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Theo Breuer
Jahrbuch der Lyrik 1979 – 2011CLAASSEN LUCHTERHAND C.H. BECK S. FISCHER DVAEin alphabetischer Staffellauf mit Wort-, Namen-, Zahlenspielen
1 Anthologie / Axel · Ästhetik / Antiquariat
Was uns fehlt
Seit 1994 besorge ich mir das neue Jahrbuch der Lyrik jeweils unmittelbar nach Erscheinen. Ich stöbre zudem in Kölner und Berliner Antiquariaten, und es gelingt mir, die elf von 1979 bis 1992 veröffentlichten Bände nach und nach an Land zu ziehen, so daß die bis 2011 erschienenen 28 Jahrbücher mit den immer mal wieder subtil veränderten Titeln einträchtig im kleinen Sistiger Lyrikkabinett beieinanderstehen – etwa so:
2 Antpöhlers Art – Andreas' Art Die rasante Entwicklung der Lyrik im deutschen Sprachraum, die gegen Ende der 1980er Jahre gleichsam mit quietschenden Reifen durchstartet, zu neuen Ufern - ins Offene - aufbricht (Kling, Grünbein, Papenfuß, Waterhouse preschen voran) läßt sich beim Vergleich der 28 Jahrbücher auf fabelhafte Art und Weise ablesen. Das erste Gedicht in der Geschichte des Jahrbuchs der Lyrik – Jahrbuch der Lyrik 1 · 1979 – ist von Hajo Antpöhler: ENDE MÄRZ,
Das Gedicht zitiere ich immer mal bei Telefonaten mit Schreibkollegen. Die Reaktion ist stets die gleiche: Am anderen Ende wartet der Gesprächspartner darauf, daß ich fortfahre, und ich sehe mich gezwungen, jedesmal zu versichern: Nein, hier fehlt nichts. Das vorläufig letzte Gedicht – aus dem Jahrbuch der Lyrik 2011 – klingt so: Geschäftsbericht
3 Buchwalds Befunde Was ein gutes oder gelungenes Gedicht ist, ist so allgemein und pauschal nicht zu sagen. Eine normative Poetik war schon vor 200 Jahren ein dubioses Unterfangen. Nicht umsonst ist Georg Lukács, der das als letzter (für den Roman) versucht hat, damit jämmerlich versackt im ideologischen Sumpf. Für schlechte Gedichte dagegen gibt es deutliche Anhaltspunkte: schiefe Bilder, ungenaue Sprache, Denk- und Sprachklischees, Bestätigung und Verdoppelung des Allzubekannten. Alarmsignale sind z.B. ungenaue Wie-Vergleiche, platte Metaphern, beliebige Zeilenbrechungen, Verbindungen von Abstraktem und Konkretem wie z.B. „im Spinnennetz meines Vergessens“, romantisierendes Poeteln besonders bei Liebesgedichten, ideologische Phrasendrescherei oder platte Nachahmung. Wer heute noch so dichtet wie der Freiherr Joseph von Eichendorff 1812, hat nicht alle Tassen im Schrank. Die Welt sieht anders aus inzwischen. Das immer wieder Wunderbare an gelungenen Gedichten ist, daß sie mit den Mitteln der Sprache etwas ausdrücken, etwas formulieren können, was wir ›irgendwie‹ eher vage und gefühlsmäßig geahnt haben, aber nie wirklich fassen, festhalten, uns bewußtmachen konnten: ein Lebensgefühl, eine Zeitstimmung, einen komplexen Denkzusammenhang. Daß sie ein Bild oder einen Klang dafür gefunden haben, was wir immer schon über die Welt wissen wollten, aber nie zu denken wagten. Christoph Buchwald · Jahrbuch der Lyrik 2005 Ich habe in meinen Nachbemerkungen verschiedentlich gegen den - auch unter klugen Lesern verbreiteten – Irrglauben polemisiert, Gedichte seien letztlich eben doch Geschmacksache. Es gibt, wie in allen Genres und Künsten, Meisterwerke, Meilensteine, Kunststücke, Halbfabrikate, Fehlkonstruktionen, kleine Webfehler, Verbogenes, Materialermüdung und, natürlich, Ausschuss und Schrott. Voraussetzung zur Vermeidung von Letzterem sind: Kenntnis des Materials, des Handwerks und der Traditionen. Die Genies, die voraussetzungslos und out of the blue ein meisterhaftes Gedicht verfassen oder ein Violinkonzert komponieren können, kommen in unserer Galaxie relativ selten vor. Christoph Buchwald · 25. Jahrbuch der Lyrik Durch die Umstellung der Gedicht-Einsendungen ausschließlich per E-Mail haben deutlich mehr Autoren eingeschickt als bei früheren Jahrbüchern, zu unserer Verblüffung jedoch nicht die unter Dreißig-, sondern die über Fünfzigjährigen. Das gleiche lässt sich auch nach der endgültigen Auswahl der Gedichte konstatieren; von den 140 in diesem Jahrbuch der Lyrik vertretenen Autoren sind siebzehn 1980 oder später geboren (circa zwölf Prozent). Sagt uns das etwas über einen möglichen Zusammenhang von Alter und Gedichteschreiben, über das Interesse für Lyrik bei der Generation der nun circa Dreißigjährigen, das Reflexions- oder Ausdrucksbedürfnis der Älteren, oder spiegelt es einfach nur die Tatsache, die jeder Buchhändler bestätigt: die Käufer (und Leser?) von Gedichten sind eher älter als dreißig? Christoph Buchwald · Jahrbuch der Lyrik 2011
4 confessional poetry […] heute ist mir bei der lektüre von anne sexton zum ersten mal aufgefallen, dass ich seit anderthalb jahren confessional poetry schreibe, mittlere ergebnisse bislang, dennoch habe ich das gefühl, ich kann dieses genre noch mal ein kleines stück vorwärtstreiben, auf seine grenzen hin; oder auch nicht. was mir immer wieder bauchschmerzen bereitet, ist der ästhetizistische konsens meiner generation. soll es das schon gewesen sein? was ist mit den drängenden notzuständen der seele, terrorisiert vom gedicht? was mit den schmerzhaft gelingenden lieben, den leerlaufenden trieben, terrorisiert vom gedicht? als ich neulich den polnischen dichter adam wiedemann übersetzte, wurde mir wieder mal klar, wie frei wir eigentlich sind, und wie gebunden, terrorisiert vom gedicht? […] Andre Rudolph · Jahrbuch der Lyrik 2011
5 Dichternamen Michael Arenz · Rose Ausländer · Hans Bender · Wolf Biermann · Beat Brechbühl · Werner Bucher · Joseph Buhl · Erika Burkart · Hanns Cibulka · Zehra Çirak · Klaus Peter Dencker · Hilde Domin · Hans Eichhorn · Erwin Einzinger · Peter Engstler · Peter Ettl · Jan Faktor · Jörg Fauser · Günter Grass · Helmut Heißenbüttel · Dieter Hoffmann · Sabine Imhof · Peter Jokostra · Heinz Kahlau · Rainer Kunze · Richard Leising · Christoph Leisten · Peter Maiwald · Dieter P. Meier-Lenz · Frank Milautzcki · Heiner Müller · Peter Horst Neumann · Andreas Noga · René Oberholzer · José F. A. Oliver · Johannes Poethen · Reinhard Priessnitz · Christa Reinig · Francisca Ricinski · Doris Runge · Robert Schindel · Gerd Sonntag · Peter Turrini · Günter Ullmann · Olaf Velte · Jürgen Völkert-Marten · A. J. Weigoni · Wolf Wondratschek · Peter-Paul Zahl · Maximilian Zander gehör(t)en zu den in der Lyrikwelt beheimateten Lyrikerinnen und Lyrikern, von denen (bislang) kein Gedicht im Jahrbuch der Lyrik publiziert wurde. Notwendige Voraussetzung der Auswahl für das Jahrbuch der Lyrik ist die Einsendung von nicht in Einzeltiteln veröffentlichten Gedichten durch den Autor (nach offener bzw. persönlicher Einladung). Die im Zusammenhang dieses Textes belanglosen Gründe für die Abwesenheit von Gedichten vieler Autorinnen und Autoren sind mannigfaltiger Natur. Ich benenne die fünfzig Namen (mit denen ich naturgemäß die für sie stehenden Gedichte meine), um anzumerken, was auf der Hand liegt: Die lückenlose Bestandsaufnahme kann es in Lyrik-Sammelbänden nicht geben. Das liegt an den unterschiedlichsten Umständen, im einen Fall am Autor, im anderen am Herausgeber, im dritten an beiden – und schließlich, wie so oft im Leben, an irgendeiner banalen Unwägbarkeit. (Von wirkungslosen Wortgefügen ganz zu schweigen.) Möglichst exemplarisch verschiedene Spielarten der Lyrik im deutschen Sprachraum zu dokumentieren und in ihrer Entwicklung aufscheinen zu lassen, ohne unmittelbar auf Kanonbildung aus zu sein (unter aktiver Beteiligung der Autoren): So etwa sehe ich das Jahrbuch der Lyrik in seiner Grundkonzeption, deren Verwirklichung zwangsläufig Namen zum Opfer fallen, auf die ich nicht verzichten will und bei deren Abwesenheit im Register ich zusammenzucke. Zu diesen Nebenwirkungen und jenen Risiken beim Umgang mit Lyrik und Sammelbänden fragen Sie den Herausgeber von Der Große Conrady, dem 1378 großformatige Seiten zur Verfügung standen und der im Vorwort zur neuen Ausgabe von 2008 freimütig einräumt: Immer ist die Sichtweise eines Anthologisten begrenzt. Und er hat auch einzugestehen, dass Zufälligkeiten bei der Auswahl, sogar Willkür ihr durchsichtig / undurchsichtiges Spiel treiben. Stets kann ihm Ungerechtigkeit bescheinigt werden.
