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Theo Breuer
»Wie eine Lumpensammlerin«
Vermerk zu Friederike Mayröckers Werk nach 2000
Essay
Es ist das Insuläre, es ist das Eremitenhafte, es sind die kleinen unscheinbaren Dinge, Erscheinungen, Vorkommnisse, die mich zum Schreiben anfeuern, anzünden, mir den Atem rauben, etwas in mir entzücken. Ich folge vermutlich weniger einer traditionellen Logik als einer poetischen Logik, ich denke nicht linear, sondern in Bildern.
Friederike Mayröcker
© Wladimir Fried
»Ich greife vor, die Zeit hat sich aufgerollt wie ein Farnwedel, ich weiß nicht, ob sie schrumpft oder wächst«, les ich in Ulrike Draesners 2014 erschienenem Roman »Sieben Sprünge vom Rand der Welt« und blick, ein bißchen schwindelnd, durchs Westfenster, vorausgestürmt in meiner Lebenszeit, in die Zukunft, hoch oben die flitzende Schwalbe die ich küssen umfangen will, seh mich, Westwind bläst aus vollen Backen, beinah verblühte Herbstzeitlosen, Krokusse, Schneeglöckchen, Winterlinge betrachten – und da: Hummel, Wespe. Osterglocken, Kaukasusvergißmeinnicht »wollen balde kommen«, Veilchen, Hyazinthen tragen blaue, Primeln gelbe Blüten zur Schau. Am Nistkastenschlupfloch in der Blumenesche klebt die Blau-, im Bergahorn die Bienenmeis. Amselgezwitscher in blattlosen Baumkronen. Ich denk, fühl, erinnre: Im August 2010 hat mich Friederike Mayröckers Prosabuch ich bin in der Anstalt · Fusznoten zu einem ungeschriebenen Werk ›gerettet‹ (»hier ist alles. Sogar aller Mut / + die Treue, der Treuemut« · Elke Erb), wobei: Bekenntnisse haben nichts mit der Wahrheit zu tun. Schreiben? Pustekuchen! Acht Monate lang versiegt in jenem Jahr der Schreibfluß, nicht einmal ein Rinnsal bleibt übrig, stattdessen sieht man mich, während mein Herz sich bäumt wie die Büsche am Hang, notverschlungen, die Träume sickern in den Morgenmond, in einem fort, von früh bis spät, Samen ausstreuen, Stauden eingraben, Knöllchen, Knollen in die Erde drücken und Steine, Steine, die behutsam / geworfenen Steine aus Feld, Wald, Wies in den lieblichen Garten schleppen. Noch während des Lesens, ab End August, feg ich Notizkrümel zusammen in der sehnsüchtigen Hoffnung, »balde« doch wieder einen tauglichen Text hinzukriegen – und schreib, tatwortsächlich, während der folgenden Woch den Essay »Bettlerin des Wortes«, was ist es was hat es auf sich, mit dem der mittlerweile um weiter gewachsne Essayzyklus zum Werk Friederike Mayröckers unverhofft seinen Ausgang nimmt und den ich seither wieder und wieder um- und fortgeschrieben habe:
* * *
… die Schwalbe der Adler die Vogelschwinge … Zurück vom rundweg ›himmlischen‹ Gang durch weißen, schweigenden Wald mit ›unheimlich‹ wirkenden Fernblicken, die matten Hügelketten, sie floren jetzt in den Himmel, bei dem uns das Echo, ach mit alten Wäldern unterwegs zum Tag, von Friederike Mayröckers allegorischem · bildreichem · charismatischem · durchdringend elementarem · farbenfrechem ( die roten Kleckse im grünen Blattwerk) · genialischem · herrlich idiosynkratischem · jung klingendem · liebevoll melancholischem · natürlich parodistisch paragrammatischem · quirilierendem · radikal synästhetischem · tränenvollem · universalem · verwegen wildem · zartem · Tag für Tag für Tag fortgeschriebnem, unerhört wortnotenatmendem lyrikprosalebenswerk, auf Schritt und Tritt, fast als / ein Traum, begleitet, in dem ich, Kokon, Ortwort, Wortort, Utopia, zuhaus mich fühlend wie Familie Vogel in dem Nest, das sie seit Jahren im kiefernen Hausbaum bewohnt, unentwegt am liebsten lesen wollt, greif ich erneut nach dem Wortwirbelbuch, zu dem ich mich, vom ersten Vers an, so heftig hingezogen fühl: auf und ab der brausende rauschende orgelnde flügelschlagende Wind. Friederike Mayröckers dieses Jäckchen (nämlich) des Vogel Greif, faszinierend vollkommne Fragmente komplementär konstruierter komplexer Versgeflechte, alles vermengt sich mit allem, in denen ein gewaltiger, aus divergierenden dinglichen, ideellen Elementen sich speisender Wortfluß in kommunizierende Gefäße »zu dem Bade sich ergießt«, Wörter wie rasende Stern- / schnuppen niederprasselnd, wilde Blitze im Herzen, überragt alle von mir gelesnen Lyriktitel des guten Jahrgangs 2009 dermaßen (»ihre dichtung hat eine meinen hals ausrenkende höhe erreicht, die so sehr weiter zu steigern ihre absicht ist, daß sie das alter von 150 zu erreichen proklamiert hat« · Ernst Jandl), daß der Peter-Huchel- Preis, den ich ihr längst für eins der voraufgegangnen Lyrikbücher gewünscht hätt, nun fast schon zu klein scheint für ein so außergewöhnliches, großes, lebendiges Buch, bei dem »unter jedem Tritte ein Quellchen springt« oder – vollkommen kreanatürlich:
der weisze Flockenwirbel : Knospe des Fensters vis-à-vis
die rote Knospe gelbe Tüte weiszes Porzellan, der graue Vorhang
staubig und gebauscht im Hintergrund. Bin in der Tube meiner
Krankheit – weisze Wolle vor dem Fenster, das Fenster mit
den roten Kirschen, das Fenster mit dem Heiligenschein,
Henri Matisse's La Musique klassische Blumenzier / das ist
der Mohn der Zeit. Von Rhododendron Knospen erdolcht, in
Rhododendron Knospen ertrunken . . des Todes
Blitzhotel
5.3.06
© Wladimir Fried
Ich geh in diesem Schreibaugenblick zwei Schritt also weiter, habe gerade die Sprache erfunden rasende Sprache : Die kraft konzentrisch konzentrierten Schreibens hinter dem Schreiben aus simultanvulkanischen Gehirntumulten herausgeglühte Bricolage dieses Jäckchen (nämlich) des Vogel Greif ist das Buch im deutschen Sprachraum nach 2000, das mich mit seinen explosiven Eruptionen anspringt, begeistert, charmiert, durchdringt, entflammt, mitreißt (und ich denke: du kannst hier nicht mehr heraus …) wie kein andres Gedichtbuch in dieser Zeit, und Pflanzen rasen jauchzend in Juni Garben. Bei jeder sich irgendwiewo bietenden Gelegenheit wiederhol ich's gern, und nicht bloß Bensch und Kraus wissen ein Lied davon zu singen: Die wundertoll forttänzelnde / wundenvoll aufspürerische Wortvirtuosin Friederike Mayröcker, die »nimmt und verknüpft, was da ist« (Claude Lévi-Strauss), ist, nicht mehr, nicht weniger, ein ›lyrischer Liebling‹, ›erste Sahne‹ wie die vogelumflatterte Herzwurzelbäumin Platane, von der ich als Kind auf dem Dorfplatz schon ahne (knatternde Fahne, Blätter im Frühlingswind): Sie wird mein Liebling unter den Linden sein. »Und ich kenne keine andere lebende Dichterin, die so sehr zu meinen Synapsen und allen Gefäßen meines Körpers spricht wie Friederike Mayröcker … immer ist sie in ihren Sätzen, in ihrem ganzen Denken eine Liebende, eine Honiglieferantin ihre Sprache.« (Marica Bodrožic) Manchmal möcht ich, wie Abraham Mannheim in Leon de Winters Roman »Das Recht auf Rückkehr«, glauben, daß all die Bilder, die beim Lesen vor mir aufscheinen, »für immer und ewig im Universum kreisen, bis ans Ende aller Zeiten. Widerständige Schönheit gegen das Dunkel des Vergessens«, und ich denke: Die / wortlosen = mannigfaltigen Bewegungen in meinem Kopf sind wie Ge- / mälde von Pollock in meinem Kopf und vermögen es nicht sich zu frommen Lauchblumen = / Formulierungen zu gestalten ………
für CF am frühen Morgen
ist das 1 Gedicht, sagt CF, ja
das ist 1 Gedicht : indem ich sage das ist
1 Gedicht ist es 1 Gedicht. Meine
Ärztin sagt, essen Sie 1 Gedicht, ich
weisz nicht wie man es kocht, sage ich. Wenn Antoni
Täpies sagt, diese weisze Form ist 1 Sessel, erkenne
Ich in dieser weiszen Form einen Sessel, ins
Zentrum gerückt. Indem ich von einem Urinoir sage, das
ist 1 Kunstwerk, sagt Marcel Duchamps, ist
es 1 Kunstwerk. Indem ich sage, die
weiszen Schäfchen am Himmel, sind es die
weiszen Schäfchen am Himmel
15.1.05
© Wladimir Fried
»Vous pouvez vivre trois jours sans pain; – sans poésie, jamais; et ceux d'entre vous qui disent le contraire se trompent: ils ne se connaissent pas«, warnt Charles Baudelaire: So steht es in einem frisch gedruckten Prospekt für Lyrik geschrieben. Ich will es nun ganz genau wissen und lese, nach langer Zeit einmal wieder, Charles Baudelaires Rede »Aux Bourgeois« im originalen Wortlaut von 1846. Während der Lektüre des vollständigen Satzes – »Vous pouvez vivre trois jours sans pain; – sans poésie, jamais; et ceux d'entre vous qui disent le contraire se trompent: ils ne se connaissent pas« – schlag ich prustend mir auf die Schenkel: Der Bourgeois mag Baudelaire meinetwegen Anmaßung · Bosheit · Chuzpe · Dreistigkeit · Erbarmungslosigkeit · Frechheit · Gemeinheit · Hoffart · Impertinenz · Jähzorn · Keckheit · Lümmelei · Mißachtung · Niedertracht · Obsession · Pöbelhaftigkeit · Quälerei · Respektlosigkeit · Schamlosigkeit · Tollkühnheit · Unverfrorenheit · Vermessenheit · Willkür · Zynismus unterstellen bzw. zur Last legen, aber das ist es, das ist es: – »sans poésie, jamais«, und Leute, die das Gegenteil behaupten, kennen sich nicht. Auch ich weiß, daß wir zwar einige Tage lang ohne Brot leben können (»In der Not / eß ich Butter ohne Brot« ist ein gern gewählter Zweizeiler in von Armut geprägten Kindertagen, und schon war der leere Magen wieder ein wenig besänftigt), aber niemals ohne die poetischen Momente im all/täglichen Leben, die wir immer und überall antreffen. Kürzlich fallen mir Spaghetti aus der Packung auf den Küchenboden – was für ein ›großartiger‹ lyrischer Augenblick. By the way: »The greatest poem is the human nervous system« (Stanley Moss)
Und nach einigen Hochsommerwochen fast absoluter gräszlicher Lesensunfähigkeit, du mußt wieder lesen lernen, nein nicht nur leben lernen, lesen lernen : dieses rätselvolle Lesenkönnen, daß nicht die Zeile, die man eben gelesen, dahingleitet in einer Phantasie, ich meine dieser Trödel von Spuren, solche rare Kulisse einer mich durchdringenden Aufmerksamkeit, schreibt Friederike Mayröcker im Requiem für Ernst Jandl, verteufelter Spuk, den ich mein Lebtag nicht gekannt hab und der mich gleichsam verhungern läßt, bin ich schon zufrieden, ach was, zufrieden, in mir randalierts, ich schreie ich tobe ich stampfe mich selbst bis an / die Knöchel in die aufgeweichte Erde des verkommenen / Rasenstücks, wenn ich mich am Abend, vielleicht, sobald die Sonne zu sinken / begann, durch eine oder zwei Seiten kämpf, nachdem ich tagsüber immer wieder um die Bücher herumschleich, mich ihnen zu nähern versuch, es kaum einmal schaff, eins in die Hand zu nehmen, zu öffnen, bin gleichsam Trakls »Wanderer im schwarzen Wind«, von der gleichzeitigen Unfähigkeit zu schreiben ganz zu schweigen.
