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Wilhelm Genazino
Das Glück in glücksfernen Zeiten

Halbtagsleben-Blues
Wilhelm Genazino | Das Glück in glücksfernen Zeiten
Wilhelm Genazino
Das Glück in
glücksfernen Zeiten
Roman
Hanser 2009
Die Lektüre vom Glück in glücksfernen Zeiten kann, wie das Mittelmäßige Heimweh, Rat­losigkeit und Irritation hinterlassen. Die Haupt­figur Gerhard Warlich betreffend, ist das wohl Ziel des Romans gewesen. Woher aber kommt der unbequeme Grundton, der nach­hallt. Ist es der Autor, der mit seinem Schrei­ben irritiert, oder der Protagonist, des­sen innerer Zustand unseren eigenen, bisher sorgsam ver­borgenen entlarvt und un­liebsame déjà-vus provoziert. Beim vor­lie­genden Buch trifft beides zu.

Genazino gehört zu jenen Schrift­stellern, die ein Thema so lange vari­ieren, bis jeder ver­standen hat, um was es geht. Und das Ergeb­nis ist stets ein „trauriger Held … in Lebens- und Liebesverzweiflungen“, tr(a)udelnd, strau­chelnd, aber nie stürzend. Irgendwie geht es weiter. Auch nach der letzten Buchseite. Sie trägt bereits die Vorahnung auf den nächsten zum Scheitern Verurteilten in sich. Lustlos, passiv, antriebsschwach – versteht sich.

Diesmal also Gerhard Warlich, 41 Jahre alt, der das Glück nicht sucht, sich aber gern vom Glück finden lassen möchte. Bildungs­fern, einkommens­fern, realitäts­fern usw. – alles Medien-Schlagworte, die uns täglich die harte Wirklichkeit weichspülend, weil politisch korrekt, verschleiern. Bedeutet glücks­fern automatisch unglücklich, oder ist es nur zeitweise Entfernung vom Glück? Eine Mogel­packung ist es auf jeden Fall, die den passiven Konsens aller Mitwissenden genießt.

Gerhard Warlich kann eigentlich zufrieden sein mit seinem Leben. Er hat Philosophie studiert, promoviert, und ist dann in einer Großwäscherei vom Ausfahrer zum Organisations­leiter aufgestiegen. Für eine bürgerliche Exis­tenz nicht schlecht. Für einen Denker eine Katastrophe. Wenn er könnte, würde er am liebsten nur „Halbtags leben“ wollen. „Jeder Mensch sollte das Recht haben, sich in der zweiten Hälfte des Tages von der ersten zu erholen.“ – fabuliert Warlich, und diese Utopie erwärmt sein Herz. Nicht nur seines – spürt man und phantasiert den Halbtagsjob-Blues weiter.

Das Glück ist fern, aber nicht unmöglich. Warlichs Lebens­gefährtin Traudel wüsste auch den Weg dahin. Sie will ein Kind. Der an sich verständ­liche Wunsch nach dem kleinen Glück lässt jedoch Warlichs Scheinbalance kippen. Und das geschieht so unspektakulär wie alles mit und um ihn. Er ist weder entrüstet darüber, noch entschieden dagegen. Er laviert und entzieht sich Traudel und der Gesellschaft durch den letzten Schritt in die eigene Welt, seine „Verrücktheit“, die an vielen Stellen vorher schon aufscheint. In der Abgrenzung der psychiatrischen Klinik findet er zumindest ein Umfeld, das seiner „Überempfindlichkeit“ entgegenkommt.

Genazinos Figuren als direkte Nachfahren von Kafkas Gezeichneten zu sehen ist übertrieben. Denn heute sind wir alle gezeichnet. Tragen Kafka in uns und wissen das auch. Wir lesen über die Über­empfind­lich­keiten des Gerhard Warlich und erkennen manches wieder. Wir aber möchten lieber heil sein. Wie Traudel, deren Namen Verheißung ist, und deren Position als Sparkassen Filial­leiterin in der Provinz Erdung und Verlässlichkeit bedeutet. Traudel löst dieses Versprechen auch ein und bietet Warlich „brötchen­warmen“ Hort und Halt, der am liebsten als seinen Wohnort angeben möchte: „Untermieter bei Traudels Busen.“

Überhaupt gelingen Genazino weite Passagen lebendiger Erzählkunst immer dann, wenn er im einfachen Leben bleibt. Wenn Warlich von seiner Kindheit berichtet, wenn er uns mitnimmt in die halbwache Atmosphäre intimer Nähe, oder wenn Warlich sich einem Hund näher fühlt als einer Horde von Rentnern. An solchen Stellen geht der Leser mit, weil seine eigenen Erfahrungen bestätigt werden und skurriler Humor ein willkommenes Ventil darstellt. „ …im Gegenteil, ich nehme im Inneren sogar die Gestalt des Hundes an und fürchte, gleich ebenfalls meinen Platz einzubüßen. Wenn ich bellen könnte, würde ich es jetzt tun, auch umherfauchen würde ich gerne und drohende Rachenlaute ausstoßen.“

Einigen Verdruss bereitet nur der Anfang des Romans, wo es ächzt wie ein eingerostetes Rad, das erst laufen muss, um in geübtes Summen über­zugehen: „Konsum-Parolen auf meinen beiden Plastiktüten“, „Ich schiebe meine beiden Plastiktüten“, „Hängt seine Plastiktüte an einen Pfosten“, „wendet sich seiner Plastiktüte zu“, „Ziehe meine Plastiktüten unter dem Tisch hervor“, „das Wehklagen meiner ratlosen Seele“, „Ich beschwichtige meine Seele“, „und weist das Begehren meiner Seele ab“, „Über dieses Ergebnis … bäumt sich meine Seele mächtig“, „Mit diesem Anblick gelingt mir die Tröstung meiner Seele“.

Zuviel Plastiktüten und ratlose Seelen trüben die Seiten ein, wie reißendes Wasser im Frühling den Bach. Ist aber Sprache als literarisches Ausdrucks­mittel nicht immer dann am besten, wenn sie den Inhalt trägt wie eine ruhige Wasserfläche den blauen Himmel? Mit diesem eine Einheit bildet, ohne selbst in den Vordergrund zu treten? Bei Genazino scheint es, werden die Ebenen manchmal verwischt: die Unzulänglichkeit der Romanfigur schwächt deren literarischen Ausdruck. Das ist ungefähr so, als dürfte einer, der über einen Stotternden berichtet, dies nur selbst stotternd tun.

Lästig empfundene Substantivierungen sind gewollt, um Bewegungslosigkeit zu suggerieren, weil „das Sich-tot-Stellen“ eine der „Hauptlebenstechniken“ von Warlich ist („Die Anschmiegung des Zwangs an das Leben …“). An­sonsten aber atmet man auf und fühlt sich eher Traudel verbunden, deren Busen Warlich zu einer Art „Liebesinfantilismus“ treibt. Und gerade Traudels Busen als Quelle von Lust und zugleich Ursprung aller mütterlichen Instinkte – ist das nicht ein bescheidenes Glück, möglich auch in glücks­fernen Zeiten?
Dorothea Gilde     26.02.2009   
Dorothea Gilde
Interview