6 Eichelhäher · Exemplarisch2 Es dengelt,
Exemplarisch bedeutet zum einen ›mustergültig‹, ›vorbildlich‹, zum anderen ›stellvertretend‹, ›als Beispiel dienend‹. Wenn vom exemplarischen Charakter eines Lyriksammelbands die Rede ist, schwingen stets beide Konnotationen mit. Als Jahrbücher konzipierte Anthologien vermitteln die nach Einschätzung der Herausgeber besonders gut geglückten, originellen, ›mustergültigen‹ Gedichtbeispiele eines Jahrgangs, aber auch lebendige lyrische Texte, die zwar noch nicht vollkommen ausgereift sein mögen (welche Gedichte sind das schon?!), die jedoch von einer ausdrücklichen Attraktivität sind, der sich die Herausgeber – bei allen erkannten kleineren Mängeln – nicht entziehen wollen und die sie dem Leser gleichsam als Rezeptions- und vielleicht auch Diskursangebot zur Verfügung stellen. Die gelungene Anthologie wird stets aus einer aktuell und frisch wirkenden Auswahl dieser und jener Gedichte bestehen. Die mir durch Publikation an anderer Stelle bekannt gewordenen und hier nicht veröffentlichten neuen originellen Gedichte des Jahrgangs lese ich simultan als Subtext mit, wodurch eine zusätzliche Spannung entsteht, indem aus der Lektüre der Einzeltitel und Anthologien eines Jahrgangs mein ›idealer‹ Lyriksammelband entsteht. Daß die grundsätzlich stets zu wenigen Plätze im Jahrbuch in jedem Jahr viel zu schnell besetzt sind, sollte diejenigen, deren Gedichte keine Berücksichtigung gefunden haben, nur anspornen, es den Herausgebern der nächsten Ausgabe erst recht zu zeigen. Für die Einschätzung der lyrischen Substanz des Jahrbuchs, dessen Herausgeber sich auf Gedeih und Verderb (mit dem wahrscheinlichen Wissen um in ihren Augen ›wertvollere‹ Werke) den Gedichten auszuliefern haben, die die Autorinnen und Autoren einsenden, kann die Präsenz bzw. Absenz des eigenen Gedichts (die vielfach Empfindungen wie Freude bzw. Frustration freisetzt) keine wesentliche Rolle spielen. Im Leben geht es oft ums Ganze, in der Lyrik immer. Ich habe mich über viele Jahre mehr oder weniger ausschließlich als Leser des Jahrbuchs der Lyrik gesehen und bin der offenen Einladung, Gedichte zur Veröffentlichung im Jahrbuch einzusenden, nie gefolgt. In den letzten Jahren taucht jedoch hin und wieder der Wunsch auf, in einem lyrischen Jahrbuch, das einen so breiten Raum in meiner Lyriksammlung einnimmt, doch einmal mit einem Gedicht vertreten zu sein. Schließlich schicke ich erstmals für das Jahrbuch der Lyrik 2010 eine kleine Gedichtauswahl an die Redaktion, von der, wie ich spätestens bei der Lektüre neun Monate später feststelle, kein Gedicht ausgewählt wird. Für das Jahrbuch der Lyrik 2011 reiche ich den eigens zu diesem Anlaß verfaßten Essay Die eine oder andere Mutmaßung über das zeitgenössische Gedicht sowie u.a. das Gedicht admission free and daily open to the public ein, die nun beide im Jahrbuch der Lyrik 2011 abgedruckt sind.
7 Fragiles Fragment. Revisited Das die Vielgestaltigkeit der Lyrik im deutschen Sprachraum konzentrisch umkreisende Essaygedicht Fragiles Fragment ist eine Hommage an Anthologisten wie Hans Bender (Widerspiel · In diesem Lande leben wir · Was sind das für Zeiten), Christoph Buchwald (Jahrbuch der Lyrik), Karl Otto Conrady (Der Große Conrady) und Axel Kutsch (Versnetze), die mit ihrer Editionskunst das Spektrum der Lyrik im deutschen Sprachraum auf beispielhafte Art unermüdlich darstellen bzw. dargestellt haben und so die Lyrik entscheidend gefördert und ins Bewußtsein der Leser gehoben haben. Fragiles Fragment (für diesen Essay erneut leicht überarbeitet) konnte nur entstehen unter dem Einfluß der gleichsam chronischen Auseinandersetzung mit Sammelbänden dieser Art, denen ich im stillen viele weitere – von Menschheitsdämmerung über Transit, Museum der modernen Poesie, Luftfracht bis Lyrik von JETZT und Lied aus reinem Nichts (usw.) – beigeselle. Deutlich mehr zu Anthologien und Anthologisten ist dem in erster Linie den notorischen Gedichtsammlern Buchwald, Conrady und Kutsch gewidmeten Kapitel Wir sammeln, bis uns der Tod abholt auf den Seiten 301 bis 352 der Monographie Aus dem Hinterland. Lyrik nach 2000 oder den im Poetenladen veröffentlichten Essays Versnetze über den Sprachraum legen, Lyrikgetwitter sowie Marginalie zum Gedicht in drei Schritten. Zeitgenössische Lyrik im deutschen Sprachraum 2010 zu entnehmen. fragiles fragment sentenz vom gedicht im deutschen sprachraum nach 2000 The poem is a machine made out of words
das spektrum des zwischen hinterland- und großstadtstraßenflucht schwingenden, einsilbig oder kakophon, fest- oder freimetrisch, alliterierend oder assonant, (binnen-)gereimt oder prosanah, karg oder simultankaskadisch, luftig, licht und klar oder geheimnisvoll, mysteriös und rätselhaft, hochpoetisch klingend oder antilyrisch gebrochen, überhitzt oder unterkühlt, synästhetisch oder katachresisch, standardisiert, wortspielerisch oder dialektal, leichtfüßig oder verschleppt, schlicht oder krass, rotzig oder erhaben, jambisch (trochäisch) oder daktylisch (anapästisch), erdig oder intellektuell, ernst, finster, trocken oder ironisch, sarkastisch, zynisch, schwärmerisch oder nüchtern, herb oder sanft, heiter oder hypochondrisch, lässig oder forciert („usw.