Variationen auf 1 verdorrtes Ästchen, nach Hermann Hesse's
Gedicht „Knarren eines geknickten Astes“
das Mimosenbäumchen im Bett ach das Mimosenbäumchen im Bett, das
Mimosenbäumchen hat aufgegeben : die abgefallenen Blättchen die
geknickten Ästchen das zerzauste Stimmchen, das Mimosenbäumchen
gesträubt. Opuszahl 101 das Notenblatt plärrt der Violinschlüssel
geht im Wald spazieren, 1 Gestrüpp auf dem Küchentisch, das Mimosen-
bäumchen hat aufgegeben, seine Dornen sind hyper, die goldene Sonne
gebleicht, ich war beschäftigt innig mit Sehnsucht, die Ästchen die
Blättchen zerrauft, das Exkrement hatte Hundegestalt, Gestrüpp auf
dem Küchentisch, die tiefe Grotte unserer Nächte (geschrieben an
der Loire), habe Tod aus den Büschen, der Blumen Nektar und schutz-
befohlen, Fetisch von Albatros, oder im plötzlichen (Blüten)Schnee
deiner Hand, Gurgel der tiefen Grotte ausgetrocknet, welche eigentlich
1 Fetzchen Kreppapier usw., 1 paar Dornen, das Mimosenbäumchen ver-
blüht, Mondflecken auf dem See, 1 plötzliches Blitzen von Sturm,
die Monogramme des Efeus, Genet
7.7.11
© Wladimir Fried
Nun les ich seit einigen Tagen wieder, einigermaßen jedenfalls, in der Art, wie ich immer les und wie ich lesen will, nein, lesen muß, immer, immer lesen muß, seit ich lesen kann, wenn ich ein, zwei Tage nicht schreiben kann, bin ich verzweifelt und fürchte, es ist aus, bekennt Friederike Mayröcker, deren tropfenartig ineinanderfließende Wörter ich mir, Sprache nicht abrufbar, rat- und rast- und restlos, unbemäntelt einverleibe: Wenn ich ein, zwei Tage nicht lesen kann, bin ich verzweifelt und fürchte, es ist aus, ich les schon, als ich noch gar nicht lesen kann, erzähl ich Mrs C. beim Tee zum xten Mal, das Lesefaszinosum entdeckt mich mit drei, als ich auf dem Speicher ein mit schwarzleinenen Büchern gefülltes Köfferchen find, das ich in mein Zimmer mitnehmen darf, ein Buch zieht das andere nach sich, kaum ist das eine ins Regal gestellt, greift der Kettenleser nach dem nächsten, und so les ich vor wenigen Tagen, mit großer Anteilnahm, Ernst Wiecherts bewegenden Roman »Das einfache Leben«, nun les ich, während es draußen wundervoll regnet, ich habe den Regen sehr gern, leider regnet es in Wien viel zu selten, die wenigsten Menschen, die ich kenn, wissen den Regen zu schätzen, ich lieb ihn, fühl mich ihm nah, geh oft in ihn hinein, am Tag, in der Nacht, selbst wenn ich schon im Bett lieg, steh ich bisweilen auf und lauf hinaus in den Regen, rieche den Regen, an einem Tag im Juli blick ich am späten Nachmittag während des Gewitters hinauf in den finstergrauen Himmel, in den in jenem Augenblick ein Feuerball geschossen wird, unmittelbar über mir, wie ich ihn noch nie gesehn, der unmittelbare Donner reißt mir die Füß weg, mitten in Feuer / Wolken und Finsternis, ich flücht um die Hauseck, lug einige Sekunden später gen Himmel, um zu sehn, ob die Luft rein ist, wo bin ich, ja, nun les ich Friederike Mayröckers Prosabuch ich bin in der Anstalt, bin glückl:ich, bedingungslos bloß in diesem Wörtermeer zu schwimmen, so bin ich 1 anderer geworden, in die Wörter einzutauchen, mit weit geöffneten Augen, mit geschloßnen, blinzelnd, fixierend, die Wortkaskaden prickeln zaubrisch auf der Haut, lassen mich schwirren, immer wieder der Traum, in Wortwelt verirren. Wenn ich nicht verbrenne beim Schreiben eines Gedichtes, ist es kein gutes Gedicht und wird den Leser kalt lassen. Wie nah hier bei FM bei Augustinus: »In dir muß brennen, was du in anderen entzünden willst.« Ich laß mich hierhindorthin treiben, von Wellen wegtragen, wasserklare Wörter strömen über mich hinweg, wirbeln weiß durch mich hindurch, und es tobte in mir aber ich konnte es nicht unterdrücken und mein Herz wallte und mein Blutdruck war in die Höhe geschnellt und meine Hand zitterte dasz ich meine Notizen nicht mehr entziffern konnte, und die Fingerspitzen in der Butterdose und der Suppenlöffel im Honigglas, und die Walze des Kopierapparates griff nicht mehr nach dem eingelegten Papier und die letzten Mai Tage waren kalt und es war 1 kalte Sonne und 1 wütender Wind und 1 Übelkeit hatte mich befallen. Ein Tag im späten August, 8 Grad Celsius, es regnet, es stürmt, Schostakowitschs fünfte Sinfonie drängt ins Ohr –
[...] und dann baden wir im Balaton und ich merke dasz ich nicht mehr schwimmen kann, also bin ich unsicher im Schwimmen wie ich unsicher im Gehen bin, und eines bedingt das andere, und das Wort Balaton habe ich nur eingesetzt weil es 1 blauer Halbedelstein ist und das in seinem Blau so heftig spiegelte dasz es meinen Augen wehtat, Balaton, sagt er, ich war nie dort aber er leuchtet in meiner Vorstellung wie 1 Ästchen in 1 Frühlingsgebüsch und dann klirrt es mir in den Augen weil das Oberlichtfenster unter dem ich stand zerbrach und ich war erschrocken denn das Rieseln des Glases war in den Augen, dann war ich wie 1 Rebhuhn und muszte Ecke stehen
© Wladimir Fried
Friederike Mayröcker, man müszte wenigstens zweihundert Jahre alt werden / nur nicht enden möge diese Seligkeit dieses Lebens nur nicht enden ich /habe ja erst angefangen zu schauen zu sprechen zu schreiben zu weinen /und hinter den Jalousien das mich scheuchende Licht des Morgens, kann mit Wörtern wie rasende Sternschnuppen niederprasselnd augenscheinlich nicht einmal daran denken, auf das Schreiben eines Gedichts zu verzichten, wie ich es immer wieder tun muß in den Sommerwochen der letzten Jahre, in denen ich stattdessen Steine zu finden such, arbeitet sie doch Tag für Tag für Tag an dem einen Gedicht, habe jetzt einen flow von Gedichten, das sie früh erfunden und lebenslänglich veredelt hat. An/gespannt, bewußt intuitiv er/findend, wohlwissend denkend, einfühlsam formulierend, Der Satz kann nur so lauten, wie er da steht, mir geht es immer nur um die Sprache, um ihre Funktionsweise, vor allem ihre Schönheit; Handlung, Botschaft, interessiert mich alles nicht, in die Tiefe lauschend, leidenschaftlich kombinierend, un/ruhig tastend, kon/zentriert spürend, wortumrauscht, seh ich sie, in konzertierter Aktion aller notwendigen geistigen, körperlichen, seelischen Energien, die Wörter, Wörter, Wörter, summende Bienen, Hummeln, Wespen auf das in die Hermes Baby eingespannte Blatt tippen, weiter, das Schreiben von Gedichten hat für mich etwas mit Aquarellzeichnen zu tun, während die Prosa mehr Bildhauerei ist, weiter, usw., verzaubernde, wie Ästchen im Wind zitternde Verse, zarte Zeilen schreiben, immer auch gegen das Skandalon, der Tod ist 1 Unfug, des großen Abschieds, ich fühle mich nicht alt und manchmal geht es sogar so weit, dasz ich wieder bloßfüßig in Deinzendorf herumlaufe als Kind. Und das ist nicht die übliche Erinnerung der Erinnerung des alten Menschen, sondern die Kindheit. Es ist das Gefühl, ich fange erst an. Manchmal denke ich, mein Leben beginnt überhaupt erst. Sie besingt, weinend, beschwingt von Liebe, umringt von Leid, das Leben, dessen banalprofanen Saiten sie mit verrücktesten Kombinationen von Wörtern, Wörtern, Wörtern sie den einzigartigen FM-Sound abgewinnt, der mich diese wunderlich erhellten, synchron abgespulten, von zähnefletschenden Kameras eingefangnen Kopfabenteuer direkt, geradewegs, unmittelbar, »deep in my core« (Richard Burns) erleben läßt, »als wär's ein Stück von mir«, mein eigenes Gehirn, ich hör die Gefühle knistern, riech, wie die Töne schreien, zittern, schmeck, gierig, »das kalt gehaltne Material«, seh, klar, verwirrt Gedanken, spür, sehr genau, grau die Farben, fuchsienrot
habe jetzt einen flow von Gedichten
der schmale Mond die Luft ist kalt die
Vögel schreien Henri Matisse er will mich wunderlich
erhellen ich bin verwirrt die Füsze knistern durch
die Nacht er sättiget die jg.Raben es ist 1
Dämmerungs Effekt ich träume jetzt von Weidetieren
gierig ich träume von verborgenen Veilchen die Gräser
zittern während fuchsienrot die Jahreszeiten der Himmel
grau ich bin verwirrt die Füchse zähnefletschend
durch den Wald der Regen wird mich minnen
3./4.2.06
© Wladimir Fried
Ich kann alles durch meine Augen in mich aufnehmen und aus mir herausschreiben – und seit 1939 transmutiert die Alchemistin unersüdlich alles wie auch immer oxymoronischparadox zersplitterte, zersprengte, zerstreute Dasein in krenatürliche Wortkonzerte, komponiert die Rhapsodin, jüngste unter den vielen so jungen Literatur Machenden im deutschen Sprachraum, das durchunddurch musikalische, nach 2000 in noch immer höhere Höhen sich schwingende, »Sterne hoch die Kreise schlingende« word in progress, dessen unendlich kreiselnde Zeilen, strömende Prosa, dessen freimetrische, weit ausschweifende, das Unvereinbare in Einklang bringende, wortlaufend Fetzchen aus Malerei und Musik einverwebende, bis ins äußerst Mögliche verdichtende Versmontagen, irdisches Mollstöhnen, vexierhörbildartig, in ›überirdischen‹ Tolltönen erklingen lassen. Mayröcker betont gern die Nähe zur bildenden Kunst, zugleich die Verschiedenheit von Lyrik und Prosa: Das Schreiben von Gedichten hat für mich etwas mit Aquarellzeichnen zu tun, während die Prosa mehr Bildhauerei ist.
