Ralf Bönt
Berliner Stille
Heisenbergsche Unschärferelation
Würde man Literatur mit Sport vergleichen, könnte man den Roman als Marathon und die Erzählung als Kurzstreckenlauf betrachten. Übertragen auf die Geschichten von Ralf Bönt kommt man nicht umhin, festzustellen, dass hier ein Marathonläufer auf der (Kurz)Strecke blieb. Kein Zweifel, langer Atem und Ausdauer sind wichtige Qualitäten, nützen aber nichts, wenn sie falsch eingesetzt werden. Kurzgeschichten erfordern Sprinterfähigkeiten. Erwartungsfroh begleitet der Leser den Autor an den Start. Dies umso mehr, als er einen der Preisträger beim Bachmann-Wettbewerb 1998 vor sich hat.
An Bewegung mangelt es in Ralf Bönts Kurzprosa nicht. Es wird viel gereist. Dauernd ist jemand unterwegs. Nach Italien, Berlin, Moskau, Valparaíso usw. Mehrfach vielversprechender Anfang der Geschichten. Doch die Erwartung schlägt bald in Verwunderung um. In Russischer Rap fährt einer im Dienste der Institutsleitung nach Moskau. Mit dem Zug, versteht sich. Beschreibung der Zugfahrt, Winter und Schnee in Moskau. „Meine Abende begann ich drei Monate lang in der Kantine vor dem Trivialfernsehen auf einem Großbildschirm und beschloß sie auf meinem Zimmer im Gästehaus, im Bett Roman auf Roman lesend und Bier dazu trinkend.“
Aus dem Leben gegriffen, möchte man meinen. Zu sehr an Realitätstreue krankend, wird man enttäuscht feststellen. Ralf Bönts Oberflächengetöse ohne Beachtung des Raunens aus den Tiefen der Selbsterkenntnis führt seine Figuren in die Sackgasse. Und den Leser höchstens zu einem gelangweilten Wiedererkennen von Situationen, die er selbst mangels Lust und Zeit schon im eigenen Alltag nicht reflektierte und die ihm Ralf Bönt auch nur geräuschvoll wiederkäuend vorsetzt.
„Bald darauf kam der Frühling innerhalb von zwei Tagen, und mein Aufenthalt war zu Ende.“ Ein lapidarer Aufsatzschluss, so unvermittelt auftauchend wie der Kopfbahnhof für den Zug aus Moskau. Der Bahnsteig ist leer. Die Erwartungen des Lesers haben sich längst verabschiedet. Und was ist mit der Heisenbergschen Unschärferelation? Sie wird nur nebenbei in Russischer Rap erwähnt und kann, wie meine Nachfrage beim Fachmann ergab, Ort und Impuls eines Elementarteilchens nicht mit beliebiger Genauigkeit bestimmen.
Dies trifft auch auf die Sprache der Kurzprosa zu. Man begibt sich auf die vergebliche Suche nach den Eigenwerten von Ralf Bönts Ausdruckskraft und findet nur fragwürdige Eigenwilligkeiten, die sehr an beliebig einsetzbare Textbausteine erinnern. Auch in den anderen Geschichten, ob in Berliner Stille, das Wiedersehen mit einem ehemaligen Klassenkameraden, oder Gesprächsfetzen in der Schlange am Postschalter in Zweihundert – immer sind die Dialoge scharf an der Trivialitätsgrenze. Die Situationen werden nicht gebrochen, es wird nichts verfremdet, ins Gegenteil umgekehrt. Nichts geschieht, was die Handlung aus dem Realen ins Plausible katapultieren könnte.
Wollte man die neun Geschichten, wie im Klappentext gepriesen, sinnlich finden, müsste kurioserweise der Leser gedopt sein. Dabei hätte Doping eher den Kurzgeschichten auf die Beine geholfen und sie in die Ziellinie einlaufen lassen.
Ralf Bönt
Berliner Stille
Erzählungen
Göttingen: Wallstein Verlag 2006
Ralf Bönt wurde 1963 in Lich geboren und wuchs in Bielefeld auf. Er war Autoschlosser und studierte Physik. Seit 1994 freier Schriftsteller. Heute lebt er mit seinem 10-jährigen Sohn in Berlin. Er erhielt unter anderem den 3sat-Preis beim Bachmann-Wettbewerb. Veröffentlichungen: Icks. Roman (Piper 1999) Gold. Roman (Piper 2000).
© 13.03.2006 Dorothea Gilde Print
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Dorothea Gilde
Interview
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