“) ge|form(ulier)ten, jedes banale und bedeutsame ding des mikro- oder makro-daseins als ECU oder aus der totalen in den blick nehmenden, vielfach konterkarierenden gedichts in diesen zeiten der nur noch ganz kleinen verschiebungen reicht vom eingewurzelten strophengedicht zur experimentellen collage und visuellen bricolage, vom anagramm übers leipogramm zur paragrammatischen verballhornung, vom kreuzgereimten zum alltagsparlando, vom haiku übers akrostichon zu ode, sestine, sonett und terzine, vom aphorismus übers epigramm zum sprichwort, vom einwortgedicht über den vierzeiler zum erzähl- oder langgedicht, vom feurigen stimmungsbild zum wasserumwallten wortschwall, von politisch grundierten, mit suggestiven botschaften garnierten versen zur privaten poesie für öffentliche ohren, vom hermetisch übers doppelbödig zum offen strukturierten gedicht, vom block- zum flattersatz, von der assoziativ verketteten, überbordenden paradox-skurillen phantasmagorie zur (realität verfremdenden) lakonischen inventur, von beat über pop zum ätherischen gedicht, vom ungelegenen vers zum gelegenheitsgedicht, von sonnenstrahl über thunderstorm zu schneegestöber, von der innovativen sprachschöpfung zur kongenialen nachempfindung, vom mit der universalen lyrik aller länder und zeiten ringenden gedicht des poeta doctus zum naiven notat des art-brut-dichters, von der chiffrierten zur intertextuellen verflechtung, von der notgeborenen attacke zur müßigen besinnung, von allegorie über metonymie, metapher und emblem zum symbol zur bewußt davon befreiten lyrik, vom grotesken oxymoron zum skurrilen paradoxon, vom farbenfrohen nonsens zum schwarzweißen tiefsinn, von reiner lyrik über metalyrik (gedichtgedichte) zum didaktischen lehrgedicht, vom stillen und kurzen, um eine einzige metapher rankenden gedicht zur hektisch-wilden, übers ganze blatt und darüber hinaus sich windenden montage oder endloszeile, vom stakkato zum geschmeidigen, vom surrealen purzelbaum über dissonanz und lautpoesie zur volksliedstrophe, von der urbanen häuserzeile zur rustikalen, zeitgemäß fragmentierten bzw. verfremdeten sumpfdotterblume im schneegestöber 2010
8 Gelbhalsmaus · Geschiebemergel Résumé
9 Herausgeber. Handschrift in memoriam rainer malkowski
In Lyrikstationen 2008 stelle ich das Jahrbuch der Lyrik 2008 vor. Da heißt es u.a.: Während ich „Anschauen, ein Ausland“ von Michael Lentz lese, fühle ich mich auf wundersame Weise umarmt, Jutta Overs „Brachvogel vor Einsatz des Regens“ nimmt mich auf seine Flügel, dieweil Johannes Kühns lakonische „Bescheidung“ mich zurückholt auf den Boden der nicht immer fröhlichen facts of life. Ich vergleiche die unterschiedlichen Handschriften der beiden Herausgeber Christoph Buchwald und Axel Kutsch und geselle dem Jahrbuch der Lyrik 2008 und Versnetze einen dritten (virtuellen) Sammelband bei, in dem sich ausschließlich Autorinnen und Autoren finden, die in keinem der beiden seit Jahrzehnten nahezu jährlich erscheinenden Jahresüberblicke vertreten sind. Dieses Spielchen wiederhole ich hier und heute, gleiche die Namen der 138 im Jahrbuch der Lyrik 2011 mit den 211 in Versnetze_drei vertretenen Beiträgern ab, wandre die Regalen entlang, blättre in Büchern, lese mich in Gedichten fest und entscheide mich – exemplarisch 111 mehr oder weniger bekannte Sprachspielerinnen und Sprachspieler verschiedenster Provenienz benennend – für diese aus jung und alt zusammengestellte Crew des Lyrikjahrgangs 2011, um auch an dieser Stelle wieder einmal zu zeigen, wie viele aktuelle originelle Lyrikstimmen im deutschen Sprachraum ertönen: Kurt Aebli · Henning Ahrens · C. W. Aigner · Richard Anders · Jürgen Becker · Margot Beierwaltes · Paulus Böhmer · Mirko Bonné · Elisabeth Borchers · Nora Bossong · Volker Braun · Zehra Çirak · Franz Josef Czernin · Daniela Danz · Uwe Dick · Stefan Döring · Michael Donhauser · Kurt Drawert · Alex Dreppec · Anne Duden · Oswald Egger · Hans Magnus Enzensberger · Daniel Falb · Gerhard Falkner · Gerald Fiebig · Christian Filips · Kersten Flenter · Franzobel · Walter Helmut Fritz (1929–2010) · Sylvia Geist · Elfriede Gerstl · Marianne Glaßer · Nora Gomringer · Greta Granderath · Durs Grünbein · Jürg Halter · René Hamann · Martina Hefter · Rolf Hermann · Andrea Heuser · Hadayatullah Hübsch (1946-2011) · Felix Philipp Ingold · Jayn-Ann Igel · Roman Israel · Hendrik Jackson · Ilse Kilic · Barbara Maria Kloos · Barbara Köhler · Uwe Kolbe · Thilo Krause · Helmut Krausser · Thomas Kunst · Christine Langer · Michael Lentz · Swantje Lichtenstein · Johann Lippet · Kurt Marti · Christoph Meckel · Frank Milautzcki · Gert Neumann · Franz Mon · Alexander Nitzberg · Helga M. Novak · Brigitte Oleschinski · José F. A. Oliver · Jutta Over · Bert Papenfuß · Dirk von Petersdorff · Holdger Platta · Matthias Politycki · Marion Poschmann · Christa Reinig · Nikola Richter · Monika Rinck · Horst Samson · Angela Sanmann · Joachim Sartorius · Rainer Schedlinski · Hansjörg Schertenleib · Sabine Schiffner · Robert Schindel · Evelyn Schlag · Dieter Schlesak · Ferdinand Schmatz · Nathalie Schmid · Stefan Schmitzer · Christian Schloyer · Sabine Scho · Katharina Schultens · Armin Senser · Michael Stauffer · Ludwig Steinherr · Rainer Strobelt · Christian Teissl · Uwe Tellkamp · Jürgen Theobaldy · Thien Tran (1979–2010) · Hans-Ulrich Treichel · Sandra Trojan · Christian Uetz · Anja Utler · Raphael Urweider · Florian Voß · Peter Waterhouse · Fritz Widhalm · Lino Wirag · Ror Wolf · Paul Wühr · Michael Wüstefeld · Judith Zander · Ulrich Zieger Der überwiegende Teil der hier Nominierten ist bekanntermaßen mehr oder weniger oft im Jahrbuch der Lyrik, in Versnetze (oder beiden) vertreten und gehört zum Arsenal zahlreicher Sammelbände von Neubuch über In diesem Land bis Echtermeyer oder Der Große Conrady (um nur ein paar Anthologien aus den letzten Jahren zu benennen), aber hier soll es um die kleine Momentaufnahme 2011 gehen – die erneut bestätigt, was ich seit Jahren denke, empfinde und notiere: Die Lyrik im deutschen Sprachraum ist auf breiter Front in guter Form. Es spricht für die Herausgeber, daß sie stets auf der Suche nach der überraschenden Mischung sind und die Gedichte augenscheinlich im Vordergrund des Interesses stehen, unabhängig von dem, der sie geschrieben hat. Oder anders ausgedrückt: Wenn die Herausgeber auf alle oben Genannten (und mehr) verzichten und dennoch mit dem Jahrbuch der Lyrik 2011 ein akzeptables, lebendiges, originelles Bild der zeitgenössischen deutschsprachigen Lyriklandschaft entwerfen, kann es um das in deutscher Sprache verfaßte Gedicht nach 2000 so schlecht nicht bestellt sein. So mache sich jede Leserin, jeder Leser ein eigenes Bild.