»Ich glaube nicht an Überirdisches, / nur, daß wir auf sehr / überirdische Weise / irgendwie / verrückt sind«, wirft Kraus, unaufgefordert, ein, aus Maximilian Zanders Gedicht »Anthropisch« zitierend, das er in »Matrix 35« findet. So wird Ich weiter in die Zange genommen, denn wenn ich dermaßen ins Schwärmen gerat, zwinkert auch Peer Quer mir gern zu und meint etwa: Die Mayröcker schreibt also so, wie du gern schriebst, wenn du so schreiben könntest. Was wär Quer zu antworten? ›Nichts‹? Magnolien Etüden von Regen, Küsse von Regentropfen / tauenden Himmeln, möchte in brausenden Gärten spazieren brennenden / Gärten mit dir usw., nein keinen Tod keine Wandlung kein Verderben kein Hinscheiden kein unisono und farbenfrohe Kinder aus den Nachbarhäusern malen bunte Bilder, wilde Wörter, zackig Zeichen auf angerauhten Teer der angegrauten Straße, Regen spült Kreide weg, kaum dringt Sonne durch, ist Wasser abgeflossen, malen helle Mädchen unverdrossen, beruhigen auf diese Weise, naturgemäß und sehr, Verkehr – und auf die leise Schnelle ist alles wieder neu: GEIL les ich und seh verschwitztes Lachen. Ich nehm die Ölfleckornamente im Asphalt der Straßen wahr, die Kieselsteinmosaike, die ich in großen Städten an diesen Ecken und Enden nicht unbedingt vermuten würd, und wie Erika Burkart, »orte, einen stein mitnehmen und ein herz dort lassen«, les ich, Draesnerscher »Steinemann« geworden, hier den einen, dort den andren abseitig liegenden Kiesel auf, ihn dem Steinwerk einzuverleiben, wie ich ihm schon ein paar tausend winzige, kleine, mittlere, große in Feld, Wald, Wiese, Dorf, Stadt gefundene Kalk-, Quarzit-, Schiefer-, Sandsteine auf unserm Anwesen in der Sistiger Wolfskaul auf einer Fläche von rund tausend Quadratmetern seit Jahrzehnten zugefügt hab.
dieses Vöglein Vögelchen mit der Trompete nämlich im Regen-
schauer des Morgens wehe mein Herz wie Tränen am Fenster Perlen
April usw., trippele durch die Träume, Sufistimme Satie, kretische
Steine auf meinem Herzen wie ich erkenne Weide Flüsse und Wälder
damals im Brausen und Hand in Hand, die weiszen Füsze des Kranichs
das Blättchen Entzündung der Rose, die errötende Blume und wie
sie ins Herz gelodert bin eingesponnen in Forste Fittiche Finger-
chen, hatte geküszt 1.grüne Blättchen hinter Parkgitter Heidelerche
Wildtaube Zeisig in meiner Einfalt. Auf blauen Stoffgürtel tretend
mein Gotteshirn – hatte zu Hase geflüstert Lapin oder zerknalltes
Kaninchen, solche Böglein Bögelchen glucksend (aus der Erde guckend)
oder wenn diese Romi entlangschläft entlangschleift ich meine deren
Schatten mir auftaucht, wie's windet . . . . . . . . . . . die Thaya nämlich
war vorübergewischt hatte genäselt im Flur usw., ausgeblasenes
Föhnchen wie's mundet
27.3.2011
© Wladimir Fried
Als ich die 99 Briefe in Paloma les, lieber Freund, werd ich eingefangen von allmutig beseelenden, simultan im Schreiben assoziierten, von ›überallher‹ zusammenströmenden, Bilder, Erinnerungen, während ich sie aus nächster Nähe betrachtete, sie heranzoomte, vergasz ich zu atmen so erregt war ich, Gedanken, Gefühle detailliert vor Augen führenden, federweichen, luftig rhythmisierten, reflexiven, resonanten Reihungen, ein Wort gebiert das andere, Wörter werden zur Endloszeile, deren Sog mich tief und tiefer in die Mayröckermetamorphose hineinzieht, und ich fragte mich wie die Blumen hießen im Beet unterhalb des Fensters, aber mich schwindelte, aber ich war glücklich, immer und überall meine einzelnen Handschuhe, auf dem Fußboden, auf dem Schrank, auf der Bücherkiste während Maria Callas im Nebenzimmer, Mario sagt, damals bin ich am Kamin vorübergegangen, und da war plötzlich die vollendete Seligkeit in mir … 2009 erweitert Magierin Mayröcker mit den Gedichtbüchern Scardanelli (hier wird die Wahlverwandtschaft, – diese Prise Hölderlin –, endgültig manifestiert, und dieses Jäckchen (nämlich) des Vogel Greif – das violette Bild die Kuhschellen Gieszkanne im Fenster – ein wundersam sich ins gleichsam Unendliche dehnendes Werk um zwei weitre Titel, deren virtuose Verwandlung der mit jeder Sekunde immer brösliger erlebten Welt in Mayröckers Sprache mich wie jedes Mal neu bezaubern,
lieber Freund,
die weiszen Lilien die du mir zur Tür gelegt hast, sind eine grosze Lust mein Schreibzimmer voll Glanz und Duft : das wird mich anfeuern zu schreiben – sonst geht es mir gut, ich schreibe fast nur noch Gedichte. Bei mir um die Ecke ist gerade der Flieder aufgebrochen. Die Vielfalt im Fenster vis-à-vis hält mich in Atem (Arzt und Alzheimer) : da wechseln die Gegenstände wie Bühnen Kulissen, corso, es ist sehr erbaulich : heute gelbe Gieszkanne neben Azaleenbusch und gelber Fleck einer auftauchenden Person, ein dämmriges Interieur, Umarmung
3-5-06
»Gestern fielen die ersten Kastanien dieses Herbstes / vor meine Füße, es waren elf, elf Wochen auch bis / November, die Nebel wären willkommene Gäste / zu meinem Geburtstag«, les ich in einer lyrischen Prosaminiatur bei Francisca Ricinski. Und ich frag mich just in diesem Schreibmoment, während der Blick über Bücherwände schweift, ob Dichtung eine Form der Berührung von ›möglichen‹ und ›wirklichen‹ Welten sei, was auch Friederike Mayröcker, deren Verse und Zeilen nach 2000 befreiender, frischer, luftiger, offener wirken denn je, in ähnlicher Weise formulierend hier und dort in den sich stetig weitenden Wortraum stellt. »T:raumflug also und Wirklich-Flug ins Unbekannte, Unbehauste, so bekannt. Eine unverhoffte Wörterreise mit Friederike Mayröcker ans Grenzzerfließen dessen, was ist und sei, sein könnte, wäre …« (José F. A. Oliver) Oder Michael Lentz:
Ein an den biochemischen Stoffwechsel gekoppelter Stoffwechsel ist das Mayröckersche Schreiben (Das Hirn sendet Funksprüche aus, ich schreibe sie pausenlos nieder), ein bewusstseinsverankertes, prozessorientiertes Oszillieren der Wahrnehmungs- und Gedankenschübe: Dieses »ganze wahnwitzige Element der Verwandlung von Wirklichkeit in Poesie« ist ja im Grunde ein urromantisches Programm, ein »Potenzieren von Wirklichkeit«, wie Novalis es nannte. Das Auf- und Abtauchen von (auch sehr konkreten, alltäglichen) Momentaufnahmen, von Bildern und Sinnzusammenhängen, »Schnappschüsse, von erschreckender Schärfe«; ›murmelnde‹, gesprächige, schreiende Literatur, die den Leser »in den Himmel der Sprache : in die Hölle der Sprache« entlassen will. Ein vagabundierendes, treibendes, umkreisendes Schreiben, das auch sein Scheitern schreibt: hymnisch, bedrängend.
Und die Titel locken aber die ungeheuren Bücher ungelesen, auf dem Fußboden neben dem Bett. Am 20. Dezember 2014 vollendet Friederike Mayröcker das 90. Lebensjahr, worüber sie bereits 2010 im Prosabuch ich bin in der Anstalt sinniert, und es sind nicht die Szenen die ich erinnere, es sind vielmehr die diese Szenen begleitenden Sensationen. Was also wären ›mögliche‹ Welten, was ›wirkliche‹? Man weiß es nicht, glaubt es jedoch zu ahnen. Aber ist da nicht, g:lück:l:ich:er:weis, jene dritte Welt, in der die beiden Welten zueinander finden, zu einer dritten verschmelzen, »in die der Dichter seinen Atem bläst, und sie füllt sich mit der Größe und Lebenskraft des Universums« (Walt Whitman): »Vollkommen selbstverständlich hebt sich die Grenze zwischen Leben und Kunst auf. Es schießt zusammen. Und Friederike Mayröcker macht aus dem Leben Poesie.« (Marlene Streeruwitz)
Manchmal bei irgendwelchen zufälligen Begegnungen
streift meine Hand deine Hand deinen Handrücken
oder mein Körper der in Kleidern steckt lehnt fast ohne es zu wissen
einen Augenblick gegen deinen Körper in Kleidern
diese kleinsten beinahe pflanzlichen Bewegungen
dein abgewinkelter Blick und dein Auge absichtlich ins Leere wandernd
deine im Ansatz noch unterbrochene Frage wohin fährst du im Sommer
was liest du gerade
gehen mir mitten durchs Herz
und durch die Kehle hindurch wie ein süszes Messer
und ich trockne aus wie ein Brunnen in einem heiszen Sommer
© Wladimir Fried
Wie faszinierend vermeintlich ›fehlerhaften‹ Floskeln von (Klein-)Kindern oder Menschen zu lauschen, deren Muttersprache nicht deutsch ist. Köstliche Kakophonie im Kölner Hauptbahnhof an einem merzigen Sonntagabend im Nachgang zum Mozartkonzert in der Philharmonie. Vor Wochen die Keile verspäteter Graugänse im Himmel, als ich im Garten zwischen den Steinen stand, und »die noch warme Nachmittagssonne blendete, ich wurde ruhiger, fühlte, wie der Steg sich unter mir bewegte, sah Spiegelungen in der Ferne, gebrochene Binsen und Schilfe in der Nähe, sie trieben neben mir. Die verdickten Ringe an ihren Stängeln dort, wo die Gewächse besonders stabil scheinen, glühten rot; kreuz und quer lagen sie, schwebten im Wasser, beschaukelten die Halme, die noch rauschten.« (Ulrike Draesner) Dann steh ich, beispielsweis/urplötzlich, im Kölner Maler-Bock-Gäßchen, seh und hör, wie junge alte Menschen Lieder singen, pfeifen, mit Wörtern spielen, Sprüche klopfen, Verse schmieden, ruf ihnen mit Baudelaire zu: »Vous êtes les amis naturels des arts«.
So find ich, suchstäblich, wortwörtlich, Geschenke noch und noch, verschmelz mit Wörtern, verbind, denk, wälz, und jetzt – einfach bloß im Buch der Mayröcker weiterlesen: Infantin des Winters // las 1 paar Zeilen die ich geschrieben hatte letzten / Sommer im Ausklang im Auslug der Singvögelchen Wand, Efeu Ge- / büsch nämlich unter dem Sonnendach meiner Tränen (Goya) nämlich / in fremden Gärten mit schreiendem Phlox dunklen Blumen in den / Sprachen die ich nicht (mehr) verstand wo die zerbissenen / Äpfel am Wiesenrand in den Schatten Küssen des Freunds, der / Totenvogel am Fenster. Jetzt die japanische Kirsche am Beginn / eines neuen Jahres nämlich die Farbe grau, im grauen Dämmer : / glorreiches Grau und wie er mir sagt ich sei die Verbündete / seines Herzens – 11./12.1.08. Richard Dove, englischer Dichter deutscher Sprache, Übersetzer Friederike Mayröckers, geht so weit, weiter geht's nicht: »FM c'est moi«.
