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Theo Breuer
Marginalie zum Gedicht in drei SchrittenZeitgenössische Lyrik im deutschen Sprachraum 2010 Essay
Erster Schritt Admission Free and Daily Open to the Public Wie ein Gedicht auch entstehen kann I hear the spirits often in the garden Freitag, 4. Juni 2010. Wenn ich nicht draußen im Garten bin, lese ich Richard Powers' Roman The Time of Our Singing: Augustine said he knew what time was so long as he didn't think about it. But the minute he thought about it, he did not know. Tagsüber verbringe ich nach diesem langen, strengen, schneereichen Winter, dessen Kälte hier auf der Höhe von 554 Metern noch bis Ende Mai sehr spürbar bleibt, wieder die meiste Zeit bei den Bäumen, Blumen und Vögeln, er/lebe hautnah die Vergänglichkeit. Was schon wieder alles verblüht ist, wo doch, meine ich, erst gestern der letzte Schnee taute. Und jetzt soll der Sommer schon bereitstehen, ungeduldig mit den Hufen scharrend? Na, im Augenblick herrscht Nebel, und ich kann (mir) keinen Reim auf Leben, Wetter und Sein machen: Aber es gibt noch Leben zu leben / jenseits der Wörter. (Karl Otto Conrady) Ich säge an einem Birkenstumpf herum, auf den ich ein Körbchen mit Semper Vivum im Kieselbett stellen werde, und die Gedanken mäandern durch die Strömung der Zeit/en. ä kasdonienkugel aufmachn Am Abend des 13. Mai 2007 fegt ein Tornado über Sistig/Eifel und zieht auch unseren Garten in der Neustraße arg in Mitleidenschaft. Einen Monat später, im Juni 2007, erlebe ich meinen inneren Tornado, gebe den Brotberuf und damit einhergehend das Pendlerdasein auf und beginne das neue Leben zunächst damit, den Garten aufzuräumen (lebe von Juni bis September bei Wind und Wetter fast ausschließlich draußen) und im Laufe der nächsten drei Jahre bis Juni 2010 neu zu gestalten. Von den einst 75 bis zu 14 Meter hohen Bäumen stehen heute noch gut 30: Regen und Sonne können nun wieder ungehindert Eingang finden in den Garten und so den Blumen ermöglichen, intensiver denn je zu blühen. Ich lege Beet um Beet an, suche und finde Wildpflanzen in Wiese, Feld und Wald, suche regelmäßig die umliegenden Gärtnereien heim, erhalte von Bekannten, Freunden, Nachbarn und Verwandten Ableger, Pflänzchen, Samen, Steine und/oder gute Gedanken und siedle auf diese Weise in den vergangenen drei Jahren immer mehr Blumen- und Pflanzenarten im Garten an: Augentrost und Bergenie, Elfenblume und Wiesenkerbel, Gemswurz und Gilbweiderich, Kuhschelle, Knaben- und Mutterkraut, Storchenschnabel, Margerite und Wiesenflockenblume, Moossteinbrech, Nachtkerze, Sumpfdotterblume, Herbstzeitlose – »usw.« ... Die Neugestaltung ist nun, nach ziemlich genau drei Jahren, abgeschlossen, nachdem ich in den vergangenen Tagen noch etliche Kübel, Schalen und Töpfe bepflanzte, die an den verschiedensten Stellen des Gartens ihren guten Platz einnehmen – gleichsam lauter i-Pünktchen im großen vielfarbigen Ganzen. Jetzt sitze ich wieder oft am Westfenster (einmal bis die Amseln den / neuen Tag aufbellten / In ihren schwarzen Augen / Platz für alle / Aktentaschen / dieser Welt (Michael Arenz) und sehe, wie farbenprächtig und üppig Baum, Busch und Blume mit- und nebeneinander gedeihen, blühen und verblühen, sehe die vielen großen und kleinen Steine, aus den benachbarten Feldern und Wäldern zusammengetragen, die, zu Steinhügeln, Steinbeeten und Steingängen gefügt, der Flora mit ihren verschiedenen Funktionen helfen, in Form zu bleiben. Daß immer mehr Vögel hier ihr Zuhause finden, setzt dem Ganzen eine tontechnische Krone auf, an die ich ursprünglich gar nicht gedacht hatte. In den beiden Nistkästen brüten Kohl- und Blaumeisen einträchtig nebeneinander, und die Elstern, die seit vielen Jahren schon in der mittlerweile 15 Meter hohen Kiefer leben, machen den andern Vögeln, Amsel, Distelfink, Dompfaff, Gartenrotschwanz, Spottdrossel (»usw.