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Judith Kuckart

Kaiserstraße

Die Nitribitt als Waschmaschine

Judith Kuckart: Kaiserstraße. Roman Ein milder Herbst über Deutschland. Bundeskanzler Adenauer regiert in Bonn und Willy Brandt in West-Berlin. Die Russen haben einen Hund ins Weltall geschossen und die Nitribitt bedient ihre letzten Kunden. Sie weiß es nur noch nicht. Es ist das Jahr 1957, und diese Schlagzeilen stehen in den Archiven der Medien. Literarisch angereichert und melancholisch eingefärbt lesen sie sich aber spannender bei Judith Kuckart in der Kaiserstraße. Dass dieser Roman zu den fünf Vorschlägen des Preises der Leipziger Buchmesse 2006 gehörte, ist bekannt und berechtigt. Auch, dass Judith Kuckart mit anderen Büchern, wie etwa Dorfschönheit, Akzente ihres Erzählstils gesetzt hat.

Liz und Leo Böwe heiraten 1957, gründen einen Hausstand und führen eine mittelmäßige Ehe. Als fleißiger, ehrbarer Bürger wird Leo Böwe Vertreter für Waschmaschinen, während Liz zu Hause sitzt und strickt. Rückblickend wird jene Zeit der Fünfziger Jahre als konservativer Kleinbürgermief abgestempelt. Als hätten sie damals eine andere Chance gehabt und nicht genutzt. Dabei haben Böwes wie viele Tausend andere auch nach bestem Wissen und Gewissen gelebt. Die Geburt der Tochter Jule ändert auch nichts an der inneren Entfremdung bei wachsendem Wohlstand. Nur Jule selbst wird ihr Leben ändern wollen und zunehmend auf Distanz gehen. Sie wird lange umherirren, bis sie ihrem Reiseziel näher kommt. Als Pubertierende suchte sie in älteren Männern den Vater. Als fast Vierzigjährige wird sie von einem Mann schwanger, den sie bereits als Baby auf dem Arm hatte.

Interessant scheint die Frage, ob es eine deutsche Stadt gibt, die keine Kaiserstraße hat. Wahrscheinlich, und dennoch ist der Titel gut gewählt, denn er deutet das Geschehen als allgemeingültig. Judith Kuckarts Roman ist fast im wörtlichen Sinne ein Streifzug. Er startet vom Bahnhof des angehenden Wirtschaftswunders und fährt im gemächlichen Tempo einer Dampflok durch den Alltag von Liz und Leo Böwe. Fünf Jahrzehnte sind bildlich gesehen eine lange Strecke. Da gibt es Aufenthalte in markanten Stationen wie 1967, 1977 und 1989, bevor der Zug mit IC-Geschwindigkeit im Jahre 1999 ankommt. Und wenn man sich genauer umsieht, sitzen im Zug viele Böwes und fahren mit. Die Daten ihres Lebens verschmelzen zum Schicksal einer Nation schlechthin, werden Geschichte eines Landes.

Von der Kritik wurde der Roman gemischt aufgenommen. Was die einen schön und traurig finden, tun andere als kitschig und plakativ ab. Das spricht in diesem Falle durchaus für das Buch, doch nicht unbedingt gegen die Kritiker. Es mag vielleicht am Alter liegen. Während sich die einen der melancholischen Stimmung nicht entziehen können, fragen die Jüngeren, vertreten durch Jule etwa, was das soll. Sie haben keinen Bezug zur Adenauer-Zeit mit Hazy Osterwald und Pettycoat. Contergan oder Kennedys Tod sind zwar Ereignisse, die sie kennen, aber nicht miterlebt haben.

Die Irritation des Lesers kann auch daher rühren, dass sich die Beschreibung von Böwes Einzelschicksal langsam zum Sinnbild der kleindeutschen Provinz wandelt. Und darin liegt die Stärke des Buches. „Sie würde sich allmählich neu einrichten, das Holz dunkler wählen und noch mehr Kitsch auf die Fensterbank stellen, und eines Tages würde sie sich in ihrer Wohnung nicht mehr unvermittelt umdrehen wollen. Ja, bloß nicht umdrehen, denn dann würde sie plötzlich in den eigenen vier Wänden einer fremden bedrohlichen Welt gegenüberstehen. So war das.“

Und wie ist es heute? Es erinnert an den französischen Schriftsteller Paul Nizan, dessen Roman Das Leben des Antoine B. im letzten Jahr wieder aufgelegt wurde und beeindruckend ist, wie Judith Kuckarts Buch auch. Bei Nizan konnte man sich jedoch zurücklehnen und denken, ja, so sind die Franzosen, und überhaupt, Antoine B. lebte am Anfang des letzten Jahrhunderts. Damit haben wir nichts zu tun. Die Kaiserstraße gibt es aber jetzt und hier. Die Lektüre ist ein Wechselbad aus angenehmen Erinnerungen an swingenden Rock'n Roll und unbequemer Selbstspiegelung in kleinkarierten Mustern.

Die vielen historischen Hinweise aber, die im Roman eingeblendet werden, und die wie Strommasten beim Blick aus dem Zugfenster vorbeigleiten, geben Halt und manchmal Trost. Und wie sah es in der gleichen Zeit im übrigen Europa aus? Wenn man aus dem Osten stammt, werden beim Lesen unfreiwillig Ereignisse lebendig, die prägend waren, wie etwa die ungarische Konterrevolution im Oktober 1956 oder der Prager Frühling 1968.

Stilistisch gesehen, baut die Autorin mit anschaulichen Bildern zunächst eine breite Basis, die sich mit zunehmendem Tempo verjüngt. Ansonsten ordnet sich die Sprache dem Inhalt unter, als gut geölter Schienenstrang sozusagen, auf dem der Streifzug in die Zukunft fährt. Dahin, wo sich die Parallelen treffen: im Unendlichen, im Reich der Sehnsucht, der unerfüllten Wünsche. Nur hin und wieder droht sprachliche Entgleisung, wenn Metaphern mäandernd am Plüschigen entlangschrammen.

Übrigens, der junge Vertreter Leo Böwe hielt die Nitribitt zunächst für eine Waschmaschine. Eine Marke war sie in gewissem Sinne ja auch und blieb es für Böwe ein Leben lang. Diesen Traum von der heimlichen Geliebten, der man nie begegnet, trägt jeder in sich. Auch wenn nicht alle in der Kaiserstraße wohnen.

Judith Kuckart
Kaiserstraße
Roman
Köln: DuMont 2006

Judith Kuckart wurde 1959 in Schwelm/Westfalen geboren. Studium der Literatur- und Theaterwissenschaften in Köln und Berlin, Tanzausbildung in Düsseldorf und Essen. Sie lebt als Schriftstellerin und Regisseurin in Berlin und Zürich. Letzte Veröffentlichungen:Lenas Liebe (Roman 2002, DuMont), Die Autorenwitwe (Erzählungen 2003, DuMont).

Dorothea Gilde
Interview