Friederike Mayröckers Gedichte sind der Herzwurzel entsprungne, von schwungvoll geschmeidiger Sprache durchdrungne, in kapriziöser Form entworfne, spirituelle Sphären hineinsingende, stets unvermittelt einsetz|endende, Gedichte, deren mich rasend machender Mikromakromayröckersound sich entfaltet durch alliterativ, allusionär, anaphorisch, antithetisch, assonant, binnengereimt, chiasmisch, dynamisch, ironisch, metaphorisch, paronomasisch, variabel, wortschaufelnd, übermalend, verfremdend, zitierend verflochtene Assoziationen, in denen, buchstäblich, fundsätzlich, alles nur ›Mögliche‹ an Motiven, Stoffen, Themen, Topoi vom Himmel zur Erde und kosmisch weit darüber hinaus – ambivalenter Alltag, Anruf, Arie, Begegnung, Biographie, Café, Chaos, Ekstase : T. S. Eliots grimmigem Gedichtauftakt »April is the cruellest month« begegnet sie trunken frohlockend: mich betäubt dieser April dieser süsze Monat so grün und zart, Emotion, Erinnrung, Farbe, Fenster, Freundschaft, Liebe, Linguistik, Literatur, Luft, ein Gedicht in den Lüften, Korrespondenz, Kunst, Melancholie, Musik, wir hören Eric Satie am Morgen am Abend, Metabolismus, Natur (Baum, Blume : Akelei, Bougainvillea, Gänseblümchen, Glyzinie, Hyazinthe, Iris, Lilie, Malve, Narzisse, Phlox, Resede, Rose, Schneeglöckchen, Seidelbast, Vergißmeinnicht, Frucht, Vogel: ich werde die Stimme des Vogels um- /armen: sie ist meine Geliebte), Philosophie, Psyche, Reise, Sehnsucht, ich möchte leben Hand in Hand mit Scardanelli, Sorge, Sprache, Trauer, ich weine viel, Traum, Umwelt, Vergänglichkeit, Wald und Wien und Wind und Wolken, Zufall, usw., usw. – zu kunstlustvoller wunderrunder synästhetikatachresischer, mit Elektrizität aufgeladener Wortgestalt von unerhörter Ausstrahlung zusammenfließt, die mich, sich jederzeit weitherzig verströmend, auf dem lebenslangen Wortpflasterweg zu Findung, Vergewisserung von Selbst und Welt, das Private, das Universale fließen zusammen, teilhaben läßt an der Erschaffung des Mayröckerkosmos: Ich lasse mich von meiner Sprache tragen, als sei ich ausgestattet mit Fittichen und es trüge mich in die Lüfte, aber ich sehe es nicht und es musz von alleine kommen ..
Im Gedenken an Oskar Pastior
Schwärme von schwarzen Vögeln des Sommers
Honig Atem vorüber der rote Hibiscus im grünen
Gebüsch diese Gefühle vogelfrei : klugäugig nämlich
dein hohes Herz ein Blatt von einem Pflaumenbaum aus
grünbemalter Quelle Quitte ein Glyzinien Flor und
Wiegendruck Oktober ach die Votivgaben des Sommers die
dichtenden Vögel deine pulsierenden Verse eine
Viole am Himmel
Zum mittlerweile wohl rund siebenhundertsten Mal Schuberts achter Sinfonie lauschend, an manchen Tagen fünf, sechs, sieben Mal, Anzeichen verrückten Wahnsinns?, hör ich zeitgleich Mayröcker sprechen: […] ach diese Belesenheit, Unbelesenheit, weil kein Buch zu Ende gelesen, während man 1 Dutzend Bücher am Bettrand stapelt, eins nach dem anderen aufgeschlagen, darin gelesen, wieder zugeschlagen, das Lesezeichen dazwischen gelegt, Kaulquappe, Ringlein und Brosche, ach diese Anfälle von Lesefieber dieses Erlöschen von Lesefieber, Zwirnfaden, zwitterfarbener Stift, diese mehrfachen Lesezeichen im nämlichen Buch, um Stellen, die einem besonders den Atem rauben, zu markieren, wie eingelegte Melodien, Maria Callas Arie zwischen die Seiten gelegt, daß es hervorsingt, sobald man das Buch öffnet, daß es gleich Hermes herauswirbelt oder Wolken Teppich den Wolken Teppich eingelegt wie er brandneu. Unmittelbar springt Jandl in den Sinn:
Ich meine, Lyrik, oder jede Art von Literatur, auch Prosa, oder was immer, kann nur entstehen gegen den Hintergrund oder auf der Basis von aller bisherigen Literatur oder Lyrik. Da ein Weniges ein wenig anders gemacht zu haben, als es schon war, ist ziemlich alles, was man erreichen kann. Ein Weniges ein wenig anders machen. Ganz kleine Verschiebungen. Sich vorzustellen, man könnte nun alles ganz anders machen, das würde etwas ergeben, was nicht mehr als Gedicht oder nicht mehr als Prosa erkennbar sein kann. Wie ja auch eine Plastik immer noch eine Plastik bleibt, auch wenn sie ganz anders gemacht wurde als je eine zuvor. Und die Künstler, sie finden sich alle in den gleichen Musentempeln ein – ob das Beuys ist, Rühm, Schwitters, Artmann oder Webern. Alle in den gleichen Musentempeln, wo die Jahrhunderte und die Jahrtausende schon gespeichert sind.
© Wladimir Fried
Friederike Mayröcker ruft, beispielsweise, Namen wie H. C. Artmann, Roland Barthes, Georges Bataille, Samuel Beckett, Hélène Cixous, Jean Cocteau, Jacques Derrida, Marguerite Duras, Elke Erb, Jean Genet, Friedrich Hölderlin, »und trunken von Küssen / tunkt ihr das Haupt / ins heilignüchterne Wasser«, Ernst Jandl, Heinrich von Kleist, Jean Paul, Francesco Petrarca, Sylvia Plath, Gerhard Rühm, Jean Paul Sartre, Arno Schmidt, Claude Simon, Gertrude Stein, Andrea Zanzotto auf, wenn es um literarische Einflüsse geht: angelesen, halbgelesen, durchblättert und exzerpiert, ja, vor allem dies: exzerpiert, mir zu eigen gemacht, in den eigenen Leib verpflanzt, aufgegessen (»nimm das Buch und verschling es«), … so saß ich mehr als 2 Jahre an meinem Honigtisch Seite an Seite mit Gerald Manley Hopkins und Peter Waterhouse und ließ mich beatmen von ihrem Geist. Wen würd ich benennen wollen? Kommt bei dir wohl auch auf die Jahreszeit an, unkt Peer Quer. Halt dich also lieber an Odysseus, den listenreichen, der einfach mal vom ›Niemand‹ und spricht und keineswegs niemanden meint … Freilich, von Friederike Mayröcker muß ich jedes Buch lesen, dieser Drang ist nach 2000 stark und stärker geworden, und was das mit mir macht, das sieht man ja. In dieses Jäckchen (nämlich) des Vogel Greif treff ich auf das Gedicht
»ich bin in Trauer tiefer als du denkst« (Dusan Kovacivics)
flackernder Schädel, meiner. Ein schräger Schein der Morgen-
sonne im Fenster Viereck graues Gewölk . . die zarte
Figur des Freundes der Freundin, danke mein
Kind : die Stimme am Telefon, der alten Putzfrau der ich versprach
1 wenig Geld, danke mein Kind – es erinnerte mich an
T.S.Eliots Waste Land (danke mein Kind) oh ich sitze im kl.Garten
Am Mittelmeer, heute noch auf dem Wege zu dir aber
Nach Ischl. Die Meridian Rede des Paul Celan, hingeworfene
Vögel. Trage die alten Kittelchen : seien wärmer als frisches
Gewand usw., (be)schreibe die Wirklichkeitsform, sah aus dem blutenden
Fenster mit entzündetem Vergnügen und es heult der Wind (»will
Immer studieren«) zieh mich rasch an / religiöses Wolkenmeer, denke
so viel an dich möchte dich wiedersehen, so verzaubert die
Schreibkammer dasz ich weinen musz . . dies getippteste
Begräbnis : eine Art Waldes Maschine, wie die Wolken rasen
über den Himmel, als ich im kalten Zimmer (in Nässjö)
unter die Decke (raubte) verlesen während
die Schwalben funkelten und ich im Kalender schaute der wievielte
August, Klaus Schöning sagte in unserem Alter ist alles symbolisch
6.08.05
Frühseptembertage, bin beseelt von der Lektüre virtuos verdichteter, permanent pulsierender Gedichte Friederike Mayröckers : dieses lichtblaue Paradies im offenen Fenster und Gerard Manley Hopkins' : »Sweet fire the sire of muse«, deren Gedichtbücher mich in spürbar herbstlich sich anfühlenden Zeiten zum wiederholten Mal auf eine dermaßen unerhörte Art und Weise beglücken, beleben, berauschen, daß ich phasenweise von Sinnen bin, Gedichte von Hopkins, die gelenkige Sprache das Englische, Gedichte von Mayröcker, die errötende Blume : mein Geschwisterchen Sprache am Morgen, ununterbrochen und nebeneinander so viele Stunden lang les, daß die Wörter wie die sattgrünen Blätter vom seit Tagen stürmenden Sturm auf eine Weise verwirbelt werden, daß Hören, Sehn vergehn.
Ich habe mich nie vor der Welt geekelt. Das Drauszen habe ich immer in meine Gedichte aufgenommen, besonders in den letzten Jahren sind meine Gedichte sehr welthaltig. Ich gehe auch viel raus. Ich habe das Gefühl, ich atme die ganze Welt ein. Und sie ist dann in mir drin. Mir ist sehr wichtig, mit großen Augen zu schauen, was die Welt mir bringt. Ansonsten bin ich furchtbar scheu und habe die Kommunikation mit den Menschen schon fast verloren. Ich fürchte mich, wenn ich mich nach außen stülpen musz, ja es ist wirklich ein Nach-außen-Stülpen.
Textverdichtende Mayröckermerkmale, idiosynkratisch, über sich hinausweisend, »das Zusammenspiel von Visuellem und Verbalem betonend« (Sirka Knuutila) exemplafragmentarisch : der freiluftig gesetzte Doppelpunkt, das sz, das usw., die Ziffer 1 (statt eines indirekten Artikels), das Wörter unmittelbar verbindende Gleichheitszeichen, die zwei oder viel mehr hintereinandergesetzten Punkte, die Unterstreichung, die Reihung ohne ›und‹ und Komma, die Initialen nach Zitaten, das Datum, die Widmung, die offen bleibende Klammer (als ich die Besprechung meines jüngsten Buches in 1 Tageszeitung gelesen hatte (»wo ist die 2.Klammer geblieben?«) nahm ich mir vor, mich dem Kritiker zu erklären »es ist als würden Sie die Tür halboffen lassen wenn Sie von 1 Zimmer ins andere gehen« und ich hatte den (zarten) Wunsch den Schreiber sogleich kennenzulernen – es war 1 außergewöhnlicher Wunsch da ich mich ganz zurückgezogen hatte mir vorgenommen hatte niemanden zu treffen keine neuen Kontakte zu knüpfen), die Kursivsetzung: Das Kursivgedruckte simuliere ich auf meiner Schreibmaschine, indem ich die Worte unterstreiche. Das heißt dann, dass es ganz wichtig ist und anders ausgesprochen werden muss. Wenn ich Großbuchstaben verwende, dann muß es laut gesagt, ja fast geschrieen werden – – – usw. So freu mich jedes Mal aufs neue, dem usw. zu begegnen, läßt es mich doch, wie bei der immer wieder so bewußt am End weggelaßnen Klammer, unendlich »unterwegs ins Offene« sein, kringeln, krümmen, mäandern, ringeln, schlängeln, winden, im Zickzack ihrer, meiner Großhirnrinde mich ver/laufen – – –
In den frühen sechziger Jahren hatte ich das Gefühl, ich kann so nicht mehr weiterschreiben wie in den Fünfzigern. Ich habe der Alltagssprache zunächst vertraut und mich ganz auf das Emotionale verlassen. Aber das war mir plötzlich zuwider. Ich hatte das Gefühl, ich will zu viel, und das geht alles nicht in die alten Muster hinein. Es war ein Protest in mir, ein Protest gegen meine eigene Sprache. Ich habe dann zum ersten Mal die Montagetechniken versucht, und das hat mir einen ungeheuren Sprung nach vorne ermöglicht. Im Rückblick muss ich sagen, das waren krude Montagen, ich habe buchstäblich alles montiert. Straßenaufschriften, Gespräche, Briefe, Bücher. Das war der Anfang der experimentellen Literatur. Mir konnte nichts experimentell genug sein. Ernst Jandl hat zur selben Zeit mit den Lautgedichten begonnen.