10 Idee Die Idee, dass ein Lyrikjahrbuch nur „repräsentative“, ja, gar „beste“ Gedichte würde zeigen wollen, war mir, ehrlich gesagt, von Anfang an suspekt, zu groß sind ja die Limitierungen im Auswahlverfahren (das Jahrbuch ist keine umfassende Auswahl-Anthologie aller veröffentlichten zeitgenössischen Gedichte etc.). Aus demselben Grund kann man das Jahrbuch nicht als ästhetisch-poetologisches Statement der Herausgeber lesen – was auch immer man sich vielleicht vornimmt, alles steht und fällt mit den Texten, die eingesandt oder eben, auch auf Nachfrage, nicht eingesandt werden. Zudem bringt, wie Ulf Stolterfoht schon anmerkte, der Auswahlprozess „die eigenen ehernen Kriterien zumindest ins Wanken“, also eine Form von Seegang. Trotz allem wird von vielen Dichtern die Institutionalisierung („drin sein“, „Ritterschlag“) oder wahlweise Absägung („Cliquen- und Kartellbildung“) der Sammlung betrieben – was ihr unglücklicherweise den Charakter einer Festung gibt und ihr, wie ich finde, einiges von ihrer möglichen Offenheit Dynamik, Durchlässigkeit zu nehmen droht. Uljana Wolf · Jahrbuch der Lyrik 2009
11 Jahrbuch der Lyrik 2011 vollendet der in Amsterdam lebende Christoph Buchwald das sechzigste Lebensjahr. Seit 1979 ediert er das Jahrbuch der Lyrik. Bereits mehr als die Hälfte des Lebens (Mit gelben Birnen hänget / Und voll mit wilden Rosen / das Land in den See, / Ihr holden Schwäne, / Und trunken von Küssen tunkt ihr das Haupt / Ins heilignüchterne Wasser. // Weh mir, wo nehm ich / Wenn es Winter ist, die Blumen und wo / Den Sonnenschein, / Und Schatten der Erde? / Die Mauern stehn / Sprachlos und kalt, im Winde / Klirren die Fahnen) verbringt er mit ›seinem‹ Jahrbuch. ›Mein‹ Jahrbuch, ›dein‹ Jahrbuch? Jahrbuch ist für alle da! Alle? Ist der Gang durch das mit Gedicht, Anmerkung, Essay und Nachwort bestückte Jahrbuch der Lyrik von Band 1 bis 28 gleich einem Gang durch die Geschichte der Lyrik der letzten Jahrzehnte? Diese sehe ich, über den Daumen gepeilt, in drei Teilabschnitten: das beinahe bedächtig im freien Metrum auf deutschsprachiger Seenplatte – glatte Fläche ringsumher – dümpelnde, im Nachgang nicht dauerhaft wirkende Alltagsparlando der siebziger und achtziger Jahre (nach bzw. neben Born und Brinkmann – vor Kling und Papenfuß), der Aufbruch ins Offene während der feurigen neunziger Jahre mit radikalen, von Gipfelstürmern um Kling & Co. dem neuen Gedicht zugesetzten Geschmackverstärkern und subkulturell kurzzeitig für Furore sorgenden jungen Wilden des Social Beat, die forcierte, fetzige Fortschreibung nach 2000 mit lyrischen Ballungsräumen, Netzwerken, Parallelwelten und Steppenwölfen im Dichtungshinterland, die zu einer von Jahr zu Jahr sich potenzierenden Unübersichtlichkeit führt. Bisweilen habe ich die Faxen dicke, und ich verschanze mich, beispielsweise, hinter Jonathan Frantzens Freedom. Doch täglich lockt der Lyrikkalender – heute mit Jan Kuhlbrodt (durch ein anderes Land), gestern mit Elke Erb (und aus der Begegnung mit ihnen rückt Gewohnheit ein): Jeder Tag ein Gedicht … Nie also war das Jahrbuch der Lyrik so wertvoll wie heute. Es ist ein wesentlicher Wegweiser, der jeder interessierten Leserin, jedem neugierigen Leser reichlich Richtungen anzeigt. Daß die intensive Auseinandersetzung immer über ein Jahrbuch hinausführen muß, ist eine Binsenweisheit. Das Jahrbuch der Lyrik verstärkt den Geschmack auf mehr (auch und gerade wenn ich es gegen den Strich lese, Subtexte mir nur so zufliegen, Fragezeichen die Stirn umwölken) – auf den Einzeltitel, auf die Jahrzehnt-, Jahrhundert-, Jahrtausend-Anthologie, auf die Lyrik des anderen Sprachraums (dem in mehreren Jahrbüchern ein Kapitel eingeräumt wird): Nur so können wir die Geschichte der Lyrik in ihrer Gesamtheit erkennen, begreifen – erleben. Mit dem Lesen von Gedichten – beispielsweise im Jahrbuch der Lyrik – ist das wie beim Erwerb des Führerscheins: Kurven kriegen lerne ich erst, indem ich es laufend praktiziere.
12 Kontexte. Korrespondenzen The Walking Tree
Ich lese das Jahrbuch der Lyrik gleichsam so, wie ich die Bilder einer Ausstellung betrachte: Dort wandere ich stundenlang von Gemälde zu Gemälde, von Graphik zu Graphik, von Collage zu Collage, hier lese ich, mir die Nacht um die Ohren schlagend, Wort um Wort, Vers um Vers, Strophe um Strophe, Gedicht um Gedicht – in der Reihenfolge der seit 1979 gepflegten Buchwaldschen Hängung, die auf in Kapitel montierte Zusammenklänge setzt, die naturgemäß auch gern wider den Stachel löcken. So nehme ich direkt Anteil an den bewußt oder unabsichtlich hervorgerufenen kreativ-knorrigen (gelenkigen) Korrespondenzen der Gedichte, der Verse, der Wörter und dieser in frischfarbiger Umgebung immer wieder überraschend wirkenden Gestalt. Ich erlebe dabei eine luftige (bisweilen auch beschwerliche) Berg- und Talwanderung, wie ich sie bereits in Ohne Punkt & Komma. Lyrik in den 90er Jahren beschrieben habe: Gedichte lesen ist eine metabolistische Achterbahnfahrt, ein Auf und Ab, ein Quer und Kreuz durch die Großhirn-, Stammhirn- und Neokortex-Windungen, ich werde absolut, voll und ganz, radikal und total in Anspruch genommen, die Phantasie wird beflügelt, das Blut ist in permanenter Wallung, plötzlich runzle ich die Stirn, warum bin ich dermaßen wütend, und nichts als Fragen und Ratlosigkeit offenbaren sich: ganz wie im richtigen Leben. Ich lese die Gedichte im neuen Kontext durchweg ganz anders als im Gedichtbuch des Autors, wo sich die Gedichte einer Handschrift gleichsam wie von selbst zusammenfügen, während sie im Sammelband oft zu schrillen Farbformkombinationen montiert werden, die mich auf meiner Lesereise immer wieder neu ordentlich in Fahrt bringen.
13 Lyrikleselust Im Anschluß an die soeben in Kontexte. Korrespondenzen formulierten Gedanken drängt sich unversehens die Frage in den Vordergrund: Lesen Lyriker das Jahrbuch der Lyrik? (Besorgen sie es sich, wenn sie nicht darin vertreten sind?) Überhaupt – wer liest das Jahrbuch der Lyrik? Die gedruckte Auflage liegt, wenn ich richtig informiert bin, bei ca. 3.000 Exemplaren – viel, wenn ich diese Zahl mit jenen vergleiche, die wir von Einzeltiteln nach 2000 kennen, die sich – fast ausschließlich – im unteren dreistelligen Bereich bewegen. In den Kundenrezensionen bei Amazon lerne ich einige Leserinnen und Leser mit sehr interessanten Kommentaren kennen. Ich bin gespannt, mit wem ich (außer den üblichen Verdächtigen) in diesem Jahr ins Gespräch übers Jahrbuch der Lyrik kommen werde. Ein Gespräch über Lyrik ist (fast) kein Verbrechen. Oder doch? Christa Wißkirchen jedenfalls macht sich in der Glosse Scharfer, aromatischer Sud (Jahrbuch der Lyrik 2011, S. 223–226) fröhliche Gedanken zur lyrischen Schieflage der Nation.
