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Theo Breuer

Von Buch zu Buch
Von Theo Breuer

Lesezeiten 2011         Teil 1    2    3 



Juni · Brachmanoth


Also Fallspaltung.

– Fall A / OLD SCHOOL:
physikalistisch, positivistisch, mit Handlungsvorschrift, sprachkritisch, Marx, Sinnaufbau, mit Aha-Wirkung

– Fall B / NOW SCHOOL:
linguistisch, solipsistisch, mit Handlungsvarianz, dingkritisch, Platon, Sinnabbau, mit kaum Aha-Wirkung

Mir kommt nun Fall B als Glücksfall vor! Wo in Fall A Umwälzung das Ding ist: Landmann wird Vorbild, Fabrikfrau wird Idol usw. – sagt Fall B: Nimm nichts als wirklich wahr, nimms als Sozialkonstruktion – und dann hau drauf! Bums! Da spritzt dir das Konstrukt ums Haupt, was zu Totalchaos führt. Das Wort wird Part von Wälzung! Und dann? Dann sagt das Wort, was ist. „Ich“, sagt das Wort, „ich bin nicht das, was ich im Nachschlagbuch bin, also nicht das, was man so als normal annimmt – ich bin, was ich tatsächlich bin!“ Und was ist das dann – sag rasch an! „Gut: Ich bin Mischung aus Wort und Ding. In mir ist Wälzung schon drin. Und dramatisch Wirkmacht dito!“ Das klingt prächtig, nur schnall ich das noch nicht so ganz!

Ulf Stolterfoht


Laute/r Wörter

Vor lauter Wörtern, die ich lese, schreibe ich, Schostakovitschs Violinkonzert Nr. 1 a-moll op. 99 hörend, gehen mir zuweilen die Worte, die ich finden will, flöten. Vielleicht will ich auch nicht immer Worte finden. Kein ›vielleicht‹: In einem meiner Gedichte taucht nicht von ungefähr ein Mädchen auf, das / über Gedichte schweigen / will. Ich bin Leser von Beruf und »Dichter wider willen«, wie Vera Schindler-Wunderlich es einmal in einer E-Mail auf den Punkt bringt. Bensch, der zwar eher selten, aber durchaus intensiv Gedichte liest (er kennt sogar einige auswendig: Als ich einmal, wir sitzen bei einem Single Malt zusammen, was bedeutet, daß Kraus, der Teetotaller aus tiefster Überzeugung (die er offenbar mit zügellosem Verzehr von holländischem Lakritz kompensiert), nicht dabei ist, Morgensterns großes Lalula rezitiere, ist er hin und weg und begrüßt mich beim nächsten Treffen mit: Kroklokwafzi?, eine Frage, die ich gern mit Semememi! repliziere), verliert niemals ein sekundäres Wort über Gedichte.
»Alles bloß Aufguß, zweite Wahl, ist doch längst alles gesagt«, tut der immer erfolg­loser gewordene und mittler­weile von Hartz vier in einer Zweizimmerwohnung im nur sieben Kilometer von Sistig entfernten Schleiden lebende Architekt das Reden über Gedichte von vorn­herein als Geschwätz von gestern ab, er · will · Gedichte · lesen (basta), während Kraus durchaus zu einem bisweilen ins Toll­kühne aus­artenden Gedanken­austausch über Lyrik mit Apfel­schorle bereit ist. Dabei hat er sehr klare Vorstellungen von Gedichten, die er als solche anerkennt, und Texten, die für ihn, hoppla, »Müll« sind, »belangloses, einschläferndes, zeilen­brüchiges Gehäcksel«. (There is no darkness but ignorance, erlaube ich mir immer­hin – mit Ezra Pound – dazwischen zu denken.) Er wünsche sich eben weniger Braves, dafür mehr gegen den Strich Gebürstetes · wider den Stachel Löckendes · Beherztes · Liederliches · Heraus­for­derndes · Herbes · Wider­borstiges in der zeit­genös­si­schen Lyrik, wenn ich ver­stünde, was er meine. Ich nickte, dachte an Zvonko Makovic: Dein schönes Schrei­ben geht mir langsam auf die Nerven, / sagte er.


Widerborstig · Gipfelstürmerzeit

grind der alleen, granatsplittersouvenirs
Daniela Seel


Das mal dahingestellt sein lassend, ließ ich mir l|i|e|d|e|r|l|i|c|h genüßlich auf der Zunge zergehen, dachte an den blutigen Bomme und Tantenmörder, die Ballade von den Läster­zungen und Ophelia, le bateau ivre. Jaja, das waren Zeiten damals (und damals), deine »guten alten Zeiten«, als die Autoren noch schrieben, daß die Funken flogen, und heute sind andere Zeiten mit anderen fliegenden Funken, nein, vielleicht keine Gipfelstürmerzeit, oder doch?, die kannst du nicht einfach mal so herbeibeten, oder doch? (Über allen Gipfeln ist Ruh · ogottogott), na, jedenfalls, wir arbeiten dran, allerdings immer schön eingedenk Les Murrays Ansicht Aber immer wird sie sich seit­wärts bewegen, denn weder entwickelt sich die Dichtung, noch läßt sie sich voranbringen, und auch ›damals‹ hat es, naturgemäß, ›brave‹ Autoren gegeben, die sind naturgemäß längst vergessen, und ich stelle dir jetzt gern eine Anthologie »widerborstiger« Gedichte (vielleicht mit fragiles fragment als Vorwort) – darunter auch buchstäbliche Antilyrik (Michael Hamburger) bzw. Nicht-Gedichte (Gottfried Benn) – mit »beherzt« zu­packenden, »gegen den Strich gebürsteten« Sequenzen, »wider den Stachel löcken­den« Wörtern, »herben« Verben zusammen (so forciert Jan Wagner fortwährend die Suche nach ›widerborstigen‹ Reimen).


Allemann bis Zünder

Hört ihr das, so höhnen Honigprotokolle, […]
Monika Rinck


Lies mal, beispielsweise, Allemann · Ames · Anders (Wer der endgültigen Stille entgegensteht, gibt sein Gesicht auf, um dort ganz Ohr zu werden, wo es nichts mehr zu hören gibt) · Böhmer · Breuer · Bucher · Cotten · Czernin · Demuth · Dick · Don­hauser · Draesner · Dreppec · Erb · Falkner · Fels · Fiebig · Gabler · Genschel · Helminger · Hindrin­ger · Ingold liest du eh · Jackson · Janz · Kling zählt für mich vor­läufig auch zu den lebenden aktuel­len Autoren (hängt mit der Halb­wert­zeit seiner Gedichte zusammen) · Kunst · Lentz · Lichten­stein · Mayröcker · Novak · Ole­schins­ki · Oliver · Papen­fuß · Pohl · Ratz · Reinecke · Schittko · Schmatz · Schmidt · Stol­ter­foht · Thill · Traxler (Wie findet ein Gedicht ausserhalb eines Gedichts statt im Aussenleib) · Urweider · Utler · Voß · Weigoni · Winkler · Wühr · Zieger · Zünder – und tu dabei beim Lesen doch einfach mal so, als seien das gar keine Gedichte, was du da liest, denk wie Stefan Monhardt: Das Gedicht ist eine Luft­blase, ein Gerücht etwas Unmögliches, eigent­lich gibt es das Gedicht gar nicht, nicht immer soviel an ›Qualitätskriterien‹ denken, nicht immer so ›kontrollierend‹ oder vergleichend lesen, nein, einfach nur lesen, lesen, bis du kein Wort mehr verstehst, ich spüre Blut in den Kopf schießen, wie wird Kraus jetzt wohl reagieren, aber ich bin wieder nicht zu bremsen, der eine oder andere strickt viel­leicht mit heißer Nadel, na und, und wenn du unsere Texte nicht als Gedichte anerkennen kannst, welche Rolle spielt das denn überhaupt, wo und wie ich einen Text begriffsmäßig einordne? Text ist Text ist Text. Stolterfoht, bei­spiels­weise, finde ich total witzig, habe zwei Bände von ihm gebraucht, um das zu durchschauen, und wenn du die Geduld nicht aufbringen magst, bitte sehr.

Hat nichts mit Geduld, zu tun, seufzt Kraus nach einer Weile, in der ich nichts als das Pulsieren der Schläfen verspürte, eher mit Zeit, sitz halt den ganzen Tag an der Zahnfräse, und ich hab ja auch nur »mehr« gemeint, und außerdem: Du kennst mich doch. Weißt, wie ich den Jandl schätze, der ja auch noch ein Zeitgenosse ist, kommt mir vor, als sei er gar nicht gestorben 2000. Und von dir mag ich immerhin ein Gedicht, ist das denn gar nichts?
Ist das nun ein Rückzugsgefecht? So kenne ich Kraus sonst nicht. Liegt's an Weihnachten, das vor der Tür steht? Oder hab ich ihn etwa müde geredet?


Aber bitte mit Sahne

»Endlich mal jemand, der auf die Sahne haut«, schreibt Matthias Hagedorn, der exzel­lente Lyrik­kenner mit den gele­gentlich markigen Sprüchen (wir teilen mehr­heit­lich Ein­schät­zungen von Autoren, Büchern und Verlags­programmen, im Einzel­fall liegen wir aber auch himmelweit aus­einander: Während ich, beispiels­weise die Gedichte und Romane Herta Müllers brillant finde, nicht genug davon kriegen kann und mich – als jemand, der Lite­ratur­preise auch skeptisch sieht – riesig über die Verleihung des Nobel­preises an die Verfasserin von Atemschaukel und vielen anderen atem­berau­benden Büchern gefreut habe, schätzt er Elfriede Jelineks Werk über alles, mit dem ich wiederum mich gar nicht anfreunden kann, die Vergabe des Nobel­preises an sie hat mich richtig­gehend geärgert: Warum denn nicht Friederike Mayröcker, die nun end­gültig leer ausgehen wird, habe ich geschimpft) in der E-Mail vom 21. November, als ich ihm – zunächst unter Aus­lassung des versöh­nenden Finishs – berichte, daß Kraus sich wieder mal höchst tempe­rament­voll und plakativ über einen zeit­genös­sischen »Lang­weiler« geäußert habe, den ich ihm gezeigt hatte mit dem Hinweis, die durch­gängig binnen­gereim­ten, sich u.a. mit Kindheit, Adoles­zenz, deutscher Geschichte, Liebe, Natur be­fassenden, gleichsam neo­roman­tischen Gedichte von Norbert Hummelt seien vielleicht etwas für ihn.