Als ich erwachte, auf dem Rücken liegend mit meinen zu kl.Fäu- / sten geballten Händen, da seh ich's wieder klar vor Augen: Friederike Mayröcker verwandelt ›sich‹, vollkommen, Wort für Wort, ins ›lyrische Ich‹, ich hab ausgetrunken den Schlaf / mich gesättigt an Träumen Jannis Ritsos am Morgen, meine Trösterin / Einsamkeit usw., 1 pas de deux erwache auf feuchtem Kopfkissen : das augenscheinlich blaufraugrauäugige · charismatische · eigentliche · echt erlebte · radikal synchrone · unbeschönigt ursprüngliche · traumwandlerische · wahnhaft wahrhaft buchgedruckte FM-ICH, Mittelpunkt meines Wesens, ist »allezeit« poetisch durchtränkt, allgegenwärtig, wo immer es ist, was immer es assoziiert, beschreibt, collagiert, chroniskizziert, denkt, exzerpiert, flaniert, flicht, geht, hangelt, ißt, jubiliert, korrespondiert, liebt, montiert, notiert, onomatopoesiert, paraphrasiert, quetscht, ruft, schläft, träumt, trinkt, übermalt, variiert, verwebt, weint, zeichnet, zitiert, zittert … Carmen Tartarottis »Das Schreiben und das Schweigen« fängt vieles davon ein … »Das Ich der Mittelpunkt der Welt«, vers:ich:er(t) Annette von Droste-Hülshoff … Die naturgemäß aufs Ganze gehnden, atmosphärisch dichten, beherzten, eigensinnwilligen, halsbrecherischen, tollkühnen, unmittelbar dem natürlichen Mayröckerschen Atmen, Denken, Fühlen, Sprechen, Wollen anverwandelten Gedichtgestalten, hatte Traum einer Reise ins Weltall, lassen mich teilhaben an der Erschaffung jener dritten Welt namens Freiheit.
einige Verse fehlen
wir lehnen am Fenster drauszen
der Regen, dieses ja und doch nicht, diese
Gegenstände und doch Phantome, habe mir Beckmann
geliehen 3 Bände Beckmann, Steine aus Korsika, Kreta,
Stein gebunden an Herz Herz schwer wie Stein, möchte
hören deine Stimme am Telefon weisz aber nicht was
ich sagen soll, Falte im Trinkglas, so 1 Tag
in der Tiefe, Pergola mit Klematis und Waldrebe,
Ginster. Ameisen in der Küche und über dem nackten
Fuß, Ameisen von der Wiese wo der brausende
Falter, so rauscht die Blüte (Thomas Kling) – steck
Meine nasse Wäsche in deine Tasche, sagt er, die
Ärztin beklopft seine feuchte Brust, durch
das Gehölz schaukelt hårlock, wenn man (ewig)
allein ist. also das Sausen, Lispeln der Baumschöpfe, jemand
am Nebentisch murmelt : ich schreibe und speise. Du
wirst mich umhüllen, aber er sagt : ich
möchte ins Krankenhaus, da gibt es
regelmäszig zu essen, und Wangenfleisch.
Der Regen trippelt
gegen die Scheiben, es rieseln die Turnschuhe
im Nachbarfenster, dies Element
von Marienzeug, so kann ich hügeln und . .
© Wladimir Fried
Allein schon die Ankündigung neuer FM-Bücher löst multiple Endorphinschübe aus, zuletzt erlebt beim mit Bodo Hell auf der Basis des gleichnamigen magischen Blatts verfertigten Hörstück Landschaft mit Verstoßung (ich höre, mit dem Buch im Schoße mit dem Buch in der Hand : Birkhahnkollern, Hummelbrummen, Kreuzotterzischen, Rauffußkauz- und Ringdrosselwarnruf, Ziegenglocken usw.) sowie dem wunderüberwundertollen Künstlerbuch Gleich möchte ich mich auf deinem Bild niederlassen, in denen die wie ich vom Werk Friederike Mayröckers vollkommen besessene Künstlerin Linde Waber (»Jedesmal, wenn ich mit Friederike Mayröcker zusammentreffe, ist mir, als würden Sonne und Mond gleichzeitig aufgehen«) FM-Sprach-Fetzchen, FM-Notizzettel, FM-Wortschnipsel, FM-Zeitungsausschnitte usw. in ›Tageszeichnungen‹ auf eine Weise verarbeitet, verwendet, verwertet, daß Wort, Farbe, Form in einer Bildgestalt, vielgestaltige Traumlandschaft, verschmelzen. Ein formidables Wörterbilderbuch. Augentaumel. Eine überquellende Bildwortkaskade. Jetzt sehe ich alles neu. Ein Gedicht von einem Buch. Ich sehe die Welt neu. Ein Buch wie gemalt. Als finge ich jetzt erst zu leben an. Ein Bildundwortkunstwerk, Glanz der Erde Blättchen Pappelherzen, in dessen Farben und Formen, Wörtern und Wellen ich mit himmelweit aufgerißnen Augen tauche, lesend, schauend und »zum Augenblicke sagend: / Verweile doch! Du bist so schön!« : Ich habe ein Buch gelesen, sage ich, aber ich habe nichts davon behalten davon, ich habe in einem Buch gelesen, aber ich habe nichts behalten können, weil ich ununterbrochen auf etwas achthaben wollte, nämlich lauschen wollte, auf ungewöhnliche, schöne, aufreizende Stellen innerhalb des Textes, auf Wendungen, einzelne Wörter, die Zündkraft besitzen, die mich entzünden, etwas in mir entzücken. Ja, welch ein Glück, staunend lesend, auf der Jagd nach jenen funkelnden Einzelteilen, … nach jenen leuchtenden Splittern, die einem den Atem rauben, zu erleben, wie Friederike Mayröcker nach 2000 ein weitres Mal, flammend, entflammt, durchstartet – und das nonstop nun seit bereits vierzehn Jahren: Nach dem brillanten Prosabuch brütt oder Die seufzenden Gärten von 1998 erscheinen allein in den Jahren 2001 bis 2014 (Sammelbände nicht mitgezählt) an die zwanzig Bücher, das Hirn sendet Funksprüche aus, ich schreibe sie pausenlos nieder, verfaßt in einem immerwährend sprudelnden Schreibrausch, Bild, Vorstellung mit allen Sinnen durchdringend : Augententakel, Ohrentrunkenheit, Griffel /// zu sitzen zu denken zu schlafen zu träumen / zu schreiben zu schweigen zu sehen den Freund / die Gestirne das Gras die Blume den Himmel …
Behältnisse : ach welch 1 Pomp (die flüssige Schokolade und wie die
Fingerspitzen noch lange riechen), ach welch 1 Jubel : 1 leerer Koffer
z.B., in welchen man Flieder z.B., Fliedersträusze verpackt usw., oder
die ganze Mongolei z.B., den Atlas, das welkende Mimosenbäumchen z.B.,
den Duft des Jasmin oder 1 Singvögelchen, Übersee, die Übungen die
Etüden, die Götter des Weinens, die Tränen welche er mir weggeküszt,
usw., die lieblichen Ohren der Schwester, die Morgenröte (Fuszreise
der Aurora), die Küsse die vielen Küsse des Freunds und wie er über
den gedeckten Tisch hinweg seine Arme streckte nach mir, die Veilchen
ach Magritte's Veilchengesicht einer Frau, das Strumpfband, die
Arien der Maria Callas, die wechselnden Jahreszeiten, die Flamme des
Herzens in einem Taumel der Liebe, das Rumoren des Vögelchens welches
in meine Kammer sich verflogen hatte, das Adieu, das lange Adieu
z.B. am Ende, das lange Adieu am Ende unseres Lebens nämlich “wie
vordem die Birke oder Weide den Blick hielt“, so Elke Erb
10.7.11
Bei Friederike Mayröcker, ich bin schreibbesessen, findet, ab dem frühen Morgenblauen, alles aus Einsamkeit komponiert, heute ½ 5 Uhr morgens, allgegenwärtiges, beständiges, chronisches, dauerndes, eingewurzeltes, immerwährendes, überlebensnotwendiges (hochbewußtes tiefenstrukturiertes) Nonstopschreiben statt, höchste Schreibkunst, eine Kochkunst dies Niederschreiben von Gedichten, Tag und Nacht – und, wahrscheinlich, weit darüber hinaus, ich bin verheiratet mit meiner Hermes Baby – ich knie mich so hinein wie der Glenn Gould in sein Klavier. Und, Glück des Süchtigen, der Blick in die Zukunft verheißt weiterhin Gutes: Der dritte Band der Trilogie, fleurs, wird, nach den berauschend leidenschaftlichen, études (2013) und dem ausufernden, ausrufenden cahier (2014), wohl im Herbst 2015 erscheinen. Die eigenwillig immer mehr noch in alle nur möglichen Richtungen mäandernden, von ›überall‹ herbeigezerrten, immer wieder den vollständigen Blattraum einfordernden Gedichte und Proëme der Trilogie werden auch dank tonangebender Motive wie Alter, Liebe, Trauer, Tod zum Zusammenklang gebracht – und das mit Texten, die dermaßen »zu dem Bade sich ergießen«, daß ich mich, nolens volens, trunken vor unbändiger Leselust, in die Wortfluten stürze, vom Mayröckerschen ›stream of poetry‹ mitreißen lasse, um am Ende dank des naturgemäß verkappt installierten Rettungsrings der durch den Einsatz verschiedenster amalgamierender Strukturelemente bewirkten inneren Geschlossenheit (nicht nur der einzelnen Texte, sondern des gesamten Werks) »wie von selbst / frohen Herzens zu genießen«. Wie schreibt Matthias Fallenstein: »Friederike Mayröckers Werk ist, in seiner wilden, monströsen, aber entschlossenen Maßlosigkeit, unübersehbar. Das gilt nicht nur, und nicht einmal in erster Linie, vom äußeren Umfang. Viele andere Schriftsteller haben umfangreiche Lebenswerke geschaffen, die sich gleichwohl gut überblicken lassen. Aber Mayröckers Schreiben scheint ohne Anfang und ohne Ende, es greift gleichsam hinter den eigenen Anfang zurück und über das unvermeidliche Ende hinaus.« Und Andrea Grill ergänzt: »Mayröcker lesen heißt über Gedankenspitzen spazieren, die zeitweilig dahinrasen wie Wellen auf einer endlosen Ideensee. Man kann sich tragen lassen (eventuell ein Surfbrett mitnehmen). Andererseits liegt da eine gastfreundliche Mine bereit, offen für jeden beherzten Wortklauber, überall glänzt Wertvolles. Was wir offeriert bekommen, ist nur das oberste Stück, doch ohne den verborgenen Unterbau wäre der sichtbare Teil unmöglich.«
aber die Liebe geöffnet im Wäldchen, Lindenbäume nämlich
Alleen welche duftend, Felder von Apostrophen wohin ver-
schluckt, Flächen von wildem Sprach Fleisch ich meine
Flächen von wilden Sprach Elementen – indes Schauer von jg.