14 Mediale Mechanismen Mehr und mehr verlagert sich lyrisches Geschehen ins Internet bzw. wird auf Events und Festivals erlebt. Eine neue Rezeption ist in den letzten Jahrzehnten entstanden – Leser wandern weg vom gedruckten hin zum am Bildschirm aufscheinenden bzw. als Performance präsentierten Wort. Für die kurze Form des Gedichts scheint das Internet als Medium und Forum ein geradezu ideales Medium zu sein. Trotz dieser Mutmaßung werden jährlich mehr Lyrikbände gedruckt denn je – wenn auch in überschaubaren Auflagen oder auf BOD-Basis. Erworben werden Lyrikbände von immer weniger Menschen. Es gehört nicht zu den reflexartigen Reaktionsweisen der überwältigenden Mehrzahl der Menschen, sich beim Besuch einer Lyrikveranstaltung das dazugehörige Buch zu kaufen (wie ›man‹ eben im Kino unweigerlich den Eimer Popcorn, den Liter Cola kauft: Seitdem das Lichtspieltheater nicht mehr in erster Linie für den Film da ist, gehe ich nicht mehr hin, kaufe mir die DVD des Films und noch mehr Lyrikbände). Wenn Gedichtbücher besprochen werden, dann in erster Linie im Internet – obwohl auch die Wochenzeitung DIE ZEIT in den letzten Jahren mehrfach auf breitem Raum auf eine Art und Weise auf Lyrik aufmerksam gemacht hat, die zwar die Auflagen der Lyrikbücher nicht erhöht, dafür die Lachmuskeln ordentlich strapaziert hat. Herrlich. Da wird mit luftleeren Worthülsen hochgejubelt oder in großformatigen Photographien als Lyrikmodel präsentiert, was nicht Rang und Namen hat. Hochgejubelt (oder total verrissen) wird ja von den Medienmachern immer schon gern – aber auch gelesen? Wer wird nicht einen Klopstock loben?
15 Neugier, ungestillt. Jürgen Brôcan: Aber wo befindet sich das Gedicht heute, in Deutschland? Ein ketzerischer Gedanke zum Schluss: Die Poesie des Zwanzigsten Jahrhunderts hat mit gutem Recht und ungestillter Neugier viele neue Möglichkeiten erschlossen. Sind alle haltbar? Die Diskussion über „Dichtung heute“ müsste nicht nur formal argumentieren, sondern auch ein Instrumentarium entwickeln, das das Unwesentliche vom Wesentlichen trennt, hin zu einer Post-Banalität. Denn dem Gedicht in Deutschland fehlt manchmal Weite, Raum, es ist manchmal eine Kleinstaaterei in Wörtern, mit der Provinzhauptstadt des eigenen Kopfes. Kathrin Schmidt: Es gab schöne Entdeckungen. In nicht wenigen Stapeln mittelmäßiger Gedichte glänzte eines hervor. Sofort nach dem ersten Erlebnis dieser Art nahm ich mir vor, keinen Autor vor der letzten Seite seines eingereichten Manuskripts beiseite zulegen. Ich glaube, das habe ich durchgehalten. Mit dem Ergebnis, recht viele neue Namen ins Spiel gebracht zu haben. Das sollten wir zusammen zu Ende spielen: neugierig sein, wieder und wieder lesen, uns ärgern, aufhorchen, enttäuschte Miene machen, frohlocken – alles ist erlaubt. Wenn es nur die Spannung auf das Jahr danach erhält. (Montage aus: Jahrbuch der Lyrik 2011)
16 O-Ton: Gowohnhot · Doso · Obdoch · Loso Die guten Obdachlosen
17 Präzisionspaket · Punch · Pointengedicht Carsten Klook: In dem hier vorgelegten Paket gibt es sehr, sehr viel zu entdecken: die Sprache in ihrer – dem Journalismus wohltuend abgewandten – Präzision, den schönen Gedanken, den Lockruf der (vermeintlichen) Zeitlosigkeit, die so intensiv und schön gefühlte Vergeblichkeit allen Seins und des Schreibens allemal, die Lust am Weitermachen, der Marathon der Sekunden usw. usf. Steffen Rizz: Die Lyrik hat viele Provinzen, Subtilität und Geheimnis sind zwei ihrer traditionsreichsten. Stolterfoht preist das „Un-Geläufige“, das sich gegen das übliche Funktionieren und Verstehen von Sprache sperrt. Gerade in solcher Verweigerung besteht seiner Meinung nach die Chance auf Erkenntniszuwachs. Daher gilt der Punch auch und vor allem dem Cerebrum, des Autors wie des Lesers: Wirf die gewohnten Wortketten ab, frische deine Wahrnehmung auf! Leicht gesagt, schwer getan. Und nicht alle Texte lohnen ja die Mühe. Was Ann Cotten hier beiträgt, wird viele Leser bloß in den Tiefschlaf treiben. Wie anmutig bewegen sich dagegen die Motive durch Carl-Christian Elzes Sonett mit dem lapidaren Titel „es ist“. Ein wunderbares Ensemble bilden die drei aufeinander folgenden Gedichte von Lutz Seiler, die von Ortschaften und Ortsbezeichnungen handeln, vom Wohnen und Sprechen: „du mußt / für jedes wort die schwere / unterfangen, alles / was darunter ist, zu gast im ohr, an / deinem tisch.“ Der Einzelne und die Wörter, in denen er haust und in denen sich nach und nach die Erfahrungen eines ganzen Lebens konzentrieren, ein kiloschwerer Hauch – so präzise, so vieldeutig spricht davon nur Lyrik und nur die meisterliche. Wer aber mal seine Zähne beim Ausbeißen testen und erfahren will, wie ein Gedicht nach dem Leser schnappt und dann bockt, sollte sich die drei Texte von Marcel Beyer vornehmen, wahres Futter für ein ganzes Jahr. Man liest, man starrt, man fragt sich und puzzelt und wirft das Buch gegen die Wand. Trotzdem: schiere Magie, betörend. Daniel Graf: Ein Hit auch der „spaziergang“ von Carl-Christian Elze, der in Wirklichkeit eine tour de force ist, eine Jonglage mit dem Absurden und eine Demonstration dessen, was Dichtung zur Not auch an den Haaren herbeiziehen kann, wenn man ihre Mittel beherrscht. Und dann, drei Seiten weiter, Friederike Mayröcker: mannomann, welche Größe, immer noch. Überhaupt ist ein gehöriger Anteil Spiel und Sinnlichkeit in diesem Jahrbuch. Und Witz: als dialektales Pointengedicht bei Fitzgerald Kusz; als sensible Zeitdiagnose bei Martin Jankowski; als Tonspur in den gesellschaftskritischen Mixes von Gerald Fiebig und Tom Bresemann. Nicht zuletzt wartet die Anthologie mit ein paar beachtlichen „Entdeckungen“ auf. (Montage aus: Carsten Klook (textem) zum 25. Jahrbuch der Lyrik · Steffen Rizz (Titelmagazin) zum Jahrbuch der Lyrik 2008 · Daniel Graf (Titelmagazin) zum Jahrbuch der Lyrik 2009)
18 Quälgeister So kann man leben:
Wörter, Absätze, Kapitel, Zeilen, Verse, Strophen: Quälgeister, wohin ich schaue, wenn ich schreibe. Will ich nicht ›eigentlich‹ ein ›gemütliches‹ Leben führen??? (Nein.) Ich schreibe, um zu schreiben. (Die herrliche Frage: Warum schreiben Sie? Die einfache Antwort: Warum nicht?) Der inspirierende Augenblick, in dem mir ein Wort, ein Vers, eine Zeile zufällt: Urzelle des Gedichts, des Essays: schön. (Und ohne dieses Moment geht es bei mir nicht.) Gut wird es danach (Buchstaben geraten aneinander, / kämpfen / etwas aus · Rainer Malkowski), dann nämlich, wenn die blutsaugenden Geister quälen – rapping at my chamber door. Der Moment des Loslassens: pure Qual. (Also hinauszögern, hinauszögern: weiter am Text, wie ich in Jochen Schimmangs Gedicht im Jahrbuch der Lyrik 2004 lese.) 19 Quellgeister · Querschnitt Achtundzwanzig Q-Wörter in Gedichten des Jahrbuchs der Lyrik Es gibt Jahrbücher, in denen der Buchstabe Q so gut wie nie vorkommt, aber wenn, dann geht bisweilen die Post ab: Auf Quarksack möchte ich nicht mehr verzichten. Wählen Sie aus den 28 Funden – Quelle: Jahrbuch der Lyrik · querbeet) Ihren Favoriten – oder suchen / (er)finden einen dazu: Quack · Quadrate · Quälerei · Quallen · Qualen · Qualm · Quarksack · Quarsarchen · Quartier · Quastenmütze · Quatsch · Quatripeden · Quecken · Quellgeister · Quengelszungen · Querbeet · querfeldein · Querschnitt · querschnittslahm · Quichotte · quicken · quieken · Quille · Quintett · quirlig · Quietschlaut · Quitten · Quodlibet In den achtundzwanzig Jahrbüchern habe ich kein Gedicht gefunden, in dem mehr Q-Wörter vorkommen als in diesem: AUF DIE KNOCHEN gegangen