Glücksmomente

Die Lektüre von Pans Stunde wartet für mich zwar nicht mit den erhoff­ten Über­raschun­gen auf, auf die ich, immer hungrig auf solche Molche, warte, Pans Stunde ist ganz der gute alte Hummelt, wie ich ihn seit längerem nun zu kennen glaube (in den Anfängen vor vielen Jahren schrieb er, natur­gemäß, ganz anders), auch Ann Cottens Fremd­wörter­sonette, Nora Gomringers Nachrichten aus der Luft, setzte nun ich zu einer der weit ausholenden Wortschwalle an, mit denen ich Gesprächs­partner, sorry, totreden kann, mea culpa, mea culpa, mea maxima culpa, zum Glück läßt Kraus sich nicht ›totreden‹, setzt mich im Anschluß einfach mit einer Gegentirade unter Druck, als ehemaliger Fußballer weiß er von Sepp Herberger, daß Angriff die beste Verteidigung ist, Marion Poschmanns Geister­sehen, Jan Wagners Australien (von letzteren schätze ich die vorherigen Bände mehr bzw. sehr: vor allem Grund zu Schafen, klasse, Probe­bohrung im Himmel, klasse) hätten mich, wie er wisse, auch im Vergleich zu einer Reihe anderer Gedichtbücher des Jahrgangs 2010 (Andreas Altmann, Das zweite Meer · Gerhard Falkner, Kanne Blumma · Michael Krüger,Ins Reine · Kathrin Schmidt, Blinde Bienen · Hendrik Rost, Der Pilot in der Libelle · Hans Thill, Museum der Ungeduld · Ron Winkler, Frenetische Stille), nicht ganz so gefes­selt wie, öffent­liche Meinung doch maß­geblich beein­flussende, Feuil­letonis­ten, Lite­ratur­kritiker und Juroren, bei denen ich gelegent­lich das Gefühl nicht loswürde, ein wenig mehr lite­rari­sches Brei­ten­spektrum könnte zu durchaus anderen Bewer­tungen, Ein­schätzungen, Urteilen führen, manche Worte erschie­nen mir floskel­haft, austausch­bar, lediglich behauptet, und überhaupt wünschte ich mir eine der guten Sache Literatur ange­messener und ausge­wogener austa­rierte Vertei­lung der Glücks­momente, die be­kannter­maßen bei Autorinnen und Autoren durch Einladung zur Beteiligung an Anthologien, Lite­ratur­zeit­schriften, Lesungen, Festivals, Ver­öffent­lichung von Einzel­titeln, Präsenz im Feuil­leton sowie Verleihung von Lorbeer und Sieger­palme ausgelöst würden, immer sei es letztlich dieses zu (fast) allen Zeiten etliche Jahre lang am Stück angesagte Dutzend, das im Fokus des betrieblichen Inter­esses stünde, alle anderen 500 bis 1000, an die ich allein bloß denke, können schaun, daß sie zumindest den einen oder anderen Krümel, der für sie alles andere als ein Krümel ist – was dem einen der gut dotierte Preis, ist dem anderen die Ver­öffent­li­chung eines einzigen Gedichts im Jahrbuch –, erhaschen, der ihnen mal glücklich vor die Fuße fällt, von denen ich als Nicht­zeitungs­leser regel­mäßig über die Lyrikzeitung erfahre, aber er, Kraus, kenne ja noch nichts von Hummelt, und das spräche wohl für eine ganz andere Rezeption dieses neuen Buches, und während ich an das ent­sprechende Regal­brett gehe, um mit guten Erin­nerungen in zeichen im schnee, Stille Quellen und Totentanz zu blättern, beginnt er, in Pans Stunde zu lesen, und zu meiner ziemlichen Verblüffung rümpfte er schnell die Nase: »Laß mich in Ruhe damit.« Ich frage, ob ihm eine Laus über die Leber gelaufen und ob das nicht ein vor­schnelles Urteil sei – was er sich umgehend ver­bittet und einen Schluck aus der Apfel­schorlen­pulle nimmt.


Amsel von Glanmore

»Versuch mir doch nicht schon wieder auf diese hinterfotzige Art und Weise vorzuschreiben, was ich gut zu finden habe und was nicht, dir fehlt eh immer wieder die notwen­dige Distanz, wenn es um deine tausendunddrei Dichter geht. Du findest doch alle/s gut«, entfährt es dem übrigens in einem Sistiger Dentallabor (ja, das gibt es seit einigen Jahren hier in diesem Nest auf 625 Metern Höhe, und da kommt Kraus eben eines Tages zur Tür raus, wir stoßen auf­einander, kommen ins Ge­spräch, und nun kommt er wöchent­lich einmal vorbei, bevor er in sein von den Eltern geerbtes Häuschen nach Düren fährt, wo er am 5.5.55 in eben dem Häuschen geboren wurde) arbeitenden Zahn­techniker, keinerlei Wider­spruch duldend (ich hätte eh nichts gesagt, machen mich diese Worte doch reichlich nachdenklich, brummle jedoch vor mich hin: Ja, ich finde alles gut – – – was gut ist), um sogleich, alles Gerede von eben vergessend, von Seamus Heaneys zweisprachig ediertem Gedicht­buch Die Amsel von Glanmore zu schwärmen, das ich noch nicht kenne und mir umgehend von ihm ausleihe (und doch erst im August lese). »Na dann, auf Nimmer­wieder­sehn«, drückt er mir das Buch, augen­zwinkernd, in die Hand.


Rumms

Nein, es hat keinen Zweck, Kraus von der Qualität dieses oder jenes Autors bzw. Gedichtbuchs überzeugen zu wollen, wenn er sich bereits eine Meinung gebildet hat. Forderte er beim letzten Treffen noch weniger Braves, mehr Beherztes, heißt es heute (wie ein Fahrstuhl rasen Kraus' Ansichten mit den ent­sprechenden Stim­mungen rauf und runter, da verlier ich auch schon mal, nein, nicht die Geduld, aber den roten Faden): »Egger und Kling, nicht mein Ding, und überhaupt: Die Pflege des Vor­urteils ist lebens­notwendig.« Rumms. Das sind die Momente, wo ich die Freund­schaft zwischen Kraus und mir vorsichtig hinterfrage. So darf er doch nicht über Autoren urteilen, deren Werk er zum einen fast gar nicht kennt und von denen er zum anderen weiß, daß ich sie – Die ganze Zeit – schätze. Achmatowa · Benn · Celan · Dorn · Eich · Fried · Gerstl · Heaney · Ingold · Jandl · Kiwus · Larkin · Marti · Neruda · Opitz · Paz · Quasi­modo · Reinig · Saalberg · Trakl · Uetz · Völkert-Marten · Williams · Zornack heißen seine Favoriten, wobei er für ›gute‹ Empfeh­lungen ja durchaus offen ist. Bensch ist auf ganze drei einge­schworen: Kutsch, Morgenstern und Ringelnatz. Daß beide das eine oder andere Gedicht von Brecht, Goethe, Fontane »usw.« kennen und lieben, erübrigt sich vielleicht nicht, in diesen Zeiten zu betonen.
Wie denn Ingold und Uetz in die Reihe passten, fragte ich vorsichtig nach, als er mir mit der denk­würdigen Auf­zählung kommt, und da, tja, was soll ich sagen, hat er mich bloß mit krausen Augen angeschaut. Trotzdem fasse ich mir ein Herz und bohre nach: Also, »Langweiler«, geht's nicht ein bißchen diffe­ren­zierter? Nö, meint er, und überhaupt läse er bei Büchern, die ihn nicht unmittel­bar ansprächen, sowieso nur zwei oder drei Gedichte, dann wisse er Bescheid. »Besser werden die eh nicht, das ist wie beim fernsehkrimi // am anfang kennt man sich nicht aus / dann ist es fad (zitiert er die geschätzte Elfriede Gerstl), dem man noch zehn Minuten und noch fünf Minuten und noch mal zehn Minuten gibt, um gegen 21.30 entnervt festzustellen, wieder einmal wert­volle Lebenszeit das Klo hinunter­gespült zu haben. Wieviel Lebenszeit du schon wegen der Lektüre mittelmäßiger Bücher verschleudert hast, nee, darauf kann ich verzichten.«


So · So · So

So hatte ich das noch nicht betrachtet, und, klar, auch unter den 2011 er­schie­nenen Büchern findet sich eine Reihe, die ich nicht mit der größten anzunehmenden Begeisterung gelesen habe, aber da gleich von ver­schenkter Zeit zu sprechen geht mir zu weit: Ohne diese Bücher hätte ich oft andere nicht entdeckt, die mich dann wiederum begeistert haben. Und für das eine oder andere gleichsam aus dem Nichts kommende Gedicht, die eine oder andere Passage, die eine oder andere Sequenz, den einen oder anderen Vers, das eine oder andere Wort werde das Lesespiel auf nicht mehr erwartete Weise gedreht.
Alle 2011 gelesenen – ein halbes Dutzend Lyrikbände (bei denen ich die Anzahl der Gedichte immer mal gern reduzieren würde: Die ersten zwanzig Seiten sind an­sprechend, begeisternd, stark, und plötzlich ist Spannung weg, beginnt es sich zu wiederholen, Lebendig­keit ist futsch usw.) bzw. Romane (einen davon hatte Bensch mit Begeis­terung gelesen) habe ich aus Gründen vorzeitig erschlaffter Rezep­tions­lust nicht zu Ende gelesen – und mithin hier auf­gelis­teten Bücher haben ihre spezifische Bedeutung, und mir geht es nicht nur darum, immer bloß ›beste Bücher‹ zu lesen.
Woran es nun im einzelnen immer liegt, weshalb dieses Buch mich ganz besonders und jenes nur wenig anspricht (was sich bei einem weiteren Anlauf auch schon einmal wunder­sam ändert), wer vermag das im Einzelfall schon immer zu sagen. Das eine Buch lese ich, klappe es zu, stelle es ins Regal und möchte nichts weiter dazu sagen; das andere Buch schließe ich, finde seine Stelle in der Sammlung, freue mich, es künftig immer wieder einmal erinnernd, mit in Ohren summenden Wörtern / Sequenzen, in die Hand zu nehmen und will darüber nichts als · nichts als schweigen.

wattgeister

schlag zweimal lang hin. ein büschel gras. leg dich
hinter einen hügel voller löcher, streck
deine fühler durch die düne. wanderndes gerät.

fang an, fähren scharfzustellen. ihre langeweile,
ihre gewalt. bemüh dich zu erkennen, welche insel
sie erreichen wollen. wo sie am ende landen.

du kannst das. du bist so gut darin, im mischlicht
etwas zu vermessen. für dich allein
werden fahrpläne geschrieben. du gräbst dich

ins watt, suchst würmer. die brandung ruckt,
stockt, wirft dir eine richtung zu. dreh sie um,
steh auf. wir gehen.