«) den Raum erstaunlicherweise nicht streitig, stolzieren gelegentlich in ihrer unnachahmlichen Art über die Wiese, werfen auch mir stets einen ihrer stechenden Blicke zu, das war's. Dieser Tage saß eine Goldammer (war's etwa die, die mich 2008 zum Gedicht auf der straße beflügelte?) im Nußbaum, ein wundersames Bild, und heute morgen spaziert eine Bachstelze unter der Holzbank her. Wo stünde ich heute ohne den Garten? Seit Mitte Januar 2010 erlebte ich zum erstenmal, seit ich im Herbst 1983 literarisch zu schreiben begann, eine ungewollte (von gelegentlichen E-Mails und diesem Text abgesehene) Abstinenz vom Schreiben, deren Ende mir in diesen Tagen, obwohl ich in diesem Augenblick den Anschlag der Buchstaben auf dem Keyboard an den Fingerbeeren spüre, nicht absehbar erscheint – zumal mich seit einiger Zeit fortwährend das Gefühl beschleicht, das literarische Terrain, das mich schreibend interessiert, mehr oder weniger vollständig beackert zu haben. Der Literaturbetrieb, der mich als solcher nie interessiert hat, ist (von sehr seltenen Ausnahmen abgesehen) weit, weit weg von mir. Ich vermisse ihn nicht. Daß ich mich immer danach sehne, Menschen Gedichte, egal auf welche Art und Weise, nahezubringen, steht auf einem anderen Blatt, genauso wie die Tatsache, daß ich ohne Lektüre nicht leben kann: Unser tägliches Buch gib uns heute. Vielleicht habe ich fertig mit dem Schreiben, vielleicht kommt noch einmal etwas Neues, von dem ich heute nichts ahne – was ich mir naturgemäß wünsche, dann fliegen die Wortfetzen durch das Tal / und unten, an der Biegung des Flusses / da könnte es sein / daß sie, wie von selbst / zu einem Akkordeon zusammenfinden, wie ich in Thomas Schweisthals Gedicht Wortfindungsstörungen und Waldschrate lese. Wir werden sehen, wie es weitergeht. Es geht ja immer weiter. Außer es geht nicht mehr weiter. So wanke ich, mit Glenn Goulds Goldbergvariationen im Ohr, auf dem Drahtseil, hier fixiert von Karl Otto Conradys Doch sprachlos zu werden, / für Stunden, für Tage, / auf einer Lebensinsel mitten im Heute / müßte Befreiung bedeuten / vielleicht sogar Glück, dort von Joseph Brodskys Jemand, der ein Gedicht schreibt, tut dies vor allem, weil das Schreiben von Gedichten den Geist, das Denken und das Erfassen des Universums auf außerordentliche Weise beschleunigt. Wer diese Beschleunigung einmal am eigenen Leib erlebt hat, ist nicht länger in der Lage, auf die Chance einer Wiederholung dieses Erlebnisses zu verzichten: Er wird abhängig von diesem Schaffensprozess, so wie andere abhängig werden von Drogen oder Alkohol. Wer in dieser Weise abhängig wird von der Sprache, ist das, was man einen Dichter zu nennen pflegt. Ich zähle admission free (das von August bis November 2009 entstand) zu den sieben wesentlichen Gedichten, die ich geschrieben habe. Jedenfalls finden die beiden mein Leben immer wieder in unentflechtbarem Miteinander bestimmenden Leidenschaften Literatur und Natur in diesen sieben Strophen auf eine Weise zusammen, wie ich sie wohl nicht wiederholen kann: I hear the spirits often in the garden admission free and daily open to the public der drollige distelfink pickt in der wiesenflockenblume / die wacholderdrossel fliegt in den windtropfenden bergahorn [leer lädiert der trotzig leuchtende vogelbeerbaum] und das