20 Randbemerkungen Sag mir nicht, wie Gedichte zu schreiben sind.
Harry Oberländer: Bei Rilkes Frage „Wer, wenn ich schriee, hörte mich denn?“ ist der Zweifel, dass da nichts ist, mitformuliert. Es ist der Zweifel der Moderne, der uns spätestens seit Jean Pauls Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab begleitet und Rilkes Frage ihre unvergängliche Aktualität verleiht. Dann hat diese schlichte Zeile Bobrowskis "Ich weiß, er versteht mich" keine theologische, sondern eine anthropologische Bedeutung. Ohne sie können wir nicht leben und keine Gedichte schreiben, selbst wenn wir allein sind im leeren All. Ulf Stolterfoht: Mir scheint sich diese Sensation der Un-Geläufigkeit am deutlichsten im Nicht- oder Kaum- oder Nicht-so-richtig-Verstehen zu manifestieren, während noch die überraschendste Pointe davon lebt, auf irgendeine Art und Weise, aber nun doch: verstanden zu werden. Credo: Das Verstehen in der Lyrik hat der Teufel gesehen! (Das Mystifizieren und Hineingeheimnissen natürlich auch, da es das Verstehen nur noch zusätzlich nobilitiert, indem es den Kreis der Sehenden im Nebel künstlich verknappt.) Dass sich unter den eingesandten Manuskripten einige Gedichte fanden, die sich einen Dreck ums Verstandenwerden scheren, und dass ein paar davon von uns bis dahin vollkommen unbekannten Autoren stammen, war für mich die allergrößte Freude. Axel Kutsch: Verstehen oder nicht verstehen – das ist doch nicht die Frage. Die Frage kann nur lauten: Gelungen oder nicht gelungen? Und da spielt es keine Rolle, ob ein Gedicht sich rasch erschließt oder verschlüsselt Rätsel aufgibt. Abgewrackte Pointen (und Metaphern) verursachen ebenso Brechreiz wie verschwommene Verse vorgetäuschter Dunkelheit, bei denen die Dürftigkeit jedoch nicht immer auf Anhieb zu durchschauen ist. Hans Thill: Soll keiner denken, daß er ein unverständliches Gedicht schreiben kann. Die vielfältigen Verknüpfungen der Sprache, Operationen der Logik, Assoziationen, Anklänge, Erinnerungen usw. eröffnen eine Welt unendlicher Möglichkeiten. Die Sprache ist ein menschliches Organ. Die Leserphantasie fügt sich einen Sinn zusammen, sie füllt die Lücken im Text wie der unter Amnesie Leidende seine Gedächtnislücken auf dem Weg der Konfabulation. Sie baut Brücken. So erfährt jeder Text unzählige Interpretationen, die Intention des Autors wäre nur eine unter vielen. Christoph Buchwald: Die poetologischen Konzepte, Sprech- und Denkweisen von Oskar Pastior, Karl Mickel und Robert Gernhardt (um drei zu nennen, die ihr Lebenswerk abgeschlossen haben), sind zu verschieden, als dass sie über den einen normativen ästhetischen Kamm geschoren werden könnten. Was anhand eines Gedichts dagegen durchaus formuliert werden kann, ist sein Misslingen, die Beschreibung dessen, was schief, ungenau, redundant, klischeehaft, banal ist und die ureigensten, die spezifischen Möglichkeiten des Gedichts nicht nutzt. (Montage aus: 25. Jahrbuch der Lyrik · Jahrbuch der Lyrik 2008 · 2009 · 2011) PS Wenn ich ein Gedicht schreibe, schere ich mich einen Dreck um den Faktor ›Verstehen‹ oder ›Nichtverstehen‹ usw. (Je länger ich die beiden Wörter reflektiere, um so stärker fließen sie unauflöslich ineinander.) Nachdem das letzte Wort des Gedichts gesetzt ist, lese ich es als erster Leser und staune: ein Gedicht. Der Gedanke, ob ich es verstehe (oder nicht), kommt mir auch jetzt nicht. Trotzdem verstehe ich natürlich manche meiner Gedichte (nicht). Ich verstehe (nicht), daß manche Leser sie auch verstehen wollen (oder nicht?). Beim Poesiefestival in Konstanz im November 2010, wo ich mich mit Ulf Stolterfoht und allen anderen 20 Autorinnen und Autoren nicht nur gut, sondern prächtig verstehe, rufe ich nach der passionierten Performance von Keston Sutherland und Ron Winkler, bei der die englischen, deutschen Wörter nur so auf mich niederprasseln, total begeistert in die Runde, daß ich nicht verstehe, daß Gedichte irgendetwas mit ›Verstehen‹ (also ›Nichtverstehen‹) zu tun haben sollen. Gedichte sind Gedichte. Ich verstehe in diesem manischen Moment selber (nicht), welcher Teufel mich reitet.
21 Statistik. Spielerei Der Anthologist braucht ein weites Herz,
Über 400 der bislang rund 850 Autorinnen und Autoren sind einmal im Jahrbuch der Lyrik vertreten, rund 250 zwei- bis viermal, etwa 120 fünf- bis zehnmal, um die 30 elf- bis fünfzehn Mal, weitere 10 sechzehn bis neunzehn Mal sowie 8 Autorinnen und Autoren zwanzig bis sechsundzwanzig Mal. Kein Autor ist in allen Jahrbüchern vertreten. Michael Buselmeier und Friederike Mayröcker sind mit 26 Beteiligungen dabei, es folgen Elke Erb (25), Ludwig Fels (24), Günter Kunert (23), Rolf Haufs (22), Oskar Pastior (22) und Harald Hartung (20). Diese Zahlen sprechen für eine Offenheit des Jahrbuchs, die ich lange Zeit so nicht erkannt habe. Das aktuelle 28. Jahrbuch vermittelt diese Tendenz zur Offenheit besonders deutlich: Von 138 Autorinnen und Autoren sind 48 zum erstenmal dabei. Unterschiedlichste Jahrgänge tummeln sich unter den Newcomern, eine erfrischend bunte Mischung von jung und alt. Mehr als 40 Autorennamen sind mir noch nirgendwo anders begegnet. Der Eindruck, daß es in erster Linie um die Gedichte geht, wird von Kathrin Schmidt im Nachwort des Jahrbuchs der Lyrik 2011 bestätigt: Freundinnen und Freunde hatten ebenso eingereicht wie Bekannte. Im Bemühen, das nicht zum Problem werden zu lassen, habe ich wirklich nur jene Texte ausgewählt, die mich überzeugten. Vielleicht habe ich es mir mit dem einen oder der anderen verdorben, aber (mich) nicht überzeugende Texte wären für die Autoren kein schönes Aushängeschild gewesen, fand ich. Zwar ist eine Ähnlichkeit meiner Person mit einer göttlicherseits installierten Messlatte einfach nicht vorhanden, aber wenn ich dieses Buch mit herausgeben soll, muss ich mich zumindest ein wenig ums Messlattenspiel scheren. Die Auswahl soll ja auch meine Handschrift tragen, durch meinen Filter mit all seinen Unwägbarkeiten und Fehlstellen so etwas wie einen persönlichen Einschlag erhalten. Und ein gutes Gedicht schreibt sich nicht alle Tage, manchmal nicht einmal alle Jahre! Was nun ein ›gutes‹ Gedicht ist, darüber gehen die immer wieder auch bloß menschlichallzumenschlichen Auffassungen der bislang dreißig Herausgeber und achthundertfünfzig Autorinnen und Autoren – bei aller Belesenheit, bei aller Erfahrung, bei allem Wissen, Können und Gespür um das unerhörte Wort, den gelungenen Vers, die herausragende Strophe, das einzigartige Gedicht – immer wieder radikal, total und meilenweit auseinander (wie die Randbemerkungen exemplarisch zeigen), um sich bei den einzelnen überragenden Gedichten, wortlos nickend, wie von selbst wieder zu treffen. So entsteht im Laufe der Jahre seit 1979 eine kleine Geschichte der Lyrik – exemplarisch, imponderabel, vital –, von der wir nie wissen, wie sie weitergeht. Ich bin gespannt auf kommende Überraschungen.
