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Michael Kumpfmüller

Nachricht an alle

Ansichten eines Innenministers

Michael Kumpfmüller | Nachricht an alle
Michael Kumpfmüller
Nachricht an alle
Roman
Kiepenheuer & Witsch 2008
Am Anfang steht ein »Minister, dem die Tochter vom Himmel gefallen war«. Daraus wird ein Minister, der mit explodierenden Autos in den Vorstädten und dem Sturm auf Polizeiwachen zu kämpfen hat, ein Minister, der in einer Talkshow auf die Konfrontation mit dem Zweiklassensystem der Gesellschaft souverän reagiert, ein Minister, der zwei Geliebte hat, dessen Reiseabrechnungen Unregelmäßigkeiten aufweisen, der Drohbriefe bekommt, über den ein siebenseitiger Enthüllungsbericht erscheint. Und am Ende ist dieser Minister »ein schwer verletztes Regierungsmitglied«.

In Michael Kumpfmüllers Roman Nachricht an alle hat in einem namenlosen europäischen Staat des beginnenden 21. Jahrhunderts ein Sommer der Unruhen begonnen: Lokomotivbauer und Müllabfuhr streiken, Grabsteine liegen auf Bahngleisen, Terroranschläge erschüttern die Hauptstadt. Ein neues Sicherheitspaket über die Videoüberwachung öffentlicher Plätze und die Speicherung von Telefonaten wird verabschiedet. Das Land könnte Deutschland, Kumpfmüllers Held Wolfgang Schäuble heißen.

Er heißt jedoch Selden und ist hilf- und humorlos. Er hat eine holzschnittartig zerbrochene Ehe und beginnt eine Affäre mit der Journalistin Hannah. Der Unruhen im Staat wird Selden nicht Herr, und am Ende des Romans kommt es nach einer doppelten Flut – Landstriche voller Wasser und das Blut aus Seldens Halsschlagader nach dem Attentat - zu einer doppelten Beruhigung: Selden und das Land genesen, ersterer mithilfe der Ärzte, zweiteres aus Gründen, die nicht erläutert werden.

Fernab dieser Welt beschreibt Kumpfmüller den Krieg, draußen auf den Straßen, die ersten Symptome, Aufstellung und Bewaffnung der Bataillone, personifiziert durch die Untergrundhelden Tick, Trick, Track, Mania, Joe, Tarsa und Rubber. So albern wie die Namen dieser kleinen Zerstörer, so unreif sind auch ihre gegen den Staat gerichteten Aktionen. Sie sprühen Parolen wie »Steht auf. Bildet Barrikaden. Versammelt euch.« Einer der Staatsgegner verbrennt sich bei lebendigem Leib auf einem öffentlichen Platz, weniger politisches Statement als vielmehr Kunstaktion. Die kleinen Enten und ihre Kollegen sind nicht mehr als pubertierende Aufrührer, die eher wegen einer Frau als wegen einer Veränderung des Staats nachts durch die Straßen schleichen. Und so ist auch das Attentat, das am Ende des Buches auf Selden verübt wird, lediglich das Werk einer Geistesgestörten, die von »grünen Männchen« faselt.

Genauso zahlreich wie die Ereignisse, die Kumpfmüllers Minister widerfahren, sind auch die Stimmen, die in Nachricht an alle zu Wort kommen: Es wird nicht nur von Selden und der ehrgeizigen Journalistin, von den Gegnern des Staats und den auf Staatskosten lebenden Schmarotzern, sondern auch von Sicherheitsbeamten und Scheißbürokraten, von Steuerzahlern und sogar von Selbstmordattentätern berichtet. Kumpfmüllers klischierte Frauenfiguren überlegen, »welche Strampler sie eines Tages kaufen würden«, oder stellen fest, dass sie »doch jemand für den Garten« sind. Die Männer dagegen sind immer unterwegs, im Flugzeug, im Auto, am Ohr das Telefon, die Finger SMS-tippend auf den Tasten des Handys, trotz ihrer ständigen Aktivitäten bleiben sie eigenschafts- und energielos. So führt Kumpfmüller in Nachricht an alle dem Leser zwar anschaulich die globalisierte Welt und den möglichen Alltag eines Politikers vor. Das Vorhaben, politisch und realistisch zu schreiben, ist dem Roman jedoch anzumerken – er ist ein zwar gut konstruierter und streckenweise spannender, dennoch blutleerer Bericht.
Michael Kumpfmüller, geboren 1961 in München, lebt als freier Schriftsteller in Berlin. 2000 erschien sein Roman Hampels Fluchten, 2003 sein zweiter Roman Durst. Für das noch nicht abgeschlossene Romanmanuskript von Nachricht an alle wurde Michael Kumpfmüller mit dem Alfred-Döblin-Preis 2007 ausgezeichnet.

Katharina Bendixen     25.03.2008

Katharina Bendixen
Prosa
Reportage
Gespräch