hausrotschwanzpärchen (von keckernder elster beäugelt) hüpft durchs famose gras schwänzelt augenblicklich im hexenglückspilzring hopst auf im nebel vom kaller wackerberg nach sistig geschleppte runderote riesenkiesel und die amsel hockt (wie jeden jeden jeden tag) auf der schwarzen leitung die unser haus mit dem unbesetzten [grau verschalten] nachbarhaus verkuppelt [no man is an island john donne] und singt und singt gegen die ein paar gärten weiter rurumorende motorsäge an von der die schaffige wühlmaus die (klitzefeingekrümelt) erdreich ans tageslicht befördert [und in wenigen tagen am blauen kampfgas eingehn wird] sich wenig bloß erschreckn läßt / ich seh den natterkopf aus dem pfennigkraut eine aster aus dem pfefferkorn ragen seh klatschmohn schon wieder ein blatt verliern / der blick baumelt am gilbweiderich schwingt rüber zu akelei kamille margerite kuckuckslichtnelke immortelle schlangenknöterich teufelskralle rittersporn eisen + fingerhut bleibt letztlich an den einst so weißen glockenblumen hängen – – – im zehnzwanzigdreißigminutentakt verbellen bellen bellen schmelzers verwegenewilde rüden die waldspaziergänger / la lirica está muerta lese ich in einem gedicht von ezequiel zaidenwerg baumlärm bei jutta dornheim und diane glancy vermerkt this world is at a loss and I am part of it migrating daily
Zweiter Schritt Unter Ausschluß der Öffentlichkeit Die eine oder andere Mutmaßung über das zeitgenössische Gedicht And I'm sure there will be a genuine adept Sonntag, 6. Juni 2010. Flüchtige Mutmaßungen über zeitgenössische Lyrik. Leser, die hier oder anderswo den einen Begriff und die eine Festlegung zum zeitgenössischen Gedicht lesen wollen, suchen vergeblich. Wir leben in Zeiten pluralistischer Formen-, Themen- und Stilvielfalt, die Scharen von Stimmen ertönen in und aus so unterschiedlichen Hoch- und Tieflagen, daß an mein geistiges Ohr, wenn ich an Lyrik im deutschen Sprachraum als Gestalt denke, ein herrlich aus Jung- und Altstimmen gemischter, polyphon-kakophon tönender Chor dringt, der ohne Punkt und Komma in einem fort nonstop erklingt – beim Öffnen von Buch oder Zeitschrift, beim Anklicken von E-Mail oder Website (durch die Deltas dieser die Lyrik in Fluß haltenden Seiten mäandre ich mal mehr, mal weniger regelmäßig, durch manche täglich, durch andere gelegentlich – je nach den aus den Metropolen gesendeten, überm Hinterland aufsteigenden Rauchzeichen, die mich auf diesen oder jenen Text aufmerksam machen wollen: fixpoetry.com · forum-der-13.de · lyrikline.org · lyrikmail.de · lyrikwelt.de · lyrikzeitung.de · matthiaskehle.blogspot.com · poetenladen.de · titel-magazin.de): Überall ist Wunderland. / Überall ist Leben. / Bei meiner Tante im Strumpfenband / Wie irgendwo daneben. (Joachim Ringelnatz) Blumenstraße In der Lyrik nach 2000, der forschen Fortschreibung der Poesie der 1990er Jahre, die sich u.a. dank der Gedichte von Marcel Beyer, Durs Grünbein, Thomas Kling, Bert Papenfuß und Raoul Schrott so kraftvoll wieder in höhere Höhen schraubte, finden sich weiterhin die verschiedensten vorstellbaren dichterischen Farben, lyrischen Formen und poetischen Schattierungen: hier Andreas Altmann, dort Urs Allemann, hier Jürgen Becker, dort Leander Beil (Benjamin der Lyriksippschaft), hier Hans Bender (Nestor der Lyrikwelt), dort Beat Brechbühl, hier Werner Bucher, dort Hans Georg Bulla, hier Zehra Çirak, dort Ann Cotten, hier Crauss, dort Franz Josef Czernin, hier Daniela Danz, dort Richard Dove, hier Ulrike Draesner, dort Alex Dreppec, hier Oswald Egger, dort Hans Magnus Enzensberger, hier Peter Ettl, dort Gerald