „Auflösung des Realen“ wiederum überlässt sie den Kindern, die sich als werdende Zirkustruppe präsentieren. Branko dagegen resümiert bitter: „Im Grunde war es ein Leben ohne Zurück. Ein Versuch: ich gegen die anonyme Peripherie.“
Milena Magnani wurde 1964 in Bologna geboren, studierte Sozial- und Politikwissenschaften und arbeitete als Lehrerin in der Psychiatrie sowie als Journalistin und Dramaturgin. Nach den Romanen L’albero senza radici (1993) und Delle volte il vento (1996) ist dies ihr dritter und erster auf Deutsch.
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Roland Steiner
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