Jasminbüschen herniederströmend : aus süszen Jasminwäldern
indes das Verbum sich zu verbergen sucht usw., ich meine nicht
an seinem orthodoxen Platz erscheint sondern atomatisiert ir-
gendwo mitten im Satzgebilde : Lektion empfangen durch Elke Erb
usw., und sei es im Sinkflug gewesen, diese verwelkten (ver-
kommenen) Pfingstrosen im Glas welche flankenweise = flockenweise
während die Lindenblüten herniederschwärmen und in den kl.Regen-
pfützen ich meine als weisze Häutchen erscheinen nämlich Übungen
der Blütenblättchen des Jasminbusches = »études« indes Famulus
Elke Erb sehr schmal Elite Universität schwarz gekleidet mir
gegenüber mit sparsamer Locke nicht wahr, in zärtlicher Männ-
lichkeit . . . . . . . . . . . . . . . hatte Traum einer Reise ins Weltall wo-
bei in frischen Farben 1 Rayon roter Früchte, das wirkliche
Maiglöckchen »die Monogramme des Efeus« . . . . . . . . . . . . . . . .
Reseda weinte ich es umgibt mich 1 Veilchen (murmelnd) Heckenrosen
Etüden des Frühlings nämlich duftende Rüschen Wange an Wange
Herz an Herz des Regens, duftende Hallen der Wälder, in ihren
Armen »Bataille« schutzbefohlen mit Heckenrosen Kamillen und
Nelken also 1 Bett aus Rosen und Gladiolen (Genet), Übung eines
Vögelchens Zirpen am frühen Abend (»étude«), Übung am Abend
vor dem Gewitter, in dunklem Geäst, ach weinte mich in den Schlaf,
dann träumte mir Turner »overdressed«
3.6.11
© Wladimir Fried
Gehören die von Friederike Mayröcker geschriebnen Verse und Zeilen, die, beispielsweis, Bilder von Salvador Dalí, Frida Kahlo, Paul Klee, Gustav Klimt, Édouard Manet, Jakob Marrell, Henri Matisse, Joan Miró, Edvard Munch, Pablo Picasso, Man Ray, William Turner aufscheinen, Töne von Johann Sebastian Bach, John Dowland, I Saw My Lady Weepe, Joseph Haydn, Gustav Mahler, Eric Satie, Robert Schumann usw. anklingen lassen, zu der besonders ausdrucksstarken, besonders lebendigen, besonders originellen, besonders seelenvollen, gehören die poesiesprühenden Bücher zu den besonders eindringlichen, besonders intensiv erlebten, besonders nachhaltigen in der Bibliothek der Weltliteratur? Ich mutmaß: ja, krieg Verstärkung von Michael Lentz: »Die deutschsprachige Poesie ist derzeit die international bedeutsamste. Allein schon Friederike Mayröcker zu nennen genügt.« Immerzu fluten Mayröckers Wörter mein Hirn, Wörter eines pazifrischpoetischen Ozeans, der, von Wortwell zu Wortwell, von Verswog zu Verswog, himmelweit, wasserklar, wortströmend ins unendlich Offne schwillt: was für 1 See und Tropfen von Herde / und Haus und Hund, zottelig, nach so vielen Jahren und seerosenwärts / Krumme Lanke Berlin wo ich hauste, oder winters die schwebenden / Schwestern die Paare über dem zersprungenen Eis, die lichtblauen / Augen des toten Hans Ulrich Minke Rias Berlin nicht wahr, oder winters / die kristallenen Blicke über dem Eis, Schnee in Paketen verschnürt / Packeis in Gassen, rudere mit weit ausgebreiteten Armen über die gefrorene / Fahrbahn oder in die Länge gezogen die Arme weil daran so viel Hängendes : / tiefe Netze voll Fisch und Blase und Brot und Fell ach Winter Salon : / de Chirico Matisse und Picasso : die gelben Haare der Frauen. Wie / die Alpe rauscht diese Ohrenbegleitung bei Tag und Nacht, und üppiges / Wangenfleisch nämlich geblähte Backe der tausend Winde, und wie es / hereinschneit in meine Kammer, dann, dasz die blauen Gebüsche des Morgens.
[...] ehe wir weggehen, frage ich sie, welche Kleidungsstücke, ob ich den schwarzen Schal ob ich die Pullmankappe den warmen Mantel oder lieber den Umhang das Paletot die Lederjacke ob ich die Schneeschuhe die Flügelsandalen die Schnürstiefel oder lieber die Pulswärmer das T-shirt den Cardigan ein reines Herz dann ist wieder das Notieren (»das Kritzeln«) das Wichtigste auf der Welt = nach 2-tägiger Schreibabstinenz, ich meine es gibt gar nichts anderes und ich befinde mich wieder im Mittelpunkt meines Wesens
Ich seh Friederike Mayröcker in der von Alltagsdingen, die sich nun wie Efeu ausgebreitet haben, Büchern, Zeitungen, betippten, vollgekritzelten Zetteln usw. überwucherten Wohnung, mein Zimmer-Chaos spiegelt vielleicht das Chaos meines langen Lenes wider : es hat darin nie Ordnung gegeben, nur Wahnwitz Angstzustände Intuition – über Papierberge steigend, Blätter beiseite schiebend, Versandtaschen aufeinanderstapelnd. Visagen des Waldbodens, Veilchentür am Saume des Gartens, wir gingen durch 1 waldige Gasse, ich krieche ins Ambulanzhäuschen, ich hatte dann die Wäsche vergessen in der Waschmaschine ich hatte dann das Geschirr vergessen in der Spülmaschine aber der rechte Handballen klebte von Honig während ich 1 Zusammenbruch : 1 Zornesausbruch hatte, auch wegen des kalten Wetters (31.5.09) wünschte mir warme milchige tage an welchen die haare sanft wehen, und der Vogelklang. Hinter den in nunmehr zahllosen Büchern aufnotierten Wörtern scheint die Autorin so durch und durch als Mensch auf, daß ich zwar vermut, daß sie sich über Lob und Preis freuen kann, aber vielleicht eher nicht in den in den von ihr in ihrem Werk so nachhaltig verewigten Himmel gehoben werden will. Obwohl – was wär dagegen einzuwenden? Ich heb Friederike Mayröcker also hier und jetzt einfach, zweifach, dreifach in den Himmel: eine Wienerin im Himmel. Halleluja.
unter Bäumen Tränenmorgen
unter Bäumen saszen wir und Waldes Brausen unter
Bäumen sprachen zu einander schwiegen blickten
in den Wald der schon die Blätter warf und fegte
Lindenblütenblätter auf den Wegen unter Bäumen saszen
wir und schwiegen unter Bäumen ich allein und
schweigend ohne dich unter Bäumen du allein und
schweigend ohne mich
für Ernst Jandl
ich bin 1 Bettlerin des Wortes, sage ich zu Ely, ich sitze im Arbeitswinkel, die Quellchen sind : Jacques Derrida, Jean Genet, Roland Barthes, Giogio Agamben, Milorad Pavic – vielleicht mit dem Foto 1 kl.Quelle im Hintergrund (19.11.09) Thomas Kling kriegt sich nicht ein vor Begeistrung, schwärmt vom »«sprühenden Funkenregen · »Sprach-Hochgeschwindigkeitskamera« · »Dichtung der schnellen Schnitte und Gegenschnitte« · »Mayröcker-Kino« und betont: »Die Mayröcker gehört zu den Unikatkünstlern, und nicht zuletzt dieses Verdienst des unermüdlichen Fortsetzens von Versuchsanordnungen ist es, das ihr seit langem den Respekt von Autoren sichert, die gerade halb so alt sind wie sie oder noch jünger. Sie hat viele beeinflußt, das stellt sich immer deutlicher heraus.« Zu jenen zählen, jeder auf seine ureigne Weis, Manfred Ach, Marcel Beyer, Crauss, Ulrike Draesner, Susanne Eules, Ingrid Fichtner, Petra Ganglbauer, Michael Hammerschmid, Semier Insayif, Gerhard Jaschke (der FM im November 2014 mit dem Faltblatt für Literatur und Kunst »FIREBORD 2« beschenkt), Odile Kennel, Swantje Lichtenstein, Elsbeth Maag, Alexander Nitzberg, José F. A. Oliver, Marion Poschmann, Sophie Reyer, Verena Stauffer, Yoko Tawada, Anja Utler, Mikael Vogel, Herbert Wimmer, Tabea Xenia Magyar, Barbara Yurtdas, Jörg Zemmler und viele, viele andre bekannte und weniger bekannte Autoren mehr – allein in »Matrix 28. Atmendes Alphabet für Friederike Mayröcker« (2012) sowie der zu Friederike Mayröckers rundem Geburtstag am 20. Dezember 2014 von Erika Kronabitter herausgegebenen Anthologie »hab den der die das · Der Königin der Poesie · Friederike Mayröcker zum 90. Geburtstag« zähle ich rund 80 bzw. 170 Beiträger (bei einer Schnittmenge von über 200); auch ich hab nicht ein Gedicht bloß geschrieben, in dem Mayröckermaterial aufzuspüren ist, im vorliegenden Fall als Akrostichon / Cento:
da waren Bienen da waren Libellen da waren die Schatten die
über das Tischtuch krochen
Friederike Mayröcker
ohne sie ist welt tot ist ein unfug
figuren aus schnee (und der neumond)
rose im schnee
ich spreche nicht mehr in der
eisigen nachtluft im schnee
da ist kein wort das ich sagen kann · bin schon halb in der
erde wie sumpfdotterblume
rosendorn in deinem finger sprießt und
ihre seufzer im
krankenzimmer um das atmen zu
erleichtern
mimosen um fünf uhr früh und ich rüste für den
abend dunkelrosen der nacht
ypsilon weglassen weglassen können
robinienbäume in den armen
öl auf eichenholz mit blumen am strand von
cattolica im korbsessel
kauernd auf meinem scheitel schädel die
erde sumpfig und
regen fällt usw.