Fiebig, hier Swen Friedel, dort Mara Genschel, hier Florian Günther, dort Aldona Gustas, hier Klaus Hensel, dort Norbert Hummelt, hier Jayn-Ann Igel, dort Felix Philipp Ingold, hier Gerhard Jaschke, dort Adrian Kasnitz, hier Matthias Kehle, dort Ursula Krechel, hier Björn Kuhligk, dort Axel Kutsch, hier Norbert Lange (der zu den Autoren nach 2000 gehört, zu deren selbstverständlichem Repertoire über das Verfassen von Gedichten hinaus auch das Schreiben über Gedichte gehört, nachzulesen in: Das Geschriebene mit der Schreibhand, Aufsätze zur Lyrik, Reinecke & Voß, Leipzig 2010), dort Christoph Leisten, hier Swantje Lichtenstein (die in Entlang der lebendigen Linie Wörter wie Blutblasenfüße, Schlangengeißeln und Wortknochen auftafelt), dort Werner Lutz (Markus Bundi hat 2010 in der Edition Isele den vorzüglich edierten Band Von Ort zu Ort verschieden nachdenklich sein mit Beiträgen von 30 Autoren zu ausgewählten Gedichten von Werner Lutz herausgegeben, der nicht bloß Lust auf Lyrik von Lutz macht), hier Kurt Marti, dort Christoph Meckel, hier Steffen Mensching, dort Erwin Messmer, hier Frank Milautzcki, dort Franz Mon, hier Stefan Monhardt, dort Herta Müller, hier Andreas Noga, dort Hellmuth Opitz, hier Markus Peters, dort Tom Pohlmann, hier Marion Poschmann, dort Lothar Quinkenstein, hier Francisca Ricinski, dort Arne Rautenberg, hier Jan Röhnert, dort Horst Samson, hier Walle Sayer, dort Dieter Schlesak, hier Robert Schindel, dort Kathrin Schmidt, hier Peer Schröder, dort Thomas Schweisthal, hier Armin Senser, dort Gerd Sonntag, hier Ludwig Steinherr, dort Ulf Stolterfoht, hier Hans-Ulrich Treichel, dort Christian Uetz, hier Günter Vallaster, dort A. J. Weigoni, hier Ron Winkler, dort Uljana Wolf, hier Maximilian Zander, dort Henning Ziebritzki – »usw.« In Literaturmagazinen wie floppy myriapoda (Berlin), Das Gedicht (Weßling), Matrix (Ludwigsburg), Der Mongole wartet (Bochum), orte (CH-Oberegg), Perspektive (Wien), Poet (Leipzig), Signum (Dresden), Trompete (Hamburg) oder Volltext (Wien) erlebe ich heterogenste Schreibansätze unterschiedlichster Autorinnen und Autoren, die in den gelungenen Gedichten ambrosische Assoziationen und ekstatische Erlebnisse bewirken. bronchiale stunts für Thomas Kling dass du nicht länger bleibst, scheint abgemacht. die harzigen gerinnsel, die vom leibe gehen, sind giftig und gallig. das bittre stört nicht. trägst du leinen?, stört die frage, schon, den gang der dinge, lauf der sterne, und im handumdrehen, feucht und zitternd, liegst du da: zum end, beatmet. in deine bronchien, wo inzwischen kaskadeure nisten und zwischen stunts ein stelldichein riskieren, strömt kaltluft ein und frostet kapillaren, das blut steht still und steif und rührt sich nicht, und wo dein herz war, hängt ein muskelsack, und deine augen wolln mit mir nicht sprechen. ein perlmuttfarbenes haustier ist der tod, sein schildplatt tarnt ihn. die narkotika am wege, tabak und petunien, blühn noch nicht, und was mein halfter war, in dem ich mich bewegte, zählt nicht mehr. Kathrin Schmidt · Blinde Bienen Einzeltitel, Sammelbände und Zeitschriften werden tagtäglich in so extrem dichter Folge herausgebracht, daß es schier aussichtslos für den einzelnen Leser ist, all die Editionen, die in den vielen hundert größeren und kleineren Literaturverlagen, Handpressen und Redaktionen alljährlich erscheinen, auch nur annähernd überblicken, geschweige denn lesen zu wollen (von den guten, vielgestaltigen Literaturportalen im Internet ganz zu schweigen). Zwingende Folge ist das Fiasko, daß von einzelnem Buch zu einzelnem Buch die