Monomanische Abkapselung
Dieter Wellershoff – Das normale Leben. Erzählungen
Dieter Wellershoff sei ein Kenner der menschlichen Psyche – es klang wie eine gut gemeinte Warnung und war doch überflüssig. Bekanntermaßen gründelt der Autor schon seit vielen Jahren in psychologischen Tiefen und stellt seine geborgenen Schätze als begnadeter Literaturdarsteller aus. Die Fähigkeit zur Analyse und Interpretation des Scheiterns von Liebe und Beziehungen hat Wellershoff in seinem Buch Der verstörte Eros hinreichend bewiesen. Seine Aufsätze über Glückssucher und Verlierer, Untergänge und Entgrenzungen sind mit essayistischem Anstrich geschrieben und führen den Leser gekonnt durch das klassisch literarische Thema von unmöglicher Liebe und Leidenschaft.
Literatur und Psychologie scheitern aber gelegentlich aneinander. Man denke an Anaïs Nin, der Henry Miller schriftstellerisches Talent absprach, weil ihre Tagebücher psycho-analytisch hervorragend waren, literarisch aber in Kunstfertigkeit stecken blieben. Mitunter steht das Einfühlungsvermögen und ständige Hinterfragen des Psychologen dem Autor im Wege. Was als Essay wunderbar funktioniert und erfolgreich ist, muss es als Roman oder Erzählung nicht zwingend sein.
Durch zehn Erzählungen quält sich das so genannte normale Leben der Protagonisten. Ob Aktmalerei oder ein Besuch in der Oper dazu gehören? Für manche Zeitgenossen schon. Oder die Avancen eines prominenten Therapeuten, der einer erfolgreichen Lyrikerin seinen Besuch förmlich avisiert, dann aber seine lesbisch angehauchte Ehefrau mitbringt, die ohne Umschweife auf ihr Ziel losgeht. Alles ganz normal? Wie das Sommerfest im Golfclub vielleicht, wo Präsidentengattinnen mit spitzen Fingern am Buffet erst Häppchen auf den Teller und dann in den welken Mund schieben.
Nun gut, für den einen ist eben normal, was für den anderen extravagant und unmöglich erscheint. Das Repertoire der desillusionierten Sinnfragerei wird von den Figuren rauf und runtergespielt und mündet in allen Geschichten in Resignation und Schweigen. Angesichts der Tatsache, dass es Wellershoff an Lob und Anerkennung für den neuen Erzählband nicht mangelt, ist die Frage erlaubt, ob psychologische Kompetenz und analytische Fähigkeiten ausreichen, literarischen Wert zu produzieren. Zweifel sind angebracht, denn Literatur wird kaum am Versuch gemessen, sondern am Gelingen.
Gelungen ist Wellershoff aber höchstens, die Wahrhaftigkeit des Alltags in seiner sprachlichen Banalität treu abzubilden, mit allem was dazu gehört. Anhäufungen von Adjektiven, die so fehl am Platz wie unvermeidlich scheinen: „Statt dessen schloß sie die Tür ihres verschmutzten kleinen Autos ab, das sie in gleichem Maße liebte wie vernachlässigte.“ Und kaum eine Seite später bringt er es dem Leser wieder in Erinnerung: „... setzte sie sich in ihr kleines Auto und fuhr weg.“ Wenn das Äußere eines Gegenstandes Bedeutung für die Handlung hätte, könnte man vielleicht verstehen, dass jemand einen kleinen silbergrauen Fotoapparat aus der Handtasche hervorholt und nicht schlicht einen Fotoapparat. Falsch eingesetzte Zeiten und auffallender Gebrauch des Verbs hatte wirken sich auf die Substanz der Sätze aus wie ein Noname-Dipp gegenüber der jeweils angesagten Sauce in der Werbung: schwer und unbekömmlich eben.
Und was ist mit jenen Stellen, die sich einen erotischen Anstrich geben, durch ihre unbedarfte Beschreibung aber ins Gegenteil umschlagen: „Er war es meist, der anrief und sie fragte, wo sie sei, was sie gerade tue, was sie anhabe und was sie darunter trage… Ich laufe in Strumpfhosen und offener Bluse in der Wohnung herum, weil ich keine Lust habe, mich anzuziehen. ... Komm bitte gleich, so schnell du kannst. Ich bin verrückt vor Sehnsucht nach dir.“ Wer nimmt der braven Hausfrau ihre Sehnsucht ab, wenn die angedeutete Frivolität so lächerlich hausbacken daherkommt? Neuer Versuch, einige Sätze später, wenn es zur Sache geht: „Sie klappte die Beine herunter und umklammerte den heißen Körper, um ihn noch fester an sich zu ziehen.“ Ein „Gehirn“, das nicht „von einer gipsernen Bandage umwickelt“ ist, könnte leicht eine technische Anleitung dahinter vermuten.
Eine Qualität hat das Buch stellenweise dennoch: Humor. So gesehen, dürfte es nicht übertrieben sein zu behaupten, dass Dieter Wellershoff sich dank seines psychologischen Scharfsinns selbst parodiert, wenn er die Frau des Therapeuten in Das Verschwinden ungewollt zum Sprachrohr seiner eigenen kritischen Leser macht: „Dein zweiter Gedichtband, so schön einzelne Texte sind, ist ein Duplikat deines ersten Bandes. Du bist keinen Schritt weitergekommen. Es ist dasselbe Thema der monomanischen Abkapselung, das die Texte beherrscht und aus dem alle deine Metaphern hervorgehen, fast schon automatisch, möchte ich sagen. Aber wer den ersten Band nicht kennt, wird es vielleicht nicht merken.“
Da nimmt einem jemand glatt das Wort aus dem Mund. Zum ersten Mal lese ich interessiert weiter: „Auch ich war zuerst beeindruckt. Aber bei wiederholter Lektüre hat sich der Eindruck von Routine und Stagnation immer mehr verstärkt. Ich verstehe natürlich, daß du das Buch schreiben mußtest und vielleicht überhaupt nicht bemerkt hast, daß du lauter Anleihen bei deinem ersten erfolgreichen Buch gemacht hast. Das ist ganz verständlich in deiner Lage. Und es ist, für sich genommen, immer noch ein schönes Buch. Doch wie gesagt...“
Dem ist nichts hinzuzufügen.
Dieter Wellershoff
Das normale Leben
Erzählungen
Köln: Kiepenheuer & Witsch 2005
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Dieter Wellershoff, geboren 1925 in Neuss, ist als Essayist und als Autor von Romanen, Erzählungen, Filmdrehbüchern und Hörspielen bekannt geworden. 1988 erhielt er den Heinrich-Böll-Preis. Wellershoff lebt in Köln.
© 22.01.2006 Dorothea Gilde
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Dorothea Gilde
Interview
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