© Wladimir Fried Ich seh Friederike Mayröcker, 1 unbändiger Klassiker, und, ach, wie gut, daß ich das weiß: ein endloser Augenblick : das ist die Beschreibung meines Lebens, ein endloser Augenblick, weiter in der von körbeweise Material, Blättern, Büchern, Briefen, Heften, Zetteln überfluteten vertrauten Wiener Wohnung während des Gesangs eines angeschneiten / Baums vor dem Fenster an der Schreibmaspindel sitzen, sinnieren – bildhaft sinnenvoll tönendes Material aus tiefgründigsten Gehirnschluchtfalten erlauschend, aufgehend in feinsten Wortverschmelzungen (»Ihre magischen Zeichenketten sind Erleuchtungen«, schreibt Peter Weibel in hab den der die das), und dann ruft Nina Retti an und sagt, und Pierre Michon schreibt über die Helligkeit des Schreibens und das macht mich ganz wach und dann äugelt mein Ich aus dem Äther und das sind die schönsten Herz Fragmentationen und Herz Seligkeiten – und schreiben, sinnieren und schweigen und lauschen und schweigen, sinnieren, schreiben, das Hirn sendet Funksprüche aus, ich schreibe sie pausenlos nieder, mit jedem ersonnenen, gewonnenen Wort den endlos gesponnenen goldschmeidenen Faden aufnehmend, jedes Gedicht ein Gesicht mit phantasievoll phantastischen AugenBlicken, ich lebe in Bildern, ich sehe alles in Bildern, meine ganze Vergangenheit, Erinnerungen sind Bilder, ich mache die Bilder zu Sprache, indem ich ganz hineinsteige in das Bild, ich steige solange hinein, bis es Sprache wird, Augenblicken, die Anmut, Begeistrung, Charisma, Empfindsamkeit, Farbe, Freude, Gefühl, Halluzination, Hoffnung, Klugheit, Leidenschaft, Liebe, Musik, Originalität, Sehnsucht, Trauer, Traum, Verve, Wärme, Wehmut, Zärtlichkeit usw. vieldeutig, vielperspektivisch, vielschichtig abbilden, abstrahlen, ach! die Waage zu finden zwischen den Lustgärten der Sprache und den Schluchten der Sprache oder dem Schluchzen der Sprache auch Ginsterwald. man musz die Sprache empfinden, hier und da ein Gewicht darauflegen oder wegnehmen wie Apothekerwaage, so musz es stimmen, so musz es tönen, ich seh sie liegen, schlafen, ich träume in der Nacht immer in Sätzen und in Wörtern, ich wache dann mitten in der Nacht auf und mache Notizen, weil ich mich am Morgen an nichts mehr erinnern kann, träumen, im Schreibzimmer erklingt Musik, habe Bach aufgelegt, und ihre blaue Seele »spannte / weit ihre Flügel aus, / flog durch die stillen Lande, / als flöge sie nach Haus«, usw. –
würde alles tuin wenn
du nur lebtest!
Als erstes würden wir zur Albertina,
ins Museumscafé dann zum Feldhasen, 1 Blick
in dein Auge würde mir sagen ob du müde
bist oder ob es noch weitergeht. Weinen
würden wir trotzdem oft, weil
der Abschied noch vor uns läge –
Von wegen ›Abschied‹ – weiterlesend träum ich wach, ich gehe mit meinen Lieblingsbüchern auf und ab, Augen fallen zu, hohe Zeit, in den Büchern, um die es hier geht, ein weitres Mal mit kribbelnden Fingerbeeren zu blättern, hier und dort noch ein Wort oder zwei, noch einen Vers oder zwei, noch eine Zeile oder zwei – Flächen von wildem Sprach Fleisch ich meine Flächen von wilden Sprach Elementen – wie durch geschloßne Lider anzuschaun, zu streicheln, auf- und mitzunehmen, noch einmal und noch einmal aufzugehn, vom euphonisch atmenden A zum rasant rhythmisierenden aspirierten Z, im Wirbel der wild wehenden Wörter in den mehr als 20 nach 2000 publizierten Büchern der Friederike Mayröcker – man fängt mit dem Chaos an und schreitet zum Kosmos fort :
Requiem für Ernst Jandl · 2001 : Endlich ertrunken ersoffen die Sonne / im gloriosen / Meer des herabfallenden Himmels in den / Strömen der geöffneten / Wolken .. hinaus sollte ich ohne Kleid ohne Schuh / Mich durchtränken lassen von diesem / Weihwasser / Welches klopfend und zärtlich tastend anstatt / Geliebtem: Gestorbenem mir erscheint, aus- / Gesetzt bin ich verschüttet, morsches Gebälk / Mein Leib – / Zipf und Zipfel von Abseits: / Du sichtbar nicht mehr nicht wieder
Magische Blätter I – V · 2001 : Diese kreideweißen bedrängten Landschaften, sage ich, diese glänzenden Klatschmohnschöpfe, diese freie Architektur!, diese Zebramuster aus Kreisen, Tränen und Blitzen, diese Dornen und wilden Sträucher, diese Wege von Pfirsichbäumen und Pflaumenbäumen unter eisvogelgrünen Schatten, diese dunkelgrünen Tatzen des in die Fluren tappenden / langenden Waldes
Mein Arbeitstirol · Gedichte 1996 – 2001 · 2003 : die Küsse auf dem Campingtisch // im Buchgeschäft sie drückt sich leicht an ihn / ihr weiches Drehen Wenden / Nesteln rückenwärts an seine / Brust als suche sie die Nähe eines Trosts während / er zärtlich ihren Scheitel küßt, / indes der Buchhändler im Clothanzug / mit kalten Händen weist auf Platten Tische und Tableaux / die hohen Stapel cellophanverpackter Bücher / auf Campingtischen und Regalen : beklagt den schlechten / Absatz und die tristen Zeiten //indes ich hocke in der Phantasie / und küsse seine linke Wange
Die kommunizierenden Gefäße · 2003 : Habe Sehnsucht nach meinen noch nicht geschriebenen Büchern nach diesen noch nicht geschriebenen Zeilen, Seiten, Saiten und Strähnen, wild und wolfig
Gesammelte Gedichte · 1939 – 2003 · 2004 : wie (= als) Vivaldi ruderte / “radelte“ / auf / dem Teich auf dem krummen gleiszenden Glanzpapier / nämlich auf Algen-, Zypressen Grund .. aus dem Humus / das Zünglein der Zöglinge (Pflanzenstock) : oder / ist das alles zu hermetisch? - sollte ich lieber / schreiben : in seinem Bettuch das Brandloch von der vergessenen / Zigarette? ach ich weisz es gibt nichts zu greifen begreifen
Und ich schüttelte einen Liebling · 2005 : und es schnürt mir den Hals wenn ich das Foto betrachte und ich wische mir das Blut aus den Haaren und ich sinke nieder und ich vertippe mich pausenlos wie ich mich pausenlos verspreche, weil ich die Gedanken ich meine die Gedanken sind mir durcheinandergeraten, und ich kann sie nicht mehr in Ordnung bringen, weil ich kreise um dich, sage ich zu EJ, ich kreise unaufhörlich um dich und ich weine um dich schon so viele Jahre eine so lange Zeit, also ich entwische immer wieder in einen Stolperweg also ich stolpere pausenlos, auch meine Finger, so dass ich mich zurechtweisen muss, zurückführen muss auf den intensiven Pfad meiner Lektüre, nicht wahr, mich selbst an der Hand nehmen und zurückführen, ohne auch nur das kleinste Stückchen Buchstäblichkeit, so Jacques Derrida
Liebesgedichte · 2006 : unter Bäumen Tränenmorgen // für Ernst Jandl // unter Bäumen saszen wir und Waldes Brausen unter / Bäumen sprachen zu einander schwiegen blickten / in den Wald der schon die Blätter warf und fegte / Lindenblütenblätter auf den wegen unter Bäumen saszen / wir und schwiegen unter Bäumen ich allein und / schweigend ohne dich unter Bäumen du allein und / schweigend ohne mich / 13.8.03
Magische Blätter VI · 2007 : erster Gedanke am Morgen : werde ich schreiben können werde ich heute schreiben können werde ich in die Feuerlilien Verfassung geraten, schreiben zu können : Anmerkungsschreiben Anmerkungsstil. Das tagelange Schweigen das Herz flügelt und fliegt wie Karussell, das Nippen an süßer Lektüre, das Knien vor der Maschine, etwas irgend ein Erinnerungsbild treibt mich vom Lager und ich knattere zur Maschine beginne zu flennen und flennen und das ist erst der Anfang
Letzte Dinge · 2008 : Der Tod ist mein Feind. Ich kann die Tatsache des Todes überhaupt nicht akzeptieren. Wenn ich denke, was für eine Lebenszeit andere Lebewesen haben! Riesenschildkröten erreichen ein hohes Alter, manche Bäume werden über 500 Jahre alt, und gerade der Mensch, die sogenannte Krönung der Schöpfung, muß mir 80 oder 90 Jahren abtreten?
Paloma · 2008 : Gehe noch nicht am Stab, habe früher in einem Meer aus Sprache gelebt, habe früher kristalline Texte geschrieben, sitzt man einem schönen jungen Menschen gegenüber, kann es geschehen, dasz man sich mit ihm mit seiner Jugend so sehr identifiziert, dasz man sich selber jung und schön fühlt
Scardanelli · 2009 : Verzaubert ist mir die Welt / und fiebrig in meinem Schädel Nachtviolen Fuchsien Weiden Pinien / und Reseden lauschend im Garten (ich) Krokus und Haferkorn auch, / kirschenessend in tiefer Nacht, auch, ich auch den weich' Kräutern, / Hölderlin
Das zärtliche Sakrament der Sehnsucht · 2009 : Fasanenschreie und dunkle Rosen / oder mehrere Schaufeln Erde, darunter / im Aschengrab was i mal 1 Mensch war // in einem rohen Karren mehrere Schaufeln Erde in einem Kübel / 1 Loch wie 1 kl. ausgehobenes Grab darin der Aschenkrug massenhaft Erde über die Urne geschüttet dann / flachgestampft mit den Füszen
dieses Jäckchen (nämlich) des Vogel Greif · Gedichte 2004 – 2009 · 2009 : diese / welke Rose rote Rose im Glas über den Rand des Glases sich / neigend beugend im Trinkglas am Fenster alternde Rose im Glas / immer noch duftend, das schwalbende / Gewölk wie ich weine, deine Lagunen Herzen du hattest / zahlreiche Herzen und einmal schriebst du an den unteren / Rand eines Gedichtes das du mir gewidmet hattest, dein / ist mein ganzes Herz
ich bin in der Anstalt · Fusznoten zu einem ungeschriebenen Werk · 2010 : Ich verlerne den Code der mich durch dieses Buch begleitet hat, sage ich zu Ely, also musz ich es enden, wie ich die Wälder auf- und niedergerast, wie ich die Käferchen, den Weg zur Kapelle auf dem Berg, und mit dem Messerchen den Mond abgeschuppt dasz da nur noch 1 Schatten, und überhaupt alles abgeschuppt: die Sonne die Glut der Stürme die luzide ratio, usw. die Lyra im Sesselrücken, der Schatten des Vogels flog auf mich zu, sage ich zu IHM, die Stunden die Wochen die Jahre seien so rasch vergangen als säsze man im Zug und die Landschaft flöge vorbei und das Ende der Reise sei nahe
vom Umhalsen der Sperlingswand, 1 Schumannwahnsinn · 2011 : das Lorbeerbäumchen spricht zu mir sehr leise man hört es kaum es drückt sich grün in die Ecke des Zimmers oh sage ich wie schön du bist sein Blattwerk reglos 1 wenig wie Säge wie Schleier wie Sprache wie grüner Schnee ich halte ihm grüne Lettern vor seinen Leib dasz es erzittert weiszt du noch sage ich zu ihm damals in den Holundernächten den Liliennächten als der Mond in eine Wiege damals als es ächzte im Gezweig der beiden Birnbäume vor dem Tor
Von den Umarmungen · 2012 : wir tanzen auf kleinstem / Parkett nach Charles Aznavours La Bohème, ich meine die / Pantomime des Lebens weil ich spreche nicht mehr da ist kein / Wort das ich sagen kann, die Weiden des Stadtparks haben sich / gewölbt über meine Tränen und ich umarme die Birke am zu- / gefrorenen Teich des Stadtparks
ich sitze nur GRAUSAM da · 2012 : mein Schreiben ist mein Hochamt, sage ich, es wird mich auslöschen, aber ich kann davon nicht lassen … unser Bett ist unser Büro, sage ich, hier wird geschlafen, geschrieben
études · 2013 : das Zucken der Lider Liebster der Vögelchen offene / Schnäbel Schädel morgen wie's mundet, schnäbelnd um einen / blühenden Ast
Gleich möchte ich mich auf deinem Bild niederlassen · 2014 : HASE! HASE! suche Praktikerin nicht Wolkenfrau, weißt du, 1 / Hauch v. Rose, Flügel v.Sommer's Ende, flamme ich flehe ich dich / Allee v.Apfelbäumchen sausen mir. Aufschlägt Nachsommer's Auge / Am horizont, eine Kaskade v.Tränen, ich meine das Flügelpaar eines / Rapper's, die welken Blütenblätter der Bauernrosen im Glas, “Re- / Signation füllet mein Leben aus“ so Beethoven an seinen Bruder, / “nit zart' Gefieder, o denke mein, verschleiert diese Stunden, / nicht genug krieg' ich von dir, o fürchtegott der Wachtelschlag, / habe eben den Hirt auf den Felsen fertig komponiert, 2 ideale /Sätze übereinander am Morgen, weißt du, in meinem Stirnhimmel ..“
Landschaft mit Verstoßung · 2014 · Nein lassen Sie gut sein ich verliere jetzt den Verstand, meine Lebensgebündeltheit: ich meine Lebensgebundenheit hebt sich auf, wenn ich in meinen Lieblingsbüchern lese, so daß ich dazwischen leicht (unbemerkt) sterben kann, die Hölle ist nur ein Abzeichen.