Zahl der Leser seit einigen Jahren auf breiter Front autodramatisch abnimmt, wovon auch die Fachgemeinschaft der Autoren betroffen zu sein scheint. Diskurs- und qualitätsfördernd muß das nicht unbedingt sein. Vielleicht ist zudem ein Sättigungsgrad selbst bei eingefleischten Bücherwürmern erreicht, die sich angesichts der vermeintlichen Berechenbarkeit vieler grundsätzlich ansprechender, geglückter, lesenswerter Neuerscheinungen (total berauschende Entladungen wie Paulus Böhmers Kaddish, Oswald Eggers Die ganze Zeit und Gerhard Falkners Gegensprechstadt – ground zero sind, wie immer schon, unikale Ausnahmeerscheinungen auch in diesen Zeiten), prall gefüllter Regale, weniger prall gefüllter Geldbeutel sowie des (über?)mächtigen Konkurrenten Internet längst nicht mehr jeden neuen Lyrikband anschaffen, sondern offenbar von Mal zu Mal wählerischer werden. Die Dichter müssen lernen, / Schluss zu machen. Wann / wenn nicht jetzt? (Hendrik Rost) herbst Hans Benders augenzwinkernflottes Gedichtbuch Wie es kommen wird. Meine Vierzeiler (Hanser, München 2009) stellt mit bislang rund tausend verkauften Exemplaren eine der wenigen erfreulichen Ausnahmen dar: Viele Lyrikbücher selbst bekannterer (jedenfalls vielfach preisgekrönter) Autorinnen und Autoren finden oft kaum mehr als fünfzig, hundert oder zweihundert Leser. Ab dreihundert wird bereits gejubelt, als habe man eine Auflagenschallmauer durchbrochen. Bei einem für 2011 prognostizierten Schnitt von 135,4 Leserinnen und Lesern pro Buch müssen wir knallhart konstatieren: Die Mehrzahl der Veröffentlichungen findet praktisch unter Ausschluß der Öffentlichkeit statt, zumal mehr und mehr books nur noch on demand gedruckt werden, also de facto gar nicht. Was bleibt, sind Buchtitel und ISBN. Immerhin, wird mancher mehr oder weniger unbekannte Autor frohlocken, immerhin. Nachdem die Lyrik im deutschen Sprachraum in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg naturgemäß einen enormen Nachholbedarf hatte – so wurden das Experimentelle, Kritische, Politische und Surreale im deutschen Gedicht ja grundsätzlich erst nach 1945 wieder möglich – und mehrere Wellentäler durchwaten mußte, in denen zwar viel, aber nur vereinzelt eindrucksvoll Nachhaltiges geschrieben und die engagierte Beschäftigung mit Poesie und Sprache von den Wenigsten ernsthaft betrieben wurde (Hans Magnus Enzensberger, Walter Helmut Fritz und Peter Rühmkorf benenne ich, pars pro toto, als Autoren, deren Gedichten die Zeitläufte wenig anhaben konnten), sieht das in den zehn Jahren nach 2000 zum Glück ganz anders aus: Die tausend und mehr ernstzunehmenden zeitgenössischen Lyrikerinnen und Lyriker im deutschen Sprachraum mit Königin Friederike Mayröcker, deren dieses Jäckchen (nämlich) des Vogel Greif das überragende Gedichtbuch nach 2000 ist, an der Spitze (friederike-mayroecker.htm), verwenden den Gedichtraum selten für laberndes oder larmoyantes, willkürlich in Zeilen gebrochenes bedeutungsschwangeres Geschwätz: Schreiben hat nichts mit Bedeuten zu tun, sondern mit Landvermessung und Kartografieren, betonen die französischen Rhizom-Philosophen Gilles Deleuze und Pierre-Félix Guattari. (Diesen Kernspruch las ich in Wieland Grommes' höchst bemerkens- und sehr, sehr lesenswertem Essayband Vermessungen, Vermessenheiten. Kartografische Fragmente (Verlag im Waldgut, CH-Frauenfeld 2010). Ich meine, Lyrik, oder jede Art von Literatur, auch Prosa, oder was immer, kann nur entstehen gegen den Hintergrund oder auf der Basis von aller bisherigen Literatur oder Lyrik. Da ein Weniges ein wenig anders gemacht zu haben, als es