Alexander Gumz · ausrücken mit modellen


Schattenland im Lärm der Dissonanzen




Schweigen aus gutem Grund möchte ich am liebsten auch über Georg Hoprichs Bäuchlings legt sich der Himmel, aber da es zunächst holpert zwischen mir und den Gedichten des rumäniend­eutschen Autors, der von 1938 bis 1969 ein alles andere als leichtes Leben mit sehr schwerem Ende zu führen hatte, verliere ich ein paar Worte über ein Buch, an das ich mein Herz verloren habe während der Lektüre in der orkanischen Nacht vom 8. auf den 9. Dezember. Ich hatte in der Lyrikzeitung von der Veröffentlichung bei Reinecke & Voß gelesen und war natürlich gleich wachsam, empfinde ich die Lektüre rumänien­deutscher Bücher zumeist als beson­dere Mo­men­te im andauern­den Lese­prozeß, Momente, zu denen ich eben gern sage: Verweile doch.
Im November wird dies bei Johann Lippets im Ludwigsburger Pop Verlag er­schie­nenen, 789 Seiten umfas­senden Buch Dorfchronik, ein Roman der Fall sein, und zum Glück läßt mich diese Lektüre einen vergleichsweise sehr langen Moment in Lippets Sprache verweilen. Ohne Verwunderung, ohne Illusionen / überlasse ich mich den Worten, / die mich am Schluss verschlucken werden. (Zvonko Makovic)
Georg Hoprichs drei Gedichte in der Lyrikzeitung verfangen zunächst nicht so bei mir, wie ich es erwartet habe, und drum bestelle ich erst einmal Johanna Schwedes' Den Mond unterm Arm. Bäuchlings legt sich der Himmel landet, wenige Tage später bestellt, dann aber zum Glück auch in Sistig, und sehr schnell wird mir klar, daß ich offenbar höchst unkonzentriert die Gedichte in der Lyrikzeitung gelesen hatte. In den Versen Georg Hoprichs blinken Altstern, Goldregen, klingen Akkorde, schwingen Arabesken, Sträucher, Steine, vergingen Mädchen, Märchen, singen Sturm und Stille, sinken Tränen in das Bitterfeld, und es geht wunderbar – alles andre als dürres Getön – katachresisch (oxymoronisch) zu. Bertram Reineckes einfühlendes, kenntnisreiches Nachwort rundet ein Buch ab, das ich nicht verlieren werde – womit ich jäh zum Ende komme, um mich nicht in einer weiteren Wortflut zu verlieren.

Ende

Hörst du, wie der Schritt verklingt?
Siehst Du, wie der Mond versinkt?
Weißt Du, was der Nachtwind bringt?

Gestern lachte man und sang:
Man genoss, was noch gelang
Stumpfe Freuden, müd und bang.

Um das graue Totenhaus
Flattert eine Fledermaus.
Stille gehn die Stunden aus.

24. Januar 1966

Georg Hoprich


Poetisches Prädikat


Es hat oft geblutet, und das meiste ist vergessen, nur die Erinnerung ist eine Bluterkrankheit, als wäre sie ansteckend und meldepflichtig, und der infizierte Schriftsteller muß sich ein Leben lang sagen:
»Ich blute, ich erinnere mich, es tut weh, ich bin.«

Arnold Stadler · New York machen wir das nächste Mal


Als vielförmige, von Namen · Titeln · Wörtern nur so wimmelnde und immer und immer weiter blutende Gestalt betrachtet, von der in einem Essay naturgemäß nur ein kleiner Eindruck vermittelt werden kann (so spreche ich, beispielsweise, in diesen Tagen mit Axel Kutsch über Siegfried Lenz, von dem wir beide viele Bücher gelesen haben und der 2011 den Erzählband Die Maske veröffentlicht hat, den ich bislang nicht gelesen habe und der drum, wie so viele, viele andere Bücher bzw. Autoren, auf die einzugehen wäre, in diesen Zeilen nicht auftaucht, genauso wenig wie, beispielsweise, Julia Franck · Katharina Hacker · Josef Haslinger · Dieter Kühn, deren im Herbst erschienene Geschichten ich sehr bald lesen will), sind Lyrik und Prosa im deutschen Sprachraum nach 2000 insgesamt in guter Verfassung, wobei weiterhin keinerlei Grund zum Abheben besteht und Kraus heimtückisch nachhakt: Was heißt ›gut‹? Und auf den Titel von Benedict Wells Roman verweist: Fast genial. Fast. Das sei es eben.
Bei aller anhaltenden Lust auf die ›großen‹ Werke der Vergangenheit bzw. aus anglo­ameri­kani­schen, romanischen, skandi­navischen und anderen Sprachräumen, mit denen ein Vergleich sich nicht aufdrängt – von selbst­redenden Ausnahmen abgesehen, die auch weltweit eine mehr oder weniger große Leserschaft finden: Auf die der Lektüre folgenden Lagerung des Jahrgangs 2011, den dieser so, jener so sehen wird – was nichts an Beschaffenheit, Brauchbarkeit, poetischem Prädikat ändert: Dem einen ist er Anleitung (http://www.poetenladen.de/axel-kutsch-lyrik8.htm) zum Glück-, dem anderen Anleitung zum Unglück­lich­sein, denn wenn ich über andere/s zu sprechen vermeine, spreche ich doch in erster Linie über mich selbst: Was wir in Welt und Menschen lesen, ist nur der eigene Widerschein (Theodor Fontane) –, möchte ich weder im Lyrikkabinett noch im Prosazimmer verzichten, denke ich immer wieder, wenn ich so verblüffend verschie»«denartige Bücher wie, beispielsweise, im Januar Werner Buchers Spazieren mit dem gelbgrünen Puma, im Februar Michael Arenz' Noch nicht ganz aber fast, im März Friederike Mayröckers vom Umhalsen der Sperlings­wand, oder 1 Schumannwahnsinn, im April Karl Corinos In Bebons Tal, im Mai Asmus Trautschs Treibbojen, im Juni Axel Helbigs Ostra­gehege, im Juli Michael Hillens Beschattete Erinnerungen, im August A. J. Weigonis Prægnarien, im September Marlene Streeruwitz' Schmerzmacherin, im Oktober Christian de Simonis Rückseiten­wetter, im November Thomas Kunsts Legende vom Abholen (vermisse dich schon jetzt […] / doch bilde dir nichts darauf ein, take care) oder im Dezember Michael Fiedlers Geometrie und Fertigteile mit seinen Flimmer­reigen · Über­kopf­ver­gla­sungen · Winkel­riemchen zu Ende lese.


Welcher Opitz?

Und welchen Opitz Kraus meint? Hellmuth: An dessen Gedichten hat Kraus einen Narren gefressen. Im September wird er närrisch vor Freude, als er Die Dunkelheit knistert wie Kandis bei mir entdeckt, öffnet, zack, schon ist ein kleiner Knick auf der Seite, und losliest: Die Zeit zwischen den Jahren // Tage, die nicht leben wollen und nicht sterben / die zerrieben werden zwischen Bäuchen und Bräuchen. »Herr­lich«, jubelt er, »herrlich, Bäuche und Bräuche, herrlich.« Dermaßen ausgelassen gibt sich Kraus, Jahrgang 1953, nicht oft, also ist Wachsamkeit angesagt. Behutsam, aber bestimmt ziehe ich ihm das Buch, wortlos, aus der Hand. Zum Glück ist es fest gebunden und der Buchrücken also nicht so leicht zu beschädigen. Trotzdem. Er weiß, daß ich Bücher niemals verleihe, nicht einmal gern aus der Hand gebe (selbst ›besten‹ Freunden nicht), und drum bittet er mich, es doch direkt online für ihn zu bestellen, in einer Dürener Buchhand­lung würde er das Buch wohl kaum finden.

Lyrik

  • Jürgen-Peter Stössel · Gesternmorgenschnee

Prosa

  • Anne Dorn · Spiegelungen
  • Almudena Grandes · Das gefrorene Herz
  • Jonathan Kellermann · Therapy
  • Michael Köhlmeier · Abendland
  • Elke Schmitter · Frau Sartoris

Zeitschrift

  • Axel Helbig (Hg.) · Ostragehege 62
  • Norbert Weiß (Hg.) · Signum 2/2011




Juli · Hauartmanoth


Das eine Buch

© Lysippos 2009
 

Ich glaube, daß sogar die Literatur ins Chaos fällt, alles wird chaotisch. Ich glaube immer noch ans Prinzip der Entropie. Die Dinge brechen zusammen. Yeats sagt an einer Stelle: Das Zentrum hat keinen Bestand. Schiere Anarchie. So empfinde ich das, alles bricht zusammen, und damit auch die Sprache […] Wir haben diese starke Sehnsucht nach Ordnung. Eine verlorene Schlacht.

William Gaddis



Natürlich kommt es (nicht) darauf an, das eine (oder das andere) Buch gelesen (oder nicht gelesen) zu haben. Freimütig bekennt William Gaddis im Interview mit Klaus Modick, das ich in Volltext 4/2010 lese: Ulysses habe ich nie gelesen. So what. Ulysses zu lesen war »allzeit mein Sinn«. Das ist das eine. Das andere: Es geht nicht um das eine Buch. Das heißt: doch. Es geht nur und aus­schließlich um das eine Buch. Ich lese, erlebe die Lektüre aller Bücher als Teil der Lektüre des einen Buches. Das meine ich nicht meta­phorisch, denn Metaphern taugen im praktischen Leben nicht (Mathias Traxler). In Dir, o Mensch, ist alles setzt ein Gedicht von Gerrit Engelke ein, und ihm dichte ich meine Ode nach: In Dir, o Buch, ist alles. In jedem Buch, das ich lese, entdecke ich zum einen Das Wüten der ganzen Welt, alle beschatteten Erinnerungen, zum anderen die geheimen und offen­kundigen, absicht­vollen und ab­sicht­losen Offen­barungen und Korres­pon­denzen neu, die die Gesamt­heit der Bücher zu einem Buch mit unendlich vielen Versen/Zeilen machen, dessen Mani­festation ich gern an jedem Tag erlebe und weshalb ich tagein, tagaus mit dem in Buchdeckel eingefaßten bedruckten Papier befaßt bin, hier umstellend, dort ein­rückend, das im Lauf der Zeit zur offenen Instal­lation Buch gewachsen und geworden ist.


