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Abgehärtet gegen das Glück

Rabea Edel – Das Wasser, in dem wir schlafen

Rabea Edel | Das Wasser, in dem wir schlafen (Roman) „Meine Schwester wurde auf einem Autobahnrastplatz zwischen zwei halbabgeernteten Weizenfeldern unter den von Vögeln schweren Kabeln der Starkstrommasten gezeugt...“ Ein starker Einstieg in die Geschichte zweier Schwestern, von denen nur eine einen Namen hat, Lina. Deren Leben beginnt auf dem Beifahrersitz, wo koitale Bewegungen der Mutter die Handbremse in den Rücken stoßen, während die Ich-Erzählerin als Dreijährige im Schatten der Bäume sitzt, inmitten von Schlammfliegen-Schwärmen.

Der Klappentext wird schon stimmen, wenn er den Inhalt des Buches als Rivalität zwischen zwei Schwestern zusammenfasst. Für mich hat sich dieser Eindruck allerdings nur schwach und sporadisch eingestellt. Es geht natürlich um zwei Schwestern, die von der Mutter verlassen werden, weil diese von einer Art Kindbettdepression befallen wird und sich zunehmend isoliert. Schließlich packt sie ihre Koffer und geht ohne Abschied. Die Mädchen wachsen beim Vater und dessen Lebensgefährtin auf, und als sie ins Teenageralter kommen, ist es Gregor, den sie sich teilen.

Die Faszination dieses Romandebüts, das beim Literaturwettbewerb Open-Mike 2004 prämiert wurde, liegt aber nur zum Teil im Sujet. In weiten Teilen schafft es die Autorin, Wirklichkeit und Träumerei zu einer Welt zu verschmelzen, die sich den Anschein von Realität gibt. Sie erinnert damit an den magischen Realismus der südamerikanischen Literatur von und um Gabriel García Márquez.

Die Beschreibung der Schlammfliegeninvasion zum Beispiel liest sich wie ein Untergangsszenario. Die Häuser versinken in einer braunen Masse und binnen weniger Minuten sind Mund und Nasenlöcher verstopft, während die Augen vom Herauswischen abgerissener Flügel und Chininteilchen tränen. Einige Kapitel weiter sitzen die Erzählerin und Lina auf den Holzdielen der Veranda und bewegen sich nicht. „Lina tauchte einen Zweig in die dunkle Masse und schrieb unsere Namen, und wir sahen zu, wie die Insekten übereinander krabbelten und die Buchstaben sich auflösten.“

Schimmert da nicht eine Spur des Zaubers durch, der Gabriel García Márquez' Roman Hundert Jahre Einsamkeit so einzigartig machte? Auch sonst fallen an Rabea Edels Text märchenhafte Elemente auf. Eulen, die mit großen Augen in Bäumen hocken und bei Anbruch der Nacht über das Haus fliegen. „Im Herbst warf sie auf dem Weg durch den Wald zum See Kieselsteine in die Bäume ... Daß wir uns wiederfinden danach...“ Wäre eine der Schwestern ein Junge, wir würden uns mitten in Hänsels und Gretels Not wähnen.

Zeiten, Orte und Alter sind Koordinaten, an denen die Handlung sich nicht orientiert. Es gibt weder temporale noch geografische Anhaltspunkte für Anfang und Ende der Geschichte. Noch nicht einmal Namen für alle agierenden Personen, einschließlich der Ich-Erzählerin. Es kann wo und wann immer gewesen sein. Die Sprache ist sachlich, in manchen Kapiteln ziemlich aktionsbeladen. Helden und Heldinnen der Märchen aber haben oder machen ihr Glück. Sie verdienen sich ein Happy-End durch tugendhaften Charakter.

In der Realität des Romans von Rabea Edel ist das Gegenteil der Fall. Lina und ihre Schwester sind abgehärtet gegen das Glück. Und Tugend ist von vornherein keine moralische Kategorie. Da darf Lina ohne erzieherische Konsequenzen eine Katze aus dem Fenster fallen lassen, nur um zu sehen, ob sie wirklich sieben Leben hat. Und wie im Märchen empfindet man dabei weder Mitleid mit dem Tier, noch Abscheu dem Kind gegenüber, das so grausam sein kann. Der vorherrschende Eindruck bleibt Faszination und Spannung.

Neben den erwähnten Vorzügen des Textes wird man nicht übersehen, dass dem Buch die soziale Komponente fehlt und fehlen muss. Rabea Edel ist eine junge Autorin, deren Erfahrungshorizont sich auf die unmittelbar prägende Umgebung beschränkt. Hundert Jahre Einsamkeit ist am Beispiel des Clans der Buendía die Geschichte eines ganzen Dorfes, Das Wasser, in dem wir schlafen hingegen die einer bezugslosen und dadurch mit hohem Erkennungswert ausgestatteten schwesterlichen Beziehung.

Rabea Edel
Das Wasser, in dem wir schlafen
Roman
München: Luchterhand Literaturverlag 2006

Rabea Edel wurde 1982 geboren, wuchs in Cuxhaven auf und lebt in Berlin. Sie studiert an den Universitäten in Berlin und Siena, hat das Prosawerkstatt-Stipendium der Jürgen-Ponto-Stiftung (2005) erhalten und belegte beim 12. Open-Mike-Wettbewerb (2004) den 3. Platz. Das Wasser, in dem wir schlafen ist ihr erstes Buch.

© 24.02.2006  Dorothea Gilde            Print

Dorothea Gilde
Interview