schon war, ist ziemlich alles, was man erreichen kann. Ein Weniges ein wenig anders machen. Ganz kleine Verschiebungen. Sich vorzustellen, man könnte nun alles ganz anders machen, das würde etwas ergeben, was nicht mehr als Gedicht oder nicht mehr als Prosa erkennbar sein kann. Wie ja auch eine Plastik immer noch eine Plastik bleibt, auch wenn sie ganz anders gemacht wurde als je eine zuvor. Und die Künstler, sie finden sich alle in den gleichen Musentempeln ein – ob das Beuys ist, Rühm, Schwitters, Artmann oder Webern. Alle in den gleichen Musentempeln, wo die Jahrhunderte und die Jahrtausende schon gespeichert sind.
Ernst Jandl Das Gros der Autorinnen und Autoren setzt sich lesend auseinander mit dem Gedicht und seiner Geschichte (obwohl in der Lesedisziplin doch noch ein wenig Luft nach oben zu sein scheint, wie die Absatzzahlen zeigen, schließe ich mich, eingedenk der vielen guten Beispiele, Walter Fabian Schmid an: Ob aus kritischen oder ironischen Perspektiven, ob als technisch angeschrägtes Naturgedicht oder als Hölderlin-Fragmentation, auch auf die Lyrikgeschichte blickt das derzeitige Gedicht mit seinen tausenderlei Augen), arbeitet sich am spezifischen Thema ab, ist handwerklich gut ausgebildet, wobei ich manchen freilich zurufen möchte, sie mögen immer schön locker bleiben. Die als drittes Auge in die Stirn gerundete Webcam ist allezeit eingeschaltet, um wie Ror Wolf oben unten […] vorne hinten, kurzum: Überall jedes Staubkorn, jeden Dorn im Auge aufzustöbern und dem Großhirn als lyrisch zu bearbeitende Phänomene zu hinterbringen. Little brother is watching the world. Immer wieder sprang so ein Wort heraus. In dem einen oder anderen sehr homogen komponierten Gedichtbuch, ich benenne exemplarisch Nadja Küchenmeisters schönen Lyrikband Alle Lichter, dessen Gedichte mich im ersten Teil ansprechen, anregen und meinen Beifall finden, wünsche ich mir, virtuos montiert wie etwa der regelmäßig anzutreffende Binnenreim bzw. Gleichklang (der ohnehin eine gewichtige, gute Rolle spielt im zeitgenössischen Gedicht), dann und wann waghalsig-wilde, wellenschlagende Wörter bzw. das Sprachgebälk krachen lassende Kollokationsknäuel oder Lautverschiebungen an Stelle des durchweg gleichartig tönenden formalen, sprachlichen, strukturellen Grundmusters, dem noch nicht die meisterhaft schwingende Sprachqualität eigen ist, per se dafür zu sorgen, daß auch bei fortschreitender Lektüre in der zweiten Hälfte die Lyriklampen weiterleuchten. Ich denke in diesem Zusammenhang auch an die nachdrückliche Verschlankung von relativ umfangreichen Lyrikbänden (nicht nur) des Jahrgangs 2010 um, beispielsweise, ein Drittel der nicht an die Höhe der besten Gedichte des Buches heranreichenden Gedichte. Alle Lichter hätte in dem Falle nicht den letzten, nicht mehr ganz so guten Gesamteindruck hinterlassen, der bei meiner Lektüre von Gedichtbüchern (ganz im Gegensatz zum eigentlichen Leben) der prägende ist – wovon das einzelne Gedicht, um das es eigentlich immer bloß geht und auf das wir womöglich ein Lyrikleben lang zuschreiben, naturgemäß unberührt bleibt. Auf dieses Gedicht sehe ich Kathrin Schmidt mit Siebenmeilenstiefeln zuschreiten: Blinde Bienen sind gelungene, von Alpha bis Omega superb klingende Gedichte, die ich mit größter Empfindung und Lust lese. Im Zusammenspiel mit Elision und Lautmalerei, Stab- und Vokal-, End- und reichem Reim sorgt der ebenso bedachtsam eingebettete Binnenreim (eher als phonetischer Gleichklang denn als semantischer Reim, wenn wir Oskar Loerkes Definition von der unerläßlichen funktionalen Verwandtschaft der