Brummen · Summen

Am Montag, dem 5. Dezember, werden um sieben Uhr morgens zum ersten­mal im anstehenden Winter ein paar Flocken vom Himmel fallen (im frühen Dezember 2010 waren wir längst tief einge­schneit), gegen neun werde ich mit Mrs Columbo, die bereits einen Waldlauf mit Freundin Marianne hinter sich haben wird, am Früh­stücks­tisch sitzen, ihr zum einen zuhören (ich bin auch nur ein Mann und weiß, wie wenig selbstverständlich das ist), zum anderen in mich hinein­hören (bzw. ins rechte Ohr, dessen Hör­fähig­keit seit ein paar Wochen nur mehr mit halber Kraft voraus ist): Ich werde glauben, zu spüren, daß ich wieder wesentlich besser höre, daß der Druck merklich nachgelassen hat – täusche ich mich? Derweil wird Mrs C. aufge­standen und mit einer Bücher­sendung zurück­gekommen sein, ich werde ver­wundert gucken, nichts als ein Brummen und Summen vernehmend, und nun diese Überraschung: Montags wird seit längerer Zeit nur noch ›wichtige‹ Post gebracht, also lebe ich seitdem notgedrungen mit der unguten Tatsache, sonntags und montags ohne Post leben zu müssen. (It almost kills me.) Was also ist so wichtig? Ich ahne, was ich vorfinden werde, und, ja, es ist Gerd Sonntags Gedichtband Giovanni Santi malt eine Fliege, womit die Frage nach der Qualität des Hörens – und warum das Buch im Juli-Kapitel vorge­stellt wird – auch geklärt ist.
Klar, daß der Tag jetzt anders verlaufen wird. Seit gestern lese ich, mit Schwung vom ersten Gedicht an, Heiner Müllers 360 Seiten umfassende Gedichte, 1998 bei Suhrkamp erschienen. Bereits das erste Gedicht läßt Künftiges (das ich bislang nur aus Sammelbänden kenne) erahnen: Auf Wiesen grün / Viel Blumen blühn / Die blauen den Kleinen / Die gelben den Schweinen / Der Liebsten die roten / Die weißen den Toten. Kleines Gedicht ganz groß. Da ich in der Nacht das erste Kapitel zu Ende gelesen haben werde, paßt es (und auch wenn's nicht ›passen‹ würd, tät ich's), an diesem frühen Montag Gedichte von Sonntag zu lesen.

Ulrich Koch hat ein Nachwort zu Giovanni Santi malt eine Fliege geschrieben, er mag Nach­wörter genauso wenig wie ich, aber was er schreibt, kann ich nur unter­schreiben. Also, Gerd, ich faß mich kurz, ich weiß, wie sehr du Rampenlicht und große Worte fürchtest, sag danke für dieses, für jenes phäno­menale Bild im Gedicht (das alte Damenfahr­rad nenn ich pars pro toto); Verleger Peter Ettl danke ich auch: Mit dem 27. Band läßt er die Silver-Horse-Edition-Lyrikreihe, in der er Gedichte von Michael Arenz · Marianne Glaßer · Michael Hillen · Axel Kutsch · Frank Milautzcki · Jörg Neugebauer · Andreas Noga · Jürgen Völkert-Marten · Christa Wißkirchen · Maximilian Zander u.a. veröffentlicht hat, bis auf weiteres ruhen, und lese still hier, Montag, 10:15, weiter für mich hin:

Ich laß den Garten übers Jahr verwildern

Kater und Amsel verdösen im Dickicht den Sommer.
Die Sonne bleibt ins Laub gekickt, solang er dauert,
bis jedes Gör ein stiller Nachbar ist wie ich.

Wenn noch ein Bote kommt, so zeigt das Blattwerk Zunge,
bedeckt ihn dornenreich auf seinem Weg, er muß sich bücken.
Schon morgen, mahnt er, wird der Postwurf unzustellbar.

Ich bleib von Raum zu Raum derselbe vor den Fenstern
Und will nichts mehr, nur diese Anschrift nicht verlassen,
nicht mehr als ein Reptil, im Frieden des Terrariums, ein Echs

mit Telefon; wenn ich den Hörer nehme, knistern Flechten.
Entlaubt der Herbst den wilden Garten, brauch ich keinen
Grund mehr, hier zu sein noch anderswo. Und keinen Namen.


Moby Dick · Der Nachsommer · The Recognitions

Was Gerd Sonntag mit Herman Melville zu tun hat? Nichts und alles – siehe oben: Im Juli lese ich Moby Dick, das vierte Buch – neben Der Nachsommer (ebenfalls seit vielen Jahren im Haus und nun, nach einem Besuch bei Hans Bender, der von der Lektüre schwärmt, in einem durchgelesen), Ulysses und The Recognitions –, mit dessen Lektüre ich mir in diesem Jahr einen weiteren jahrelang gehegten Wunsch erfülle, und im Dezember entdecke ich bei Sonntag die ›einmalige‹ Kapitän-Ahab-Socke. (Was für ein ›phänomenales‹ Bild.)

Call me Ishmael. Some years ago-never mind how long precisely-having little or no money in my purse, and nothing particular to interest me on shore, I thought I would sail about a little and see the watery part of the world. It is a way I have of driving off the spleen and regulating the circulation. Whenever I find myself growing grim about the mouth; whenever it is a damp, drizzly November in my soul; whenever I find myself involuntarily pausing before coffin warehouses, and bringing up the rear of every funeral I meet; and especially whenever my hypos get such an upper hand of me, that it requires a strong moral principle to prevent me from deliberately stepping into the street, and methodically knocking people's hats off-then, I account it high time to get to sea as soon as I can. This is my substitute for pistol and ball. With a philosophical flourish Cato throws himself upon his sword; I quietly take to the ship. There is nothing surprising in this. If they but knew it, almost all men in their degree, some time or other, cherish very nearly the same feelings towards the ocean with me.

Herman Melville · Moby Dick


Die Häuslichkeit
Mein Vater war ein Kaufmann. Er bewohnte einen Teil des ersten Stockwerkes eines mäßig großen Hauses in der Stadt, in welchem er zur Miete war. In demselben Hause hatte er auch das Verkaufsgewölbe, die Schreibstube nebst den Warenbehältern und anderen Dingen, die er zu dem Betriebe seines Geschäftes bedurfte. In dem ersten Stockwerke wohnte außer uns nur noch eine Familie, die aus zwei alten Leuten bestand, einem Manne und seiner Frau, welche alle Jahre ein oder zwei Male bei uns speisten, und zu denen wir und die zu uns kamen, wenn ein Fest oder ein Tag einfiel, an dem man sich Besuche zu machen oder Glück zu wünschen pflegte. Mein Vater hatte zwei Kinder, mich, den erstgeborenen Sohn, und eine Tochter, welche zwei Jahre jünger war als ich. Wir hatten in der Wohnung jedes ein Zimmerchen, in welchem wir uns unseren Geschäften, die uns schon in der Kindheit regelmäßig aufgelegt wurden, widmen mussten, und in welchem wir schliefen. Die Mutter sah da nach und erlaubte uns zuweilen, dass wir in ihrem Wohnzimmer sein und uns mit Spielen ergötzen durften.

Adalbert Stifter · Der Nachsommer


Even Camilla had enjoyed masquerades, of the safe sort where the mask may be dropped at that critical moment it presumes itself as reality. But the procession up the foreign hill, bounded by cypress trees, impelled by the monotone chanting of the priest and retarded by hesitations at the fourteen stations of the Cross (not to speak of the funeral carriage in which she was riding, a white horse-drawn vehicle which resembled a baroque confectionery stand), might have ruffled the shy countenance of her soul, if it had been discernible.
The Spanish Affair was the way Reverend Gwyon referred to it afterwards: not casually, but with an air of reserved preoccupation. He had had a fondness for travelling, earlier in his life; and it was this impulse to extend his boundaries which had finally given chance the field necessary to its operation (in this case, a boat bound out for Spain), and cost the life of the woman he had married six years before.

William Gaddis · The Recognitions


Lyrik

  • Michael Hillen · Beschattete Erinnerungen
  • Anton G. Leitner (Hg.) · Gedichte für Zeitgenossen
  • Marcel Reich-Ranicki (Hg.) · Frankfurter Anthologie
  • Johannes Schenk · Galionsgesicht
  • Johannes Schenk · Salz in der Jackentasche
  • Johannes Schenk · Überseekoffer

Prosa

  • Maarten 't Hart · Das Wüten der ganzen Welt
  • Herman Melville · Moby Dick
  • Adalbert Stifter · Der Nachsommer

Zeitschrift

  • Joachim Feldmann, Frank Lingnau u.a. (Hg.) · Am Erker 61
  • Verein Literaturgruppe Perspektive (Hg.) · perspektive 67|68




August · Aranmanoth


Brinkmann · Di Bella · Freyend · Pfeiffer · Sievernich


Theo Breuer beim RDB-Fest in Sievernich


Am 22. Juli 2011 um 22:56 werde ich von einer E-Mail überrascht, in der Roberto Di Bella (der Rolf-Dieter-Brinkmann-Experte mit den gleichen Initialen wie der Verfasser von Westwärts 1 & 2, Rom, Blicke oder Keiner weiß mehr), anläßlich des frisch erworbenen Doktortitels für den 30. Juli ab 15 Uhr zu einem kleinen Sommerfest auf dem Lande einlädt. Ich lese weiter und stoße auf die Namen Linda Pfeiffer und Henning John von Freyend sowie den Orts­namen Sievernich.
Ich bin wie elektri­siert: Pfeiffer · Freyend · Sievernich?
Das ist jetzt alles ein bißchen viel, es ist spät, ich bin müde, habe lange nichts von Roberto Di Bella gehört, und nun diese mir im Augen­blick des Lesens mehr als unwahr­schein­lich vor­kommende Kombi­nation von Namen, hier paßt auf einmal gar nichts mehr zusammen.
Hin und her rasen Bilder, purzeln Wörter und Gedanken, von Kindheit und Jugend in den 60er/70er Jahren zur Lektüre der Brinkmann-Bücher seit den 80er Jahren bis heute und zurück. Siever­nich, das kleine Dorf, nur sieben Kilo­meter von Bürvenich, meinem Geburtsort, entfernt. Unmit­tel­bar tauchen Gesichter aus längst ver­gangenen Zeiten aus dem Nebel auf, schnell und klar sehe ich die Charak­ter­köpfe aus Sievernich vor mir, den von allen Mädchen um­schwärm­ten Stenz, den klein­wüch­sigen, dicken Schieds­richter Schlenz, den keiner leiden konnte – immer pfiff der gegen uns.
Rolf Dieter Brinkmanns Wörter fallen mir aus dem Kopf · in den Bildschirm · vor die Augen. Ich lese die Mail ein weiteres Mal, versuche irgendeinen Sinn zu fassen. Linda Pfeiffer und Henning John von Freyend waren enge Freunde Rolf Dieter Brinkmanns, lebten jahrelang Tür an Tür mit dem 1975 Verunglückten in der Kölner Engel­bert­straße. Beide tauchen in den Büchern Brinkmanns auf, sind für mich also lite­rari­sche Figuren, sie waren an der Heraus­gabe von Acid (1968 im März Verlag erschie­nen) beteiligt, wie ich jetzt noch einmal im Nachwort lese.