cahier · 2014 : Wir hören Eric Satie am Morgen am Abend : 3 Stücke in der Form einer Birne, biszchen drüberflammen, sage ich, so birnengelb in Cornwall, 1 Bristol-Ding in Gartenküche (Garküche) Schmerz in Kniekehle, schwärmender Phlox, freilich fuhren oft feierlich mit dem Automobil überland während der zarte Wind die Ästchen in unser Haar, usw. Ach dieses Zausen Zerzaustsein kl. Rute wippend ins Auge. Die glücklich Brust Gottes / als du kamst
*
Und wenn ich, wie so oft in Hochsommerzeiten nach 2000, monatelang nicht schreiben kann, schlagen mir, beispielsweise zu den Tönen der neun Trompeten aus Leoš Janáceks Sinfonietta, Mayröckers Wörter in den Kopf: Wenn ich ein, zwei Tage nicht schreiben kann, bin ich verzweifelt und fürchte, es ist aus. Dann, durch irgendetwas, einen Brief, häufig durch Lektüre, komme ich wieder hinein. Jacques Derrida hat mich sehr angeregt mit seinen literarischen Texten. Beckett hat mich sehr geprägt. Roland Barthes hat es mir angetan. Claude Simon, Marguerite Duras und Georges Bataille, besonders sein Roman Das Blau des Himmels. Das schreibe ich mir alles heraus. Wo ich nichts exzerpieren kann, lese ich auch nichts. Wie eine Lumpensammlerin notiere ich Sätze und Wörter, die ich oft auch völlig überarbeite.
* * *
PS Nach Veröffentlichung des Essays Bettlerin des Wortes im Poetenladen Ende September 2010 erhalt ich, unverhofft, erstmals eine E-Mail von Christel Fallenstein:
Vor einigen Tagen machte mich Crauss, der aus Lettland schreibt, auf Ihren Essay aufmerksam. Todmüde las ich in der Nacht noch alle acht Seiten. Zu FM sagte ich am nächsten Abend am Telefon, als ich den Text, schon etwas wacher, erneut gelesen hatte: TB schreibt so begeistert über FM, wie ich es täte, wenn ich schreiben würde. Dann las ich ihr einige Stellen vor, sie zwischendurch darauf aufmerksam machend, daß Breuers und FMs Sätze sich ohne Punkt und Komma und Anführungszeichen einträchtig vermischen. FM nannte das: »Vermählung«. Gestern nun, als die Tochter der Prager Dichterin Bohumila Grögerova, die Übersetzerin Michaela Jacobsenova, hier bei uns war, um FM zu treffen (in Wien, in der Zentagasse 1, wo auch Crauss FM schon mehrmals traf), übergab ich der Dichterin die ausgedruckten acht Seiten. Das war um 18 Uhr. FM ging bald wieder, aber um 20 Uhr 30 hatte sie den ganzen Essay gelesen – und war sehr begeistert. Sie wolle Ihnen wenigstens ein paar Zeilen schreiben. Aber, ich habe keine Postadresse, um die ich Sie sehr bitten würde, damit ich sie weiterreiche.
Der Brief mit einer in Grün skizzierten Frau im langen Kleid, die die Hände sternenhimmelhochjauchzend hochreißt und mir zuflüstert: Danke, lieber Theo Breuer, ich freue mich sehr, kommt bald. Ein halbes Jahr danach erscheint der Essay, in »Matrix 24«, erstmals in gedruckter Form, und wiederum einige Monate später fragt Traian Pop, ob ich nicht eine Mayröcker-Matrix edieren wolle. Ich sage umgehend zu, und wir vereinbaren 60 bis 70 Seiten mit etwa einem Dutzend Beiträger. Conditio sine qua non meinerseits sei allerdings, daß Friederike Mayröcker sich ebenfalls mit Gedichten zu beteiligen wünsche. Deren Zusage kommt schnell. Und so beginnt eine von Tag zu Tag rasanter werdende Zusammenarbeit mit Christel Fallenstein, die, nach mehreren hundert E-Mails und etlichen Telefonaten, »ereignisreiche, schöne und aufregende Tage«, dazu führt, daß sich in »Matrix 28. Atmendes Alphabet für Friederike Mayröcker« auf 245 Seiten Bilder und Texte von 77 Menschen um Mayröckers Gedichte scharen. Während ich »Überschwemmt, die Lust am Taumel · Die atmenden Alphabete der Friederike Mayröcker« schreib und vor lauter Wörtern den Hasen nicht mehr im Pfeffer liegen seh, zieh ich zwischendurch Ernst Jandls 2001 bei Luchterhand erschienene »Letzte Gedichte« aus dem Regal, steig, zum wiederholten Mal, in die so tief greifenden Verse, komm zur Seite 17 und les:
der hase hält den hut
vor das brett.
die demut des gedichtes
macht es wett.
du sollst nicht lügen
aber du sollst auch nicht
glauben daß du die wahrheit sagst.
du sollst dich verkleinern
bis du für keinen mehr
sichtbar bist.
Moment mal, denk ich, »greif erneut nach dem Buch, zu dem ich mich, vom ersten Moment an, so heftig hingezogen fühl«, nämlich dieses Jäckchen (nämlich) des Vogel Greif, und, jajaja, da ist es schon:
Tiergarten Berlin, ca. '71. Für Ernst Jandl lasz ihn er sagte lasz ihn, das liebe schwarze Ding am Wiesen- rand, es hoppelte nein hinkte nah zu mir, lasz ihn er sagte lasz ihn er könnte krank sein und wird bald sterben. Rühr ihn nicht an ich weinte sehr ich weinte schon es dauerte mich das hilf- lose Geschöpf, er sagte lasz ihn, ich hockte mich zu ihm. Er sagte lasz ihn, ich wollte ihn berühren, er sagte lasz ihn, er könnte krank sein, wird bald sterben. So schützte er mich jeder- zeit er liebte mich, das Tier es könnte krank sein in meinen Armen sterben, so schützte er mich jederzeit – ich tat das gleiche nicht für ihn jetzt weine ich es ist zu spät. Jetzt kann er nicht mehr schützend seine Hand, ich habe ihn geliebt jedoch nicht aussschlieszlich genug, jetzt weine ich es ist zu spät. Der dicke schwarze Hase mit verkohltem Mund 28.8.08
Es ist spät, die Kerz flackert wild, ich seh auf das Bild und schwitz und sitz bloß stillschweigend da, »wo nehm' ich, wenn / Es Winter ist, die Blumen« –
* * *
Friederike Mayröcker · Werk nach 2000
Friederike Mayröcker, cahier, 192 Seiten, Suhrkamp Verlag, Berlin 2014.
Friederike Mayröcker · Linde Waber, Gleich möchte ich mich auf deinem Bild niederlassen · Tageszeichnungen und Texte 1983 bis 2014, herausgegeben von Christel und Matthias Fallenstein, Nachwort von Matthis Fallenstein, 160 Seiten, Mehrfarbdruck, von Autorin und Künstlerin signiertes Künstlerbuch in limitierter Auflage von 199 Exemplaren, Mandelbaum Verlag, Wien 2014. Siehe Beitrag: Da mein Herz immer höher schlägt
Bodo Hell · Friederike Mayröcker, Landschaft mit Verstoßung · Ein dreifaltiges Hörstück · mit den Stimmen von Friederike Mayröcker und Bodo Hell sowie psychoakustischen Naturtönen von Martin Leitner, CD, 32 Seiten, Mandelbaum Verlag, Wien 2014. Siehe Beitrag: Da mein Herz immer höher schlägt
Friederike Mayröcker, études, 193 Seiten, Suhrkamp Verlag, Berlin 2013. Siehe Beitrag: »Fetzchen« · It's Mayröcker Time
Friederike Mayröcker, Von den Umarmungen, 48 Seiten, Insel Verlag, Berlin 2012.
Friederike Mayröcker, ich sitze nur GRAUSAM da, 141 Seiten, Suhrkamp Verlag, Berlin 2012.
Friederike Mayröcker, vom Umhalsen der Sperlingswand, oder 1 Schumannwahnsinn, 41 Seiten, Suhrkamp Verlag, Berlin 2011.
Friederike Mayröcker, ich bin in der Anstalt. Fusznoten zu einem nichtgeschriebenen Werk, 190 Seiten, Suhrkamp Verlag, Berlin 2010.
Friederike Mayröcker, dieses Jäckchen (nämlich) des Vogel Greif, 356 Seiten, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2009.
Friederike Mayröcker · Vroni Schwegler, Das zärtliche Sakrament der Sehnsucht · Gedichte und Radierungen, 24 Seiten, handgesetztes und -gedrucktes Künstlerbuch in einer Auflage von 250 Exemplaren, Babel Verlag, Denklingen 2009.
Friederike Mayröcker, Scardanelli, 57 Seiten, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2009.
Friederike Mayröcker, Paloma, 198 Seiten, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2008.
Julia Kospach, Letzte Dinge · Ilse Aichinger und Friederike Mayröcker · Zwei Gespräche über den Tod, mit Assemblagen von Daniel Spoerri, 56 Seiten, Blockbuch, Mandelbaum Verlag, Wien 2008.
Friederike Mayröcker, Magische Blätter VI, 302 Seiten, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2007.
Friederike Mayröcker, Liebesgedichte, ausgewählt und mit einem Nachwort versehen von Ulla Berkéwicz, 141 Seiten, Insel Verlag, Frankfurt am Main und Leipzig 2006.
Friederike Mayröcker, Und ich schüttelte einen Liebling, Prosa, 238 Seiten, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2005.
Friederike Mayröcker, Gesammelte Gedichte · 1939 – 2003, herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Marcel Beyer, 856 Seiten, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2004.
Friederike Mayröcker, Mein Arbeitstirol · Gedichte 1996 – 2001, 215 Seiten, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2003.
Friederike Mayröcker, Die kommunizierenden Gefäße, 90 Seiten, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2003.
Friederike Mayröcker, Magische Blätter I – V, 543 Seiten, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2001.
Friederike Mayröcker, Requiem für Ernst Jandl, 47 Seiten, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2001.
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Theo Breuer
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