Reimwörter zugrunde legen) für die musikalische Summgrundstimmung, die die Verse auch da schwingen lassen, wo es, auf anderen Ebenen notwendigerweise alles andere als geschmeidig zugeht. She'll be riding six white horses when she comes heißt es in dem Song, der mir in diesem Moment, wo ich ihn als Metapher benötige, wie aus dem Nichts zufällt, um das Lyriklesewunder zu verbildlichen, simultan mehrere geistige Akte gleichzeitig bewältigen zu können, ohne daß mir jeder einzelne zwingend ex aequo bewußt sein muß: Im sinnlich dominierten Un(ter)bewußten erlebe ich ihn um so intensiver. Das ist das Pulsschlag in höchste Höhen treibende lyrisch-feurige Leseabenteuer, das ich stündlich suche und in gelungenen Gedichtbüchern wie Blinde Bienen fortgesetzt finde: mit Hummeln im Hintern wie Oswald von Wolkenstein parallel auf diversen Rossen durch wuchernde waghalsig-wilde wellenschlagende Wörter wetzen und Sprachgebälk krachen lassende Kollokationsknäuel galoppieren – mit dem geilen Gefühl, es sei ein einzigartiges. And there are times when, by means of a single word, a single rhyme, the writer of a poem manages to find himself where no one has ever been before him, further, perhaps, than he himself would have wished for. (Joseph Brodsky) Auch eingedenk Ezra Pounds' gutem Wort Poetry is news that stays news bleibt Jürgen Nendzas Hinterland aus Haut und Serpentine von 2004 das beeindruckendste, beziehungsreichste, erschütterndste, gelungenste, intensivste einzelne Gedicht, das ich in den Jahren 2000 bis 2010 in einem Gedichtband gelesen habe – daran ändern der aufregende Aufenthalt bei Michael Lentz und Michael Opitz in deren windschiefem Lyrikhaus In diesem Land. Gedichte 1990 – 2010 (In Lyrikgetwitter, der Vorstellung dreier 2010 erschienener Anthologien (lyrikgetwitter), heißt es abschließend: »In diesem Land ist ein windschiefes Lyrikhaus mit löchrigen Wänden und einer Reihe fehlender Ecksteine, die den ganzen Bau auf riskante Art und Weise in Umsturzgefahr bringen. Aber – in einem solchen Haus, in dem ich so manches Erwartete nicht vorfinde und in dem der Boden unter den Füßen nachgibt, halte ich mich immer wieder gern auf, no risk, no fun, lobe den Hausherrn über den grünen Tee und führe entflammte Gespräche. Gell, Edith?«) und das phasenweise euphorische Wahrnehmen des von Michael Braun und Hans Thill komponierten Lied aus reinem Nichts. Deutschsprachige Lyrik des 21. Jahrhunderts nichts. Lied aus reinem Nichts beginnt am total vernebelten 17. Oktober 2010 als der gewünschte ungestüme Parforceritt ins Offene, als Herta Müllerscher Irrlauf im Kopf durch die zerklüftete Lyriklandschaft im deutschen Sprachraum, die in den Jahren 2000 bis 2010 eine so exorbitante Entfaltung zu verzeichnen hat, daß mir beim Lesen immer wieder Hören und Sehen vergeht: Volker Braun, Felix Philipp Ingold, Steffen Popp, Nico Bleutge, Raoul Schrott, Ulf Stolterfoht, Hans Thill sorgen für einen furiosen, sehr viel versprechenden Auftakt nach Maß. Ich verstehe die Auswahl (über das Dutzend der ganz und gar unverzichtbaren Dichter hinaus) als exemplarische Stimmen des großen Chors der originellsten fünfhundert reimenden Rhapsoden, sezierenden Sänger und trüffelsuchenden Troubadore, die in diesen Zeiten und in diesem Land – in Metropole und Hinterland – von lyrischem Furor beseelte Autoren sind, deren Gedichte seit Jahren bis hin zur Aufnahme in den Großen Conrady nachhaltigen Eindruck hinterlassen haben. (Hans Magnus Enzensberger faßt es ironisch zusammen: Auch dieses Gedicht steht natürlich / nur an der Stelle des richtigen, / das noch auf sich