Gegen 23 Uhr am 30. Juli sitzen Linda Pfeiffer, Henning John von Freyend, Roberto Di Bella und ich (der immer als letzter die Bühne verläßt – wenn er denn schon einmal irgendwo hingeht) noch zusammen und reden, als würden wir uns schon ewig kennen. (Man kennt das.)
Ein schönes, ein gelun­genes Fest mit 17 Menschen aus nah und (sehr) fern, die der Ein­ladung ins total abgele­gene Siever­nich folgten. Während Roberto das Essen zuberei­tet, lese ich (Linda macht den Vorschlag, während ich in der Küche den kaputten Wasser­hahn, der zeit­weise für Überflutung sorgt, behelfs­mäßig repariere) im ehe­maligen Schweine­stall des einstigen Bauern­hofs, während Schrift­stel­ler und Künst­ler mir über die Schul­ter schauen – Freyend stellt anläß­lich des doppelten RDB-Tages Bilder aus den 60er und 70er Jahren aus – Gedichte von Rolf Dieter Brinkmann vor.
Ein lebhaftes, herrlich kontro­vers geführtes Gespräch kommt in Gang (der neben mir sitzende franzö­sische Gast sieht mich erschrocken an: Das wäre in Frankreich unmöglich), das nur ein – vor­läufiges – Ende findet, als Roberto und Linda die Speisen auf den Tisch stellen. Den Rest kann man sich denken. Ein paar Tage später lese ich Linda Pfeiffers am 1. August in einem Bremer bzw. Dürener Anti­quariat bestellte Erzäh­lungen Ich weine · Ich lache (März 1985) sowie den 1989 bei Kiepen­heuer & Witsch erschie­nenen Roman Schwarze Liebe:

Mit dreizehn war ich die Anfüh­rerin einer harmlosen Kinderbande. Die anderen waren jünger als ich. Mit ihnen erlebte ich die Kindheit noch einmal, so wie ein alternder Mann sich mit einem Mädchen die Jugend zurück­zuholen versucht. Mit meiner Bande verfolgte ich die rothaarige Schau­spielerin aus der Nach­barschaft mysteriöser Verdächti­gungen wegen. Wir lauerten ihr abends hinter den Büschen der Vorgärten auf oder schnüffelten um die Wohnung im Parterre herum, deren Fenster erleuchtet waren. In unseren Kinder­phantasien keimten die Bilder hinter den Vorhängen wie Samen in feuchter weißer Watte.



Vogelsang

Zusammenschossen die Nachmittagszeit des Sees, die Farben, das Muster der Halme, das geblendete Auge, das gespannte Ohr, das Schaukeln der Wellen, Gräser, Fragen und Spiegelungen, bis ich eine „Stimme“ hörte – wobei „Stimme“ zu viel Körper suggeriert. Besser: einen Ton, die Möglichkeit einer Ton-Lage (Rhythmus, Sinn, Wörtlichkeit), und fing an zu schreiben, im Kopf. Der Augenblick war nicht spektakulär (spektakulär nur für mich), der Anfang eines Fadens, ein Gewirr aus Fädchen, die sich zeigten und mir etwas greifbar machten.

Ulrike Draesner


Wie oft schon habe ich in diesem Jahr die langsam, aber beständig wachsenden Titelkataloge – fast wie moderne Lyrik – gelesen und dabei den Blick zurück in die geöffneten Bücher erlebt, die mir verschiedensten Einblick gewähren? Die Lektüre von Versnetze_vier führt im August zu einer ähnlichen Bestands­aufnahme wie im März die des Jahrbuchs der Lyrik.
Lesend immer­während auf Reisen sein – weit in die Geschichte der Literatur hinein, weit über den deutschen Sprachraum hinaus. ›Reisen‹ im landläufigen Sinne findet bei mir seit 2003 nicht mehr statt, meine urlaubs­planung sieht ähnlich aus wie die von Elfriede Gerstl: im wald is fad / die berg zu steil / am meer wirst / von der hitze blöd / vielleicht eine stadt mit straßencafés / also bleib ich da sitzen / auch hier kann ich schwitzen, selbst der ›Ausflug‹ in die nähere Umgebung oder die Fahrt in die Stadt bleibt Ausnahme.

Am 2. August jedoch ist es einmal wieder soweit (nachdem wir im Juli schon dort waren): Mrs Columbo und ich fahren zur ca. zwölf Kilometer entfernten Dreiborner Hochfläche (kurz Vogelsang genannt), dieser inmitten der Eifel gelegenen ›ge­schichts­träch­tigen‹ Landschaft mit der ›Wüstung‹ Wollseifen, wo ich tiefste Traurig­keit sowie simultan das erlebe, was Ulrike Draesner im exzellenten Essay Inspiration schildert, aus dem ich oben zitiere. Ich tausche das Wort ›See‹ gegen ›Landschaft‹, das Wort ›Wellen‹ gegen ›Hügel‹, und Ulrike Draesner beschreibt haargenau (was mich nicht weiter verwundert), wie es zu einem Gedicht von Theo Breuer kommt, dessen Grundzüge (Kernwörter, Korres­pondenzen) der Autor während der Wande­rung memoriert und am Abend sowie während der fol­genden Tage (bzw. Nächte) zu einem Gedicht (dem er das Zitat They had forgotten the story already aus Anthony Burgess' Roman The End of the World News voranstellt) ausbaut:

in der schwebe

kraus schlug · in der tat brutal · die augen auf
schon kam · mittelwelle kanal 7 · wie immer
die nachricht vom ende der welt

der held lachte · dachte: na bravo
rieb sich · allein zuhaus · infam · die hände
hörte posaunen von vogelsang

alsdann: hunger · qualgefühl in der kehle
im kühlschrank blieb · : kolossaler kracher · die eine
blankgelbe · blendend feine · kleine mirabelle

kraus trug sie · auf die schnelle · ins schonzimmer
las weiter in der amsel von glanmore
und bat · keine menschenseele · um vergebung

daß er lebe


Lyrik

  • Christoph Danne · finderlohn
  • Seamus Heaney · Die Amsel von Glanmore
  • Hubert Klöpfer (Hg.) · Wetzstein Gedichtekalender 2012
  • Axel Kutsch (Hg.) · Versnetze_vier
  • Ivo Ledergerber · Besuch bei einem Freund
  • Ernst Meister · Gedichte
  • Saza Schröder · Ach Kindheit du schreckliche Süße
  • A. J. Weigoni · Haimo Hieronymus · Prægnarien

Prosa

  • Otto A. Böhmer · Hegel & Hegel
  • Jürgen Lodemann · Salamander´
  • Linda Pfeiffer · Ich weine – Ich lache
  • Linda Pfeiffer · Schwarze Liebe
  • Giorgio Scerbanenco · Das Mädchen aus Mailand
  • Giorgio Scerbanenco · Der lombardische Kurier
  • Thomas Vogel · Hinter den Dingen
  • Frank Wedekind · Frühlings Erwachen

Zeitschrift

  • Sandra Uschtrin (Hg.) · Federwelt 88






September · Herbistmanoth


Literatur in der Zeitschrift · Halleluja




2011 nehme ich neue Ausgaben der deutschsprachigen Zeitschriften Akzente · Am Erker · außer.dem · BAWüLON · Berichte aus der Werkstatt · Federwelt · Das Gedicht · Literatur machen · Matrix · Der Mongole wartet · Ostragehege · pers­pek­tive · poet · Signum zur Kenntnis.
In perspektive 67|68 lese ich, beispielsweise, sich über mehrere Seiten erstreckende Kataloggedichte von Kai Pohl (Halle heißt jetzt Halleluja!) und Clemens Schittko: Dies ist eine neue Lyrik. / Dies ist Lyrik nicht nur zum Schieben und Schmieren. / Dies ist Lyrik nicht nur zum Hinlegen. / Dies ist Lyrik zum Umdrehen, Einschlafen und Sterben.

Chronisch

Seit 1987 hat der Postbote etliche hundert artige und artenreiche · belanglose und bombas­tische · coole und chaotische · dicke und dünne · elegante und eklek­tizis­tische · fade und frische · gleiche und gegen­sätz­liche · herme­tische und herme­neutische · ideen­reiche und ideo­logische · jecke und junge · kämpfe­rische und konven­tionelle · lang­weilige und lust­volle · marginale und markante · naive und neologische · obligate und obsolete · pande­mische und pano­ramatische · quick­leben­dige und quälende · reiz­volle und regressive · sardo­nische und simple · transi­torische und transfinite · und unikale und uni­versale · verkorkste und viel­förmige · winzige und witzige · zyklo­pische und zynische Lite­ratur­zeit­schrif­ten ins Haus gebracht, und dennoch habe ich zu jeder Zeit – wie heute – das Gefühl gehabt, nur in einem kleinen Teil der Zeit­schriften­welt bewandert zu sein. Es ist ein chronisches Kommen und Gehen in der quick­leben­digen und viel­gestal­tigen Welt der Literatur­zeit­schriften zu beobachten; dabei kommen manche Magazine nicht über die erste Ausgabe hinaus, während andere bereits im 58. Jahrgang erscheinen.


Ostragehege 62

Hundeleben in Conversano
FÜR ULRIKE UND LUGIANO

Der Nachmittag duftet vor Faulheit.
Der Himmel makellos. Aus der Sommerküche
Gibt es Orecchiette mit Erbsen und Prosecco parlare.
Tausendfüßler putzen die Wege
Und der Steinkauz übt sein Signal.
Der kleine Hund hat auf mir Platz genommen
Döst und atmet nach meiner Weise.
Der große Hund frisst die Rinden vom Käse.
So geht es und bleibt.

Nur das Jahrhundert hat keinen Plan.

