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Höllen müssen vertraute Orte sein

Angelika Overath – Nahe Tage. Roman in einer Nacht

Angelika Overath | Nahe Tage. Roman in einer Nacht Angelika Overath hat bisher mit literarischen Reportagen Zeichen ihres Könnens gesetzt. Das Buch Nahe Tage ist ihr erster Roman. Er wurde als rigorose Abrechnung mit der Kindheit betrachtet. Selbst Vergleiche mit Jelinek und Kafka waren zu lesen, was an sich nicht falsch ist. Allerdings lässt das Evozieren solch großer Vorbilder auf mehr schließen als nur das Aufarbeiten von Kindheits­traumata. Hat Angelika Overath in ihrem Roman in einer Nacht diese Erwartung erfüllt?

Die Mutter ist tot. Johanna kommt zu spät ins Krankenhaus. Sie kann ihr nicht mehr atmen helfen, wie sie es bei ihren Besuchen immer tat. Mit der Mutter schnaufen, hecheln, sie gleichsam atmend gebären, nennt es die Autorin und versetzt den Leser in Staunen über diese Metapherngewalt, die das Vergehende in ein Werdendes umkehrt. Nun sitzt Johanna in der Küche der elterlichen Wohnung. Angesichts der Dinge, die das Leben der Mutter beherrscht haben, kommen ihr Gedanken, die man mitdenken und -fühlen kann. Kerben, Flecken oder sonstige Blessuren sind das Gedächtnis der Gegenstände. Sie behalten Augenblicke des Lebens, „weil sie sich nicht ablenken lassen und weil sie es anders aushalten dazusein.“ Johanna fährt mit dem Finger den Streublümchen-Girlanden nach, die in ausgeblichenen Pastellfarben auf dem Wachstischtuch blühen.

Wollte man einen Gegenstand zum Symbol kleinbürgerlicher Alltäglichkeit erheben, kein anderer wäre geeigneter als das Wachstischtuch. Angelika Overath besitzt in hohem Maße die Gabe, undramatisch banale Vorgänge wie den Kauf einer Tischdecke anschaulich zu beschreiben und auf diese Weise Erinnerungen an selbst erlebte, ähnliche Szenen herauf zu beschwören. Zumindest bei der Generation der in den sechziger Jahren herangewachsenen Leser. Sie mögen sich noch gut an den süßlich beißenden Geruch erinnern, den ein frisches Wachstuch verströmte, wenn es in steifen Falten von den Tischenden abstand.

Schleichend und anfangs unbemerkt vollzieht sich jedoch eine Wandlung, für die es Wörter, aber keine Worte gibt. Sie drängen sich zwischen Johanna und die Dinge. Sie düpieren auch den Leser, dem Johannas Verlust eben noch die traurige Vertrautheit eigener Erfahrungen vorgaukelte. Die Dinge haben ein gutes Gedächtnis, sie sind wohl deshalb auch gnadenlos. Und sie sind überall. Unversehens gerät Johanna in ihre Falle. Sie stolpert über Ledersofas im Wohnzimmer, eckt an Tischen an, zwängt sich zwischen Truhen und Schränken hindurch und wird immer mehr in die Enge getrieben. Sie möchte weg und liefert sich doch aus.

Die Mutter hatte sich die Dinge anverwandelt, in einer Art Mutterlegierung. Nun stehen sie da und verlängern als stumme Zeugen ihren schuldzuweisenden Blick über das Grab hinaus. Sie geraten Johanna nicht erst jetzt zum „Minenfeld voller geheimer Zeitbomben aus Damals und Zuhaus.“ In einem Anfall von ungeübtem Protest beschließt sie, sich zu wehren und die knebelnde Erinnerung der Gegenstände durch Entsorgung zu tilgen. Das Leben, dessen Schwere die Eltern durch viele Jahre hindurch in die Sprachlosigkeit drängte, soll nicht weitergetragen werden. Für diesen Schnitt spricht sich Johanna selbstbeschwörend Mut zu.

Neben der Affinität zu Jelinek wird im Roman die Anlehnung der Autorin an Kafka offenbar. Mehrmals zitiert Johanna die Kleine Fabel. „Du musst nur die Laufrichtung ändern“, sagt die Katze, bevor sie ungeniert die Maus auffrisst. Wozu die Richtung ändern, wenn das Ergebnis unverändert ist, fragt sich Johanna. Zerstörung von Illusionen also, vergebliches Anrennen gegen eine undurchdringliche, nicht greifbare Macht – die der Mutter. „Das Kind wuchs unter der Liebesgewalt der Mutter. Und später muss es ihm fraglos selbstverständlich gewesen sein, dass die Mutter sich immer stärker festlieben musste, je größer es selbst wurde.“ Von Sätzen wie diesen geht ein Sog aus, der das Geschehen kippen lässt und dauerhaft aus dem Gleichgewicht zu bringen droht. Vom Vertrauten, das der Leser anfangs vorzufinden glaubte, geraten Sprache und Gesten in jene ausweglose Schieflage, die das Kind zum Opfer, zum Gegenstand selbst werden lassen.

Was Angelika Overath mit Sicherheit von den erwähnten geistigen Wurzeln unterscheidet, ist die Hoffnung. So ganz ausweglos und düster ist ihr Buch nicht. Was tut einer, der in der Ecke steht, mit dem Rücken zur Wand? Er sucht einen Ausweg und träumt davon, frei zu sein. „Vielleicht ist Heimat ein Ort, wo etwas kaputtgehen darf“, sinniert Johanna und löst die Parabel mit der Katze zum eigenen Erstaunen auf: „Natürlich kann man die Laufrichtung ändern, dachte Johanna. Der Trick liegt in der Katze. Es ist die Scham, die einen verfolgt, es ist die Angst. Aber wenn man sich umdreht und ihr ruhig in die Augen sieht, dann wird sie blaß und blasser und vergeht. Dann schämt sich die Scham, und die Angst hat Angst.“

Mit der versöhnenden, im sachlichen Gesamtton des Buches gehaltenen Schlussfolgerung, dass Mutterliebe zugleich eine Droge ist und ein ewiger Entzug, wird der Leser aus dem Roman entlassen. Er zweifelt vielleicht daran, dass Höllen vertraute Orte sind, schlägt aber das Buch mit der Gewissheit zu, dass Angelika Overath seine Erwartungen nachhaltig erfüllt hat.

Angelika Overath
Nahe Tage
Roman einer Nacht
Göttingen: Wallstein Verlag 2005

Angelika Overath wurde 1957 in Karlsruhe geboren. Sie studierte Germanistik, Geschichte und Italienisch in Tübingen und verfasste zahlreiche Essays und literarische Reportagen. 1996 erhielt sie den Egon Erwin Kisch-Preis. Ihre Dissertation schrieb sie über Das andere Blau. Zur Poetik einer Farbe im modernen Gedicht.

Dorothea Gilde
Interview