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Peter Handke
Kali. Eine Vorwintergeschichte

Kali, die Kahle Sängerin?

Peter Handke | Kali. Eine Vorwintergeschichte
Peter Handke
Kali
Eine Vorwintergeschichte
Suhrkamp, 2007

Viele ließen sich von Peter Handkes Kali – Eine Vorwintergeschichte mit Recht verzaubern. Andere überzogen das Buch mit beißender Kritik. Zynikerzungen konnten sich der süffisanten Titulierung „sentimentale Betschwester“ nicht enthalten, was einerseits unsachlich auf den Autor abzielt, andererseits als Sprachkoketterie gesehen werden kann, nach dem Muster der Wort-Spielregeln, die Handke vorgibt.

Eine Sängerin, deren Gesang nur einmal zu hören ist, ein Dorf irgendwo im Vereinten Europa am Fuße eines Salzberges, eine Gemeinschaft von Bergbauarbeitern, in der Mehrzahl Auswanderer, ein Kind, das seit zehn Jahren verschwunden ist. Sie alle bilden die märchenhafte Topologie der Geschichte, die von einem Erzähler beobachtet und gesteuert wird. Dieser mutet wie eine Art moderner Frau Holle an, für die das Federkissen Schnee von gestern ist, weil sie sich lieber Google-Earth-artig in das Geschehen zoomt und es nach Bedarf beschleunigt oder anhält. Wenn im Buch auch nicht artikuliert, liegt der Vergleich des Erzählers mit Frau Holle dennoch nahe, denn die Fabulierlust des Autors schafft es locker, Alltagssituationen in die Märchenwelt aus Kindertagen zu entrücken.

Dazu benutzt Handke nur selten den direkten Weg – „Einmal lebte in diesem Haus ein Kind...“ Meist reichen Andeutungen aus, kleine Szenen, die uns ein Déjà-vu-Erlebnis bescheren, wie zum Beispiel ein gedeckter Tisch („Zwischen ihren Gedecken ein drittes, bereit wie schon seit geraumer Zeit“), der Wind, das himmlische Kind („Es ist der Wind, der spricht, der Schneewind“), oder Mary Poppins, wo Kinder in die Landschaft eines Bildes eintreten können, wie das verschwundene Kind der Bergarbeiter. Tief unten im Salzbergwerk bieten die Arbeiter der Sängerin von ihren mitgebrachten Stullen an. Da erinnern nicht nur das Bergwerk und die Männer an die sieben Zwerge, sondern Sätze wie „Und der, und der, und der hat ihr von seinem Essen angeboten“ auch an Schneewittchen selbst.

Erstaunlich bei allen überwiegend positiven Reaktionen zum neuen Buch Handkes ist die Hartnäckigkeit, mit der eine der Hauptfiguren der Geschichte unbesprochen bleibt: die Sprache. Schon auf den ersten Seiten stellt Handke einen Wegweiser auf. Dessen Pfeil zeigt zunächst in Richtung Kommunikation. Bei näherem Hinschauen erst wird klar, dass es die Kehrseite ist, die Unfähigkeit zur Mitteilung. Wenn auf Seite 24 die Sängerin plötzlich mitten in ihre Gedanken hinein stockt und den Redefluss durch Beugung eines Verbs unterbricht: „Du zitterst, er sie es zittert, wir zittern, sie zittern...“, stutzt man und versucht, sich zu entsinnen. Einige Seiten weiter, bei der Steigerung des Adjektivs „Heimatlos..., heimatloser, am heimatlosesten“, könnte die von Handke gelegte Spur den Leser zu Ionesco führen.

Die Kahle Sängerin, sie wurde als Anti-Stück bekannt und löste in den Fünfziger Jahren heftige Diskussionen über das zunehmende Unvermögen der sprachlichen Mitteilung und der im Gefolge erscheinenden Existenzängste aus. Bis heute wird das Paradestück des absurden Theaters gespielt, und so könnte es sein, dass die Lautverwandtschaft zwischen Kali, der Sängerin bei Handke, und der Kahlen Sängerin von Ionesco nicht nur rein zufällig ist.

Angst tritt auch bei Handke als Anfangssatz des Buches auf die Bühne: „Auch mir hat sie Angst gemacht, macht sie Angst. Aber ich möchte mich ihr stellen.“ Vielleicht ist Sie, der er sich stellen möchte, gerade die Frage, inwiefern Sprache ihren Grundauftrag im Vereinten Europa verloren hat? Langsam keimt der Verdacht, dass es Handke gar nicht auf eine durchgehend kohärent erzählte Geschichte ankommt. Er benutzt Figuren und Handlung als Sprachrohr seiner eigenen Botschaft. Und darin verblasst die Erzählung vom märchenhaft versunkenen Dorf am Fuße des Salzberges nach und nach und kristallisiert sich zum Träger Handkescher Zweifel und Befürchtungen.

Sätze, die nur noch teilweise sinnvoll sind, Töne, Klänge, ein Singsang aus Deklination und Deklamation ersetzen, wie bei Ionesco, das sinngebende Wort. Als wollten sich die Sprechenden vergewissern, sich durch Repetition der grammatischen Grundregeln das Gerüst zu bewahren, das ihnen Identität gibt, ihre Muttersprache.

Dialoge und Beschreibungen kehren sich gelegentlich in ihr Gegenteil um. Worte erreichen auch jene nicht mehr, die sie formen und werden zu Aneinanderreihungen von Wörtern: „Knall und Fall, Schreien, Toben, Bersten, Röcheln...“ Wiederholungen sind leere Hülsen, die man ausspuckt wie taube Sonnenblumenschalen: „Ich war bedürftig. Ich bin bedürftig. Ich werde bedürftig sein“ oder „Du hättest… sein müssen. Und warst es auch. Und bist es auch.“

Neben der Angst vor dem Schwinden sprachlicher Integrität und Identität, die bis zum Verlust eindeutiger geschlechtlicher Zuordnung in Zeiten allumfassender Nivellierung reicht – das verschwundene Kind heißt Andrea und kann Junge oder Mädchen sein, ähnlich wie bei Ionesco Bobby Watson der Name aller Familienmitglieder ist –, möchte Handke der Hoffnung eine kleine Tür offen lassen. Im Märchenland ist sowieso alles möglich. Es gilt aber, den Wegweiser in die richtige Richtung zu drehen. Der biblische Turmbau zu Babel hat ein Volk, das eine Sprache sprach, verwirrt und über die ganze Erde verstreut. Umgekehrt bringt Globalisierung Menschen verschiedenster Herkunft und Sprachen zusammen. Es sollte möglich sein, diese, die „fremder als fremd waren, umso besser und klarer zu verstehen.“ Um uns aber auch jenseits mythischer Gefilde und Zeiten heute die Bewahrung der Sprache als Ausdruck unserer Gedanken und Gefühle zu ermöglichen, suggeriert Handke im Sinne von Forel's Ideoplasie-Gedanken wiederholt: „Und da es gesagt ist, hat es zu geschehen.“ Und mit leisem Zweifel fügt er hinzu: „Vorläufig.“
Peter Handke, 1942 in Griffen (Kärnten) geboren, lebt heute in Paris.

Handke bei Suhrkamp

Dorothea Gilde     06.03.2007    

Dorothea Gilde
Interview