Kerstin Hensel


poet 11

Ich nehme die Herausgabe der 11. Ausgabe der Literaturzeitschrift poet zum Anlaß, mir die in der Sammlung noch fehlenden poet-Ausgaben 1, 2 und 3 zu besorgen und damit alle Ausgaben, die bislang erschienen sind, zur Verfügung zu haben. In einer langen Nacht der Poeten verschaffe ich mir Einsicht in das, was Andreas Heidtmann seit 2006 in mittlerweile 11 Ausgaben, die mittlerweile auf jeweils rund 300 Seiten ange­wachsen und in denen mehr und mehr Gedichte, Kommentare zu Gedichten, Erzählungen, Gespräche und Reportagen zu lesen sowie Bilder zu betrach­ten sind, versammelt hat: Augenfällig ist die edi­torische Absicht, die Welt der Poeten als Ganzes in den Blick zu nehmen, sich nicht auf jung oder alt, angesagt oder uner­kannt, berühmt oder berüchtigt zu spezia­lisieren, sondern vielen sehr unter­schied­lichen Stimmen und Ton­lagen einen Platz einzu­räumen. Auf diese Weise gewährt poet im kakophonen Konzert einen exemplarisch-repräsentativen Einblick in die Lite­ratur­geschichte der Gegenwart, die im halb­jährlichen Turnus exem­plarisch Einblicke in das Schaffen arri­vierter und talentierter Autorinnen und Autoren im deutschen Sprachraum (und gelegent­lich darüber hinaus) verschaffen.


außer.dem 18

            ich sammle durch streuung und reflexion frequenz­anteile des sichtbaren lichts sammle ginstergelb safran kadmium senfgelb und pigmente aus grüner erde ich zerreibe buchstaben die lichtechten mit dem stößel setze ölfarbstriche neben einander übereinander sie verlaufen nicht wort­schichten über schichten du kennst die tiefe des papiers wie es sich wölbt über den tisch meine wörter reagieren mit luft im oxydieren dehnen farbtöne sich aus; krakelüren im firnis der schrift

Ann-Kathrin Ast


Faltblatt 10 · ?

Mit Faltblatt habe ich von 1994 bis Dezember 2004 neun Ausgaben einer am Ende in 900er-Auflage gedruckten Lyrikzeitschrift veröffentlicht, deren Herausgabe seitdem aus mehreren Gründen (deren entscheidender die Nieder­schrift und Publikation mehrerer relativ umfang­reicher Mono­graphien sowie längerer Essays zur Poesie nach 2000 ist) ruht. Mal sehn, ob es eines Tages eine zehnte Ausgabe geben wird. Abge­schrieben ist das Projekt jedenfalls nicht. Besser: nicht ganz. Es gibt auch nach 2000 derart viele interes­sante Literatur­zeit­schriften im deutschen Sprachraum, da muß ich eigentlich nicht auch noch eine machen. Denn das ist, wie bei der unge­heuren Menge der alljährlich in die Arena geworfenen Bücher, auch bei den Lite­ratur­zeit­schriften das Problem der oft arg über­schaubaren Anzahl von Lesern: Es gibt zu viele Zeitschriften, als daß jede von ihnen wenigstens 500, lieber jedoch mehrere tausend Leserinnen und Leser finden könnte. Etliche der mir bekannten Magazine hätten das jedenfalls verdient.


Akzente 2/2011. Moderne hebräische Lyrik

Erste Lektion

Ich lerne gerade schreiben:
Feuer und Strom – fehlerlos.
In dem Moment ergreift Feuer den Schreibtisch
und der Strom im Zimmer
verlischt.
Im Licht des brennenden Fischs
lerne ich das Beschreiben
des Feuers
und das Berühren von Strom.

Chesi Leskli


Matrix (oder Muttertier)

Eine der mir bekannten und hier benannten Literaturzeitschriften heißt Matrix. Traian Pop gibt sie, u.a. mit tatkräftiger Unterstützung von Francisca Ricinski, in seinem Ludwigsburger Pop Verlag heraus. Aufmerksam wurde ich auf die Zeitschrift für Literatur und Kunst (sowie das Verlagsprogramm) vor einigen Jahren zunächst wegen der rumänien­deutschen Autoren – u.a. Franz Hodjak · Johan Lippet · Herta Müller · Horst Samson · William Totok –, die hier regelmäßig auftauchen und deren Lyrik und Prosa ich mit Vorliebe lese.
Während des Telefon­gesprächs mit Hans Bender am 28. November komme ich darauf zu sprechen. »Was bedeutet der Name?« fragt Bender, und schon bin ich in der Bedrouille, stottere irgend etwas von Mathematik, habe aber, wie ich in dem Moment fest­stellen muß, keinen blassen Schimmer, schon mal gar nicht, weshalb eine Literatur­zeitschrift ›Matrix‹ heißen könnte. Nun werfe ich, einige Tage später und im Zusammenhang dieser Zeilen über Zeitschriften, einen Blick in Wikipedia und lese dort, daß MATRIX im Lateinischen ›Muttertier‹ heißt, und das nun leuchtet mir im Zusammen­hang von Literatur und Literatur­zeitschriften unmittel­bar ein.


Lyrik

  • Rolf Bongs · Oberwelt / Overworld
  • Werner Bucher · Rütegger Gedichte
  • Werner Bucher · Malcolm Green · Spazieren mit dem gelbgrünen Puma
  • Joseph von Eichendorff · Und es schweifen leise Schauer
  • Bettina Erasmy · Wärmefaktor
  • Elfriede Gerstl · Lebenszeichen
  • Ulla Hahn · Wiederworte
  • Norbert Hummelt · Pans Stunde
  • Garrison Keillor (Hg.) · Good Poems for Hard Times
  • Hellmuth Opitz · Die Dunkelheit knistert wie Kandis
  • Giorgos Seferis · LOGBUCH III
  • Jesper Svenbro · Echo an Sappho
  • Günter Vallaster (Hg.) · Paragramme
  • Helmut Zwanger und Karl-Josef Kuschel (Hg.) · Gottesgedichte

Prosa

  • Blaise Cendrars · Weihnacht an allen Enden der Welt
  • Jutta Dornheim · Katzenmann · Roland · Faule Grete
  • Gyrðir Eliasson · Am Sandfluss
  • Manuela Fuelle · Fenster auf, Fenster zu
  • Thomas Knubben · Hölderlin. Eine Winterreise
  • Sibylle Lewitscharoff · Blumenberg
  • Michael Merschmeier · Frölichs Träume
  • Marlene Streeruwitz · Die Schmerzmacherin.
  • Benedict Wells · Fast genial
  • A. J. Weigoni · Ein Ort. Skoping.

Zeitschrift

  • Andreas Heidtmann · poet 1 · 2 · 3 · 11




Oktober · Heilagmanoth


Dann klingelt's. Wer kommt da?
Der Postmann.
Maximilian Zander


Rauchgeister

Im Oktober geht es Schlag auf Schlag weiter mit den Büchern. An manchen Tagen klingelt der Postmann zweimal. So jagt ein Buch das andere, und ich träume, wie die Bücher weiter zu dem einen Universal­buch verschmelzen, das in einem fort gelesen werden will. Es ist mal wieder soweit: Entgegen aller ab­sichts­voller Erklä­rungen, allein aus Platz­gründen weniger Bücher zu bestellen, tue ich das Gegenteil. Hinzu kommt die eine oder andere über­raschende Sendung – etwa Knut Schaflingers bemer­kens­werter Schneebrand oder Joachim Zünders Rauchgeister. Wenn Schnee brennt, steigen aus Rauch gern Geister auf.
Angetan von der Lektüre des einen, bin ich begeistert von der Lektüre des anderen, im übrigen vortreff­lich gestal­teten Gedicht­buchs. Joachim Zünders Rauchgeister erscheinen mir als Quintessenz eines jahre­langen Schöpfungs- und Kompo­sitions­prozesses. Das Ganze klingt­schwingt, rhythmisch pulsierend, in- und miteinander, die Gedichte, mit immer wieder heraus­ragenden einzelnen Vers­sequenzen, wirken sowohl stark für sich als auch als Teil einer von Seite zu Seite intensiver wirkenden Gesamtkomposition, die mit diesem Gedicht den ersten Kontrapunkt setzt:

schluchten

In den schluchten seiner unzugehörigkeit
ist der dichter das allerstumpsinnigste geschöpf
ein echsenkopf hergeboren aus dem
backofen des universums

so durchstreunt er das gemeine regenreiche labyrinth
der stadt unfähig mensch und tier zu unterscheiden

die muskulatur des lichts zuckt zuweilen
in der tiefe seiner zunge

hier wird jemand ausgelöscht!
sagt er
  zu sich selbst


Joachim Zünder


Rückseitenwetter

An Schlaf ist nicht zu denken, da nicht bloß Textleben (meine An­näherung ist ursprünglich als Teil dieses Essays geplant, bevor sie sich schnell zur eigen­ständigen lyrischen Prosa ausweitet) vollen Einsatz einfordert. Ich kann mich also nichts als möglichst schnell verbal zurückziehen und auf die Wirkkraft der im Oktober-Ver­zeichnis auftauchenden Titel bauen: Denn das eine Buch hoch­zuhalten heißt, das andere zu verstecken, und das will ich, auch und gerade an dieser Stelle, wieder einmal nicht. Impulsiv und aus der Rückschau tu ich's trotzdem, gleichsam im Sekundentakt, und stoße in dieser Wildnis gegen einen Whisky­flaschen­baum, in dem ein Herbarium herrlich blüht. Heikles Handwerk, denkt Zielinsky beim Blick durchs Berliner Fenster aufs Fas­sadenge­witter und sieht im Bild seiner Stadt im Schnee einen Marschflugkörper im Anflug. Ja, alle Vögel fliegen hoch – bei­spiels­weise am Wannsee –, und wie ein Stein schmeckt oder wie man in ihn hinein­taucht, weiß nicht mehr jeder Dichter nach 2000. Was für ein Rückseitenwetter, Wahnsinn, dieses Rück­seiten­wetter, ich sehe die Welt in Weiß und freu mich auf die nächste Luftpost. Hat jeder Satellit einen Killer­satelliten? fragt sich Kraus und ging – immer schön in der Reihe bleiben – im deutschen Lyrikkalender für junge Leser so für sich hin, während Bensch, der den feinen Humor liebt, bevorzugt die Poesie Agenda liest und ich mich an Terpentin on the Rocks gütlich tue. Ein Schwarm Regen­brachvögel läßt zärtlich die Faust kreisen, und herunter fällt die Sandale des Propheten. PENG.