22 Texte · Tapfer · In der Tat Kathrin Schmidt: Mit der Menge der zu lesenden Gedichte wird zwar nichts einfacher, jedoch scheint sich das Hirn zu schärfen. Dachte ich jedenfalls. Schneller als zu Beginn hatte ich am Ende meine Entscheidungen gefällt, und dennoch fühlte ich mich dabei sicherer. Wie trügerisch das sein konnte, bewies mir Christoph Buchwald mit übersehenen Texten, die meine Aufmerksamkeit verdient hätten. Was mich tröstete, war, dass es ihm andersherum genauso ging. Hoffen wir also, dass sich das ausgeglichen hat und uns möglichst wenige Gedichte durch die berühmten Lappen gerutscht sind. Christoph Buchwald: Sämtliche bis Redaktionsschluß eingesandten Gedichte werden von tapferen Mitarbeitern des Verlages kopiert und an den Mitherausgeber geschickt, so daß der (oder die) unabhängig vom ständigen Herausgeber lesen und zuordnen kann: dem Stapel „auf jeden Fall“ aufnehmen, dem Stapel „vielleicht“ aufnehmen oder dem Stapel „kommt leider nicht in Frage“. Die Übereinstimmung der Auswähler liegt erstaunlich hoch, im Mittel der zwanzig Jahrbuchausgaben bei ca. 95%. Lyrik ist zum allergrößten Teil eben keine Frage des Geschmacks, sondern vor allem eine des Handwerks. Die differierenden 5% sind dann bei der Schlußredaktion der Herausgeber der poetologisch spannendste Part. Ulf Stolterfoht: Christoph Buchwald hat in der Tat eine tendenziell andere Auswahl getroffen, sei es, dass er Autoren vorschlug, die bei mir nicht auf dem „Auf-jeden-Fall-Stapel“ lagen, sei es, dass wir innerhalb der zugesandten Gedichte eines Autors verschiedene Gedichte präferierten. Wenn mich meine Erinnerung nicht täuscht, heißt das in Zahlen: Bei gut der Hälfte der in diesem 26. Jahrbuch der Lyrik abgedruckten Gedichte waren wir uns einig und hatten bei denselben Autoren dieselben Gedichte angekreuzt. Circa zehn Prozent waren beim Mitherausgeber allenfalls im „Vielleicht-Stapel“ zu finden, daß heißt: mehr oder weniger durchgefallen; die übrigen knapp vierzig Prozent der Gedichte waren wechselseitige Überzeugungsarbeit. […] Glücklich bin ich darüber, daß wir sehr rasch Wege gefunden haben, uns auch das jeweils Fernliegende und Abseitige einsichtig oder doch zumindest schmackhaft zu machen. (Montage aus: Jahrbuch der Lyrik 2003 · Jahrbuch der Lyrik 2008 · Jahrbuch der Lyrik 2011)
23 Unmögliches und es stimmt zum Verrecken Gedichte heute sind nichts anderes als Botschaften extraterrestrischer Saurier, ausgebrütet in ihren galaktischen Eiern durch die paar Jahrtausende Sprache und Schrift und kosmischer Musik. Alles, was universal ist, ist zehn oder hundert Meter weiter völlig unbekannt. Man sagt, man hat die Poesie im Bauch, dort, wo die Seele wohnt, nicht direkt mitten in der Scheiße, aber knapp daneben. Ab und zu darf jemand, der nichts dagegen hat, dass man ihn Lyriker nennt, aufsteigen, um dann von ein paar Germanisten gemustert zu werden, ob der Proband grübeltauglich sei. Den Taufschein unterschreibt der im Zweifelsfall wohlmeinende Literaturkritiker. Prügel und Knüppel schwingen all jene, die es nie schafften, ein (gutes) Gedicht zu schreiben, oder jene, die nie im Leben eines lasen. Und trotzdem: Hoch gepriesen entschwebt so mancher dorthin, wo pathosgeile Weiber rumhängen, scharf auf das letzte Gefühl. Der Markt für Gedichte ist ungefähr so gut wie der Markt für abgelaufene Schuhsohlen, aber immer wieder gibt es Leute, die sich ihre Flügel umschnallen oder barfuß über Aschefelder wandeln, dem ganzen Elend ringsum eine Kraft abgewinnend, durch die dieses Kinogefühl entsteht: so als ob jemand da droben auf der Leinwand etwas ganz und gar Unmögliches sagt – und es stimmt zum Verrecken. Ludwig Fels · Jahrbuch der Lyrik 2011
24 Verschiedene Verlage Der in Düsseldorf angesiedelte claassen Verlag entschließt sich 1979, mit Christoph Buchwald und einem von ihm ausgewählten Mitherausgeber das Jahrbuch der Lyrik zu publizieren – nicht ahnend, daß in Königstein im Taunus parallel ein vergleichbares Projekt in die Tat umgesetzt wird: Was hier Buchwald und claassen gemeinsam angehen, tun dort Athenäum und Karl Otto Conrady (der 1977 Das große deutsche Gedichtbuch herausgebracht hat, das heute als Der Große Conrady längst zu dem Standardwerk der Lyrik im deutschen Sprachraum geworden ist). Während das Jahrbuch der Lyrik (von dem claassen die ersten 3 Ausgaben publiziert) zum Langzeitstaffellauf wird, verabschiedet sich das Jahrbuch für Lyrik nach der dritten Ausgabe (die zweite von Conrady und Beate Pinkerneil, die dritte von Günter Kunert ediert). 1984 bis 1994 übernimmt Luchterhand (zunächst noch in Darmstadt, später in München beheimatet) das Jahrbuch der Lyrik für 9, 1995 bis 2004 C.H.Beck (München) für 10, 2005 bis 2009 S. Fischer (Frankfurt am Main) für 5 Ausgaben (darunter das 25. Jahrbuch der Lyrik mit den schönsten Gedichten aus 25 Jahren), um 2011 den Stafettenstab an die Deutsche Verlags-Anstalt in München weiterzureichen, die (abgesehen vom gleichsam aus der Reihe fallenden 25. Jahrbuch) das mit 272 Seiten und 138 Autorinnen und Autoren bislang umfangreichste Jahrbuch der Lyrik veröffentlicht – mit aus rund 900 Einsendungen ausgewählten Werken, die als Zeitzeugen für dieses Jahr stehen können – ein inspirierendes Panorama bislang unveröffentlichter zeitgenössischer Gedichte.