Lyrik

  • Klaus Anders · Andreas Struve (Hg.) · So schmeckt ein Stern
  • Sascha Anderson · Jeder Satellit hat einen Killersatelliten
  • Jürgen Becker · Beispielsweise am Wannsee
  • Thomas Böhme · Heikles Handwerk
  • Tom Bresemann · Berliner Fenster
  • Werner Bucher · Jolanda Fäh · Virgilio Masciadri (Hg.) · Poesie Agenda 2012
  • Charles Bukowski · Carl Weissner (Hg.) · Terpentin on the Rocks
  • Tina Gintrowski · PENG.
  • Margarete Hannsmann · Tauch in den Stein
  • David Lerner · Die anmutige Kurve eines Marschflugkörpers
  • Shafiq Naz (Hg.) · Der deutsche Lyrikkalender 2012
  • Shafiq Naz (Hg.) · Der deutsche Lyrikkalender für junge Leser 2012
  • Ulrich Pothast · Das Bild meiner Stadt im Schnee
  • Lutz Rathenow · Zärtlich kreist die Faust
  • Øyvind Rimbereid · Herbarium
  • Knut Schaflinger · Schneebrand
  • Joachim Zünder · Rauchgeister

Essay

  • Michael Lentz · Textleben
  • Jan Wagner · Die Sandale des Propheten

Prosa

  • Katharina Bendixen · Der Whiskyflaschenbaum
  • Constantin Göttfert · In dieser Wildnis
  • Maarten 't Hart · Ein Schwarm Regenbrachvögel
  • Nina Jäckle · Zielinski
  • Marie T. Martin · Luftpost
  • Michaela Seul · Alle Vögel fliegen hoch
  • Christian de Simoni · Rückseitenwetter
  • Joachim Zelter · Die Welt in Weiß

Zeitschrift

  • Traian Pop (Hg.) · Matrix 24




November · Nebuligmanoth


Aber ich kann nicht anders

Eine Verrücktheit vielleicht, wie Sie denken müssen, aber ich kann nicht anders. Der eine nimmt gegen elf Uhr vor­mittags ein Vollbad, um über die Tages­hürde zu kommen, ich gehe ins Kunst­histo­rische Museum. Jeder Mensch braucht eine Gewohn­heit zum Überleben, sagte er. Allein diese Gewohnheit hat mich nach dem Tod meiner Frau gerettet. Tatsäch­lich denke ich, daß das Kunst­histo­rische Museum der einzige Flucht­punkt ist, der mir geblieben ist, sagte Reger, zu den Alten Meistern muß ich gehen, um weiter­existie­ren zu können, genau zu diesen soge­nannten Alten Meistern, die mir ja längst und schon seit Jahr­zehnten verhaßt sind.

Thomas Bernhard · Alte Meister


Always Look on the Bright Side of Life

Life's a piece of shit,
When you look at it.
Life's a laugh and death's a joke, it's true.
You'll see it's all a show,
Keep 'em laughing as you go.
Just remember that the last laugh is on you.

Eric Idle


Ich habe Leben – Life's but a walking shadow, a poor player / That struts and frets his hour upon the stage / And then is heard no more. It is a tale / Told by an idiot, full of sound and fury / Signifying nothing (William Shakespeare · Macbeth) –, von sehr kurzen Zeit­abschnit­ten abgesehen, als fort­dauernde Krise empfunden, gegen die ich, statt zu baden, was mich langweilt, lebenslänglich lauschend, lesend, lugend ange­kämpft habe (statt, beispielsweise, zu Schulzeiten Hausauf­gaben voll­ständig zu erledigen, habe ich viel lieber gelesen), und wahr­scheinlich ist ›Leben‹ gemeinhin auch nichts anderes als ›Krise‹, auch Reger beharrt darauf – wobei die Empfin­dungen und Ein­schätzungen dessen, was denn ›Leben‹, was denn ›Krise‹ in dem Zusammen­hang sei, wohl wieder weit aus­einander­gehen. Das ist eben der Stoff, aus dem nicht nur Woody-Allen-Filme sind, bei denen ich mich genauso köstlich amüsiere wie bei der Lektüre von Thomas Bernhards Romanen (nicht umsonst heißt Alte Meister im Untertitel Komödie). Ein bißchen Spaß muß sein, singt Roberto Blanco seit Jahrzehnten, und wo er recht hat, da hat er recht. Verrückt, daß diese Ohrwürmer, in der Kindheit in die Gehörgänge gekrochen, mich lebens­lang begleiten (das noch zum Thema ›Vergessen‹).


Aufwartungen im Gehäus





In Ulrich Ziegers Gedichtbuch Aufwartungen im Gehäus lese ich im Gedicht es ist nur in deinem Kopf, das ich auf Seite 39 vorfinde: die menschheit ist ängstlich und alt, und zack, krabbelt ein Ohrwurm hervor: die Mauern stehn / Sprachlos und kalt – vergleich­barer Rhythmus (bei Hölderlin kommt natürlich das Enjambement hinzu), gleiche Metrik, dieselbe Anzahl von Wörtern und Silben, iden­tische Wortarten (okay, hier ein Hilfsverb, dort ein Vollverb, aber Verb bleibt Verb bei diesem speziellen heuristischen Vorgehen), gleicher Sound einschließ­lich der Auftakte mit bilabialen Reibelauten die menschheit / die Mauern und des Reimpaars alt und kalt, das den Zieger-Vers mit den Hölderlin-Versen in einer grauen Zelle endgültig zu­sam­men­schmiedet.
Ach ja, deine idiosyn­kratische Leseweise, meint Kraus schmunzelnd und denkt nun nicht, daß Zieger, wie ich das gern und oft tue, diese Korres­pondenz bewußt herbeiführen wollte (was naturgemäß auch nicht auszuschließen ist), da sind halt die Ohrwürmer, Schläfer, die allezeit aktiviert werden können, und die lassen sich, einmal in Bewegung gesetzt, nicht aufhalten, führen unsicht­bar die Schreib­hand oder lösen zum Beispiel das aus, was in diesen Zeilen zu lesen ist. Immer wieder stoße ich im Verlauf der 134 Seiten in Aufwar­tungen im Gehäus auf Gedichte, die ich ab­schreiben möchte, wie Johannes Bobrowski das lebens­lang mit den beson­ders beein­druckenden Gedichten und Versen tat, die ihm im Anschluß naturgemäß zu Ohrwürmern wurden. Die Mehrzahl der Gedichte in Auf­war­tungen im Gehäus habe ich zwei-, manche dreimal gelesen.

Das folgende Gedicht, und damit komme ich zum Leben als Dauerkrise zurück, ruft einen Spiegelblick hervor, der mir die Haare zu Berge stehn und Schauer übern Rücken jagen läßt, während ich die letzten vier Jahre, die vergangenen zwölf Monate des Lebens Revue passieren lasse. Ich schreibe das Gedicht umgehend ab und lese es Mrs Columbo mit bebender Stimme vor:

das obligate rezitativ,

mein zorn hat sich gelegt, meine hoffnungen waren idiotisch,
die menschen um mich her sind nicht wie ich zu denken glaubte,
meine maßstäbe konnten nicht angelegt werden,
an niemanden außer an mich,

meine lieben sind alle zersprungen, sie flohen wie diebe,
ich sah sie noch in ihrem unglück, doch sind meine worte nicht hörbar,
die nicht einmal meine gewesen sein dürften,
so waren sie auch nicht sehr rauh,

es bereitet mir freude so unregelmäßig zu schreiben,
es bereitet mir freude den herbst wiederkommen zu sehen,

ich werde vielleicht nicht mehr lange hier bleiben,
ich werde vielleicht nicht mehr fortgehen können.

Ulrich Zieger



Memory's Truth

Pegnesisches Schäfergedicht

Es schlürfen die Pfeiffen/ es würblen die Trumlen/
Die Reuter und Beuter zu Pferde sich tumlen/
Die Donnerkartaunen durchblitzen die Lufft/
Es schüttern die Thäler/ es splittert die Grufft/
Es knirschen die Räder/ es rollen die Wägen/
Es rasselt und prasselt der eiserne Regen/
Ein jeder den Nechsten zu würgen begehrt/
So flinkert/ so blinkert das rasende Schwert.

Georg Philipp Harsdörffer (1607-1658) und Johann Klaj (1616-1656)
Lyrikmail Nr. 2496 vom 29.11.2011


Sometimes you linger days / upon a word, lese ich in einem Gedicht von John Burnside. Seit Tagen flinkert und blinkert es im Kopf. Als Kind im Kindergarten entdecke ich beim Rutschen auf der Rutsche das Wort als pures Wort, das für sich bloß steht und nicht für das, was es bezeichnen soll (und das mehrheitlich ziemlich unscharf bloß tut). Wie jung war ich? Vielleicht vier … Sprach das Wort ›Rutsche‹, während ich hinunter­rutschte, ohne Absicht – just for fun – mehrfach hintereinander aus, ergötzte mich mehr und mehr am Klang des Wortes, das unmittelbar jede Bedeutung verlor, nur noch düstrer Klang, bloßer Laut war, nicht mehr, nicht weniger. Tagelang ging das Wort mir nicht mehr aus dem Sinn.
Teilte ich die frisch gewonnene Erfahrung mit einem Spielgefährten? Ich meine ja, aber hier verblaßt die Erinnerung. I told you the truth, I say yet again, Memory's truth, because memory hast its own special kind. It selects, eliminates, alters, exaggerates, minimizes, glorifies, and vilifies also; but in the end it creates its own reality, its heterogeneous but usually coherent version of events; and no sane human being ever trusts someone else's version more than his own. (Salman Rushdie · Midnight's Children)
Zum wiederholten Male lese ich die November-Titel, baue eine neue Wortliste, flüstre Atem · Box · Burnside · Children · Gespür · Grauland · Grünland · Haus · Licht · Kerle · Kunst · Legende · Meister · Midnight · Mongole · Moss · Reich · Sala­man­der · Vice · Zieger · Zwerg · Gehäus vor mich hin, fühle Stein, höre Sound, sehe Fury.


Lyrik Kabinett München · Ohne Poesie – niemals!

2002, Alas

Where are the birthday poems
for Stalin and Hitler,
the angelhair tarts for Franco?
Where are the sweets for yesteryear,
the party hats? Our revels are not over!
They are shooting rifles in the air
for bin Laden and Saddam.
Happy children
are making bombs of themselves
as never before.
Dreams of mass murder have only begun:
daydreams and wet dreams.
But where is the pastry?
Where are the poems?
Coming, coming, the children sing.
Coming, coming.

Stanley Moss · Gedichte


Matthias Hagedorn, der immer mal aus Bad Mülheim anruft und mich gern mit literarischen Neuheiten aus entlegenen Nischen der Literaturwelt überrascht, staunt: »Die machen eine Lyrikreihe?« Nein, das habe er nicht gewußt. Seit 2006 sind rund 20 Bände erschienen. Neben Moss empfehle ich gleich mal das ebenfalls als zweisprachige Ausgabe edierte Gedichtbuch Versuch über das Licht von John Burnside, und Matze staunt schon wieder: Die Reihe sei also inter­national ausgerichtet? In erster Linie sogar, antworte ich geduldig, nenne die Namen der bislang vier Autoren aus dem deutschen Sprachraum (Nora Bossong · Rolf Haufs · Christoph Meckel · Jan Röhnert) lobe die stilvolle Ausstattung der Bücher und erwähne im Anschluß die »Blauen Bücher«: Blaue Bücher – er kenne die blaue Blume von Novalis, aber blaue Bücher im Lyrik Kabinett?
Weißt du was, Matthias, biete ich unvermittelt und ohne die Aussicht auf Wider­spruch an, ich lese dir einfach mal den Text auf dem großformatigen Lesezeichen vor, der jedem Buch der Edition Lyrik Kabinett bei Hanser, die von Ursula Haeusgen, Michael Krüger und Raoul Schrott heraus­gegeben wird, beigelegt ist, und Hagedorn hört tatsächlich, andächtig gleichsam, zu:

Die Stiftung Lyrik Kabinett in München will der Poesie quer durch alle Zeiten und National­litera­turen ein beständiges Forum zur Verfügung stellen. Die Stiftung unterhält die dritt­größte auf Lyrik spezia­lisierte Präsenz­bibliothek Europas (mit ca. 45.000 Medien), darunter zahl­reiche hoch­wertige Künst­lerbücher, und richtet regelmäßig Veran­staltungen aus. Histo­risch reicht das Spek­trum der Poesie, die in den Lesungen zu erleben war und ist, vom Gilgamesch-Epos bis zu zeit­genös­sischen Stimmen (u.a. Seamus Heaney, Friederike Mayröcker, Durs Grünbein, Adam Zagajewski). Außer der Edition Lyrik Kabinett bei Hanser veröffentlicht die Stiftung in unregelmäßigen Abständen ihre Blauen Bücher. Seit 2005 erscheinen zudem die Münchner Reden zur Poesie: Dichter, Kritiker und Lyrik­liebende werfen hier ein Schlaglicht ihres persön­lichen Inter­esses auf Gedichte und deren Entstehen (u.a. Martin Mosebach, Heinrich Detering, Marcel Beyer, Anja Utler und Harald Hartung). Informationen über unsere Publikationen, Veranstaltungen und zu den Öffnungszeiten der Bibliothek erhalten Sie unter: www.lyrik-kabinett.de.

Der Text schließt ab mit einem Baudelaire-Zitat von 1846: Jeder gesunde Mensch kann leicht zwei Tage ohne Nahrung leben – ohne Poesie – niemals!


Brachylogisch

Nun will ich es ganz genau wissen und lese, nach langer Zeit einmal wieder, Charles Baudelaires Rede Aux Bourgeois im origi­nalen Wort­laut von 1846. Während der Lektüre des vollständigen Satzes – Vous pouvez vivre trois jours sans pain; – sans poésie, jamais; et ceux d'entre vous qui disent le contraire se trompent: ils ne se connaissent pas – schlage ich mir prustend auf die Oberschenkel: Der Bourgeois mag Baudelaire meinetwegen An­maßung · Bosheit · Chuzpe · Dreistigkeit · Erbar­mungs­losig­keit · Frech­heit · Gemeinheit · Hoffart · Impertinenz · Jähzorn · Keckheit · Lümmelei · Miß­achtung · Nieder­tracht · Obses­sion · Pöbel­haftig­keit · Quälerei · Respekt­losig­keit · Scham­losig­keit · Toll­kühnheit · Unver­froren­heit · Vermessen­heit · Willkür · Zynis­mus unter­stellen bzw. zur Last legen, aber das ist es, das ist es: – sans poésie, jamais, und Leute, die das Gegenteil behaup­ten, kennen sich nicht. Auch ich weiß, daß wir zwar einige Tage lang ohne Brot leben können (In der Not / eß ich Butter ohne Brot war ein gern gewählter Zweizeiler in von Armut gepräg­ten Kindertagen, und schon war der leere Magen wieder ein wenig besänf­tigt), aber niemals ohne die poe­tischen Momente im alltäglichen Leben, die wir immer und überall antreffen. Kürzlich fallen mir Spaghetti aus der Packung auf den Küchenboden – was für ein ›großartiger‹ lyrischer Augenblick.

Farbenfrohe Kinder aus den Nachbarhäusern malen bunte Bilder, wilde Wörter, zackig Zeichen auf angerauhten Teer der angegrauten Straße, Regen spült Kreide weg, kaum dringt Sonne durch, ist Wasser abgeflossen, malen helle Mädchen unver­drossen, beruhigen auf diese Weise, naturgemäß und sehr, Verkehr – und auf die leise Schnelle ist alles wieder neu: GEIL. Ver­schmitztes Lachen. Ich regis­triere die Ölfleck­orna­mente im Asphalt der Straßen, die Kiesel­stein­mosaike, die ich in großen Städten an diesen Ecken und Enden nicht unbedingt vermuten würde: Getreu Erika Burkarts Worten orte, einen stein mitnehmen und ein herz dort lassen sammle ich stets den einen oder anderen abseitig liegenden Kiesel auf, um ihn der Stone Art, an der ich unter Verwendung von mittlerweile vielen tausend winzigen, kleinen, mittleren und großen in Feld, Wald, Wiese, Dorf und Stadt gefundenen Natur­steinen auf unserem Anwesen in der Sistiger Wolfskaul auf einer Fläche von rund tausend Quadrat­metern seit 1984 arbeite, einzuverleiben.

Wie faszinierend vermeintlich ›fehlerhafte‹ Floskeln von (Klein-)Kindern oder Menschen zu vernehmen, deren Mutter­sprache nicht deutsch ist. Köstliche Kako­phonie im Kölner Haupt­bahn­hof am Sonntag­abend. Vor Wochen die Keile verspäteter Graugänse im Himmel. Die noch warme Nachmittagssonne blendete, ich wurde ruhiger, fühlte, wie der Steg sich unter mir bewegte, sah Spiegelungen in der Ferne, gebrochene Binsen und Schilfe in der Nähe, sie trieben neben mir. Die verdickten Ringe an ihren Stängeln dort, wo die Gewächse besonders stabil scheinen, glühten rot; kreuz und quer lagen sie, schwebten im Wasser, beschau­kelten die Halme, die noch rauschten. (Ulrike Draesner) Ich erlebe, wie junge und alte Menschen Lieder (Songs) hören, singen, pfeifen, mit Wörtern spielen, Sprüche klopfen, Verse schmieden, Witze machen. Und wenn Özil · Khedira · Podolski spielen, singen und summen in diesem Lande lebende, offenbar fußball- und lyrikverrückte Menschen – Seid umschlungen Millionen! – ein Gedicht, das 1841 auf Helgoland entstand, in Joseph Haydns kaiserlicher Ver­tonung mit. (Fragen Sie Michael Lentz.)

Wir Wiener Waschweiber wollen weiße Wäsche waschen, wenn wir wüßten, wo warmes Wasser wär, höre sie pointiert und bildhaft sprechen, und wie viele Menschen pflegen einen persön­lichen Refrain, der (oft wahrscheinlich ohne sich dessen bewußt zu sein) regelmäßig das Ende der Aussage markiert, die gängigs­ten und abseitigsten rheto­rischen Figuren tollen sich in Sätzen, Tropen verstecken sich in den Wörtern des Alltags, der, zum Vorteil der Verse, die Fundgrube schlechthin für Gedichte geworden ist, das Para­gramm feiert fröhliche Urständ, lese auf der Verpackung von SalbuBronch: Zur Erhei­terung der Bronchien, anti­thetisch · brachy­logisch · chiasmisch · dysphe­mismisch · ellip­tisch · floskelhaft · gemina­tionisch · hyper­bolisch · ironisch · klimaktisch · laut­malerisch · meta­phorisch · neolo­gisch · oxymo­ronisch · paro­nomasisch · repeti­torisch · synäs­the­tisch · tauto­logisch · unter­trei­bend · vulgär · wort­spiele­risch · zynisch geht es zu in der Sprache von Feinden, Fremden, Freunden und Verwandten, daß mir Hören und Sehen vergeht – »usw.« · usw. · usw. –

Allen Menschen, die sich unpoetisch stur, starrköpfig und im übrigen stets ohne jede Not ein unlyrisches Natu­rell unterstellen, weise ich, egal, ob wir uns auf einem Fest, im Flur, in der Kneipe, auf der Autobahn, im Wald, an der Tankstelle, in der Sauna (wo ich noch nie war, was Kraus und Edith für einen folgenschweren Fehler halten), im Büro, unter dem Straßen­schild Maler-Bock-Gäßchen in Köln, im Lyrik Kabinett, am Strand, in der Röhre beim gemeinsamen Lesen des Telefonbuchs: Grünbein · Hübsch · Rautenberg, auf dem Mond, im Klassen­raum befinden, innerhalb kürzester Zeit nach, wie lyrisch (oder antilyrisch) sie sich in dieser und jener Wendung ausdrücken oder wie poetisch sie offenbar das eine oder andere Phänomen empfinden, und ich rufe ihnen mit Baudelaire zu: Vous êtes les amis naturels des arts. And, by the way: the greatest poem is the human nervous system. (Stanley Moss)

Ich höre ›papperlapapp‹?

Keine weiteren Fragen, Euer Ehren.

Lyrik

  • John Burnside · Versuch über das Licht. Zweisprachige Ausgabe
  • Michael Fiedler · Geometrie und Fertigteile
  • Thomas Kunst · Legende vom Abholen
  • Christian Lehnert · Aufkommender Atem
  • Nikola Madzirov · Versetzter Stein
  • Julia Mantel · dreh mich nicht um
  • Stanley Moss · Gedichte. Zweisprachige Ausgabe
  • Jutta Over · Grünland Grauland
  • Asher Reich · SAID · Das Haus, das uns bewohnt
  • Nina Russo Karcher · Manchmal berührt mich das Dunkel · deutsch – italienisch
  • Axel Sanjosé (Hg.) · vier nach · Katalanische Lyrik nach der Avantgarde
  • Volker Sielaff · Selbstporträt mit Zwerg
  • Charlotte Ueckert · Dein Haar ist mein Nest
  • Ulrich Zieger · Aufwartungen im Gehäus

Essay

  • Harald Hartung · Ein vierzehngliedriger Salamander
  • Christoph Meckel · Die Kerle haben etwas an sich · Kunstfiguren, Liebliche Berge
  • Burkhard Meyer-Sickendiek · Lyrisches Gespür
  • Uljana Wolf · BOX OFFICE

Prosa

  • Thomas Bernhard · Alte Meister · gezeichnet von Mahler
  • Monika Böss (Hg.) · Inkas Lesetraum(a)
  • William Faulkner · The Sound and the Fury
  • Johann Lippet · Dorfchronik, ein Roman
  • Thomas Pynchon · Inherent Vice
  • Salman Rushdie · Midnight's Children
  • Thomas Josef Wehlim · Die Tage des Kalifats

Zeitschrift

  • Michael Arenz (Hg.) · Der Mongole wartet 22
  • Peter Marggraf (Hg.) · Berichte aus der Werkstatt 10
  • Traian Pop (Hg.) · BAWüLON 1
  • Arne Rautenberg · Anton G. Leitner (Hg.) · Das Gedicht 19
  • Christel und Armin Steigenberger (Hg.) · außer.dem 18


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Theo Breuer    01.01.2012   

 

 
Theo Breuer
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