25 Wahlqualen Die Qual der Wahl ist nicht die Qual der Wahl
900 Einsendungen? (An die neuntausend Gedichte waren zu sichten, rechnet Kathrin Schmidt im Nachwort zum Jahrbuch der Lyrik 2011 vor, und bereits im Jahrbuch der Lyrik 2 von 1980 berichtet Christoph Buchwald von 7.000 eingereichten Gedichten.) Ich nehme einfach einmal ein Mittel von 7.936,5 eingesandten Gedichten pro Jahrbuch an und multipliziere diese Zahl mit 28. Der Taschenrechner beginnt zu summen, er schüttelt sich und wird warm in der Hand, bis er ächzend die Zahl 222.222 ausspuckt. Zweihundertzweiundzwanzigtausendzweihunderzweiundzwanzig. So viele Gedichte habe ich zwar auch gelesen, aber nicht als Manuskripte, sondern in Büchern, also ausgewählt, korrigiert, lektoriert, schön gesetzt und gebunden. Das bleibt immer noch geistige Knochenarbeit über weite Strecken, denn wie viele geglückte Gedichte sind darunter? Auf die Frage, ob Herausgeber von Lyrikanthologien Masochisten seien, antwortet Axel Kutsch ganz im Geiste des Radiosenders aus Eriwan: Im Prinzip nicht. Den Rest der Antwort können Sie sich denken – wobei das Fazit sehr positiv ausfällt: Allerdings bleiben immer genug annehmbare bis hervorragende neue Gedichte auch weniger bekannter Verfasser, mit denen man Jahr für Jahr lesenswerte und niveauvolle Anthologien füllen kann. Da kommt Entdeckerfreude auf, die für den vielen Schrott entschädigt. Die Menschen!
26 X für U Ach, wie bin ich der Dichter müde!
Warum sagtest du doch, daß die Dichter zu viel lügen? Warum? sagte Zarathustra. Du fragst warum? Ich gehöre nicht zu denen, welche man nach ihrem Warum fragen darf. Doch was sagte dir einst Zarathustra? Daß die Dichter zu viel lügen? – Aber auch Zarathustra ist ein Dichter. Glaubst du nun, daß er hier die Wahrheit redete? Warum glaubst du das? Aber gesetzt, daß jemand allen Ernstes sagte, die Dichter lügen zu viel: so hat er Recht, – wir lügen zu viel. Wir wissen auch zu wenig und sind schlechte Lerner: so müssen wir schon lügen. Und wer von uns Dichtern hätte nicht seinen Wein verfälscht? Manch giftiger Mischmasch geschah in unsern Kellern, manches Unbeschreibliche ward da getan. Und weil wir wenig wissen, so gefallen uns von Herzen die geistig Armen, sonderlich wenn es junge Weibchen sind. Friedrich Nietzsche · Also sprach Zarathustra · Von den Dichtern 27 MaYröcker, Friederike zum 10. Todestag von Ernst Jandl „gestern war ich auf dem Ätna droben, da
ist dir was so frag ich ihn, ich bin so allerhand, bin in den Berg
28 Zufall · Zusammenhang Der Text Jahrbuch der Lyrik 1979 – 2011, dem ich den Untertitel Ein alphabetischer Staffellauf mit Wort-, Namen-, Zahlenspielen gebe, fällt mir in den Tagen vom 15. bis 25. Februar 2011 zu. Bis zum 14. Februar ahne ich nicht, daß ich an den folgenden Tagen 28 Seiten dieser Art – exzerpierend, formulierend, montierend (immer wieder Sibelius' von Christian Ferras gespieltes Violinkonzert hörend) – niederschreiben werde. Der Himmel ist (obwohl ich ihn kaum zu sehen kriege: Die beiden Schreib- und Bücherzimmer liegen im Souterrain) immer heiter an solchen Zufallstagen, an denen ich unverhofft ein neues Dokument öffne und die ersten Wörter zu schreiben beginne. Ich schreibe, wenn die gute Gelegenheit sich einstellt, an die ich immer glaube, die naturgemäß aber auch immer wieder auf sich warten läßt. Naturgemäß? Königin Friederike Mayröcker schreibt immer: Tag und Nacht · unausgesetzt · von früh bis spät · beständig · ohne Unterlass · andauernd · fortwährend · stets · anhaltend · unaufhörlich · permanent – wobei ihre dichtung eine meinen hals ausrenkende höhe erreicht hat, die so sehr weiter zu steigern ihre absicht ist, daß sie das alter von 150 zu erreichen proklamiert hat · Ernst Jandl). Rund um die Uhr schreiben: eine Traumvorstellung. (Wann käme ich da zum Lesen???) Jedem seine Lebensweise. Im Gespräch mit Asta Scheib (am 17. Januar 1987) höre ich Thomas Bernhard sagen: Ich tue alles nur für mich selbst. Alle Menschen tun alles für sich selbst. Ob sie seiltanzen oder Brot backen oder Schaffner bei der Eisenbahn sind oder Kunstflieger. Nur bei Kunstfliegern gibt es Veranstaltungen, wo die Leute halt hinaufschauen. Während er schön fliegt, warten die darauf, daß er runterfliegt. Bei Schriftstellern ist das auch so. Im Unterschied zum Kunstflieger, der nur einmal herunterfliegt und dann meistens kaputt und tot ist, ist der Schriftsteller auch kaputt und tot, aber er wird immer wieder lebendig. Es gibt immer wieder eine Veranstaltung. Je älter er wird, je höher fliegt er. Bis man ihn eines Tages nicht mehr sieht und sich fragt: „Komisch, warum fällt er nicht mehr runter?“ Ich kann nur bestätigen: Ich tue alles für mich selbst. Auch diesen Text schreibe ich nur für mich selbst, und es ist ›sehr‹ schade, daß ich schon fast am Ende angekommen bin. Nach jedem zu Ende geschriebenen Text macht sich das Gefühl breit, es sei der letzte, den ich schreibe. Indem ich diesen mißmutigen Gedanken um 10 Uhr 20 am 22. Februar 2011 notier, klingelt's an der Tür, ich blick unwillkürlich von Bildschirm und Tastatur hoch aus dem Fenster in den blauen Himmel, spring die Treppe rauf, reiß die Tür auf, wohl wissend, wer bzw. was mich erwartet. Die Freude ist doppelt: Postbote Guido drückt mir, fröhlich lächelnd, zwei Büchersendungen in die Hand, in denen ich die neuen Gedichtbände von Michael Arenz – Noch nicht ganz aber fast – und Stefan Döring – morgestern – finde. Ich unterbreche die Schreibarbeit, setze mich vor die großen Fenster im Wohnzimmer, in das die reine Sonne (Horst Samson) auf kalte Hände scheint, greife zu der im Verlag Peter Engstler erschienenen blauen Broschüre Dörings (zum schreiben eines gedichts / braucht man nichts), gehe, bei diesem Reim, bei jenem Vers verharrend, einen wortschritt nach dem andern, sehe, am Ende, den satz der nur aus luft ist, werfe den Blick auf Uwe Pfeifers Frau mit Glas auf dem Umschlag der weißen Broschüre aus der Silver Horse Edition, lese das traurige Gedicht About Glass, das so vielversprechend beginnt: Ein Mann / jenseits der 50 / betritt einen Buchladen, verlasse mit dem Mann das Geschäft und lese weiter von der Welt aus Glas und – Gott. Ich schreibe, weil ich Vergnügen am Schreiben habe: Dieses Vergnügen empfinde ich besonders intensiv, wenn das Schreiben gleichsam reine Knochenarbeit ist, wenn ich – oft mit sehr kalten Händen und Füßen – dasitze, ratlos die Seiten rauf-, runterscrolle, rastlos vom einen in den anderen Raum haste, um in Büchern nach dem einen (oder dem anderen) Wort zu suchen – das erste Wort für die Überschrift dieser letzten Notiz fällt mir beim Blättern in Knaurs Großem Wörterbuch der deutschen Sprache zu – und schließlich – plötzlich finden die Wörter zusammen und klingen, wie ich es mir erhoffe, wünsche und vorstelle – doch wieder ein gutes Stück weiterzukommen. Den Bäckern, Schaffnern, Kunstfliegern und Schriftstellern möchte ich übrigens in diesem speziellen Zusammenhang die Herausgeber beigesellen, die auch alles für sich selbst tun, denn alle Menschen tun [ja] alles für sich selbst. Da darf ich trotzdem mal leise danke sagen, denn ohne die Herausgeber wären die Schriftsteller alle kaputt und tot – und würden nicht mehr lebendig.
PS Alle, deren Gedichte ich (zusammen mit dem jeweiligen Mitherausgeber) schnöde abgewiesen habe oder in Zukunft nicht berücksichtigen kann, bitte ich schon jetzt um Milde, Nachsicht und Vergebung. Auch vier Augen können irren. Christoph Buchwald · 25. Jahrbuch der Lyrik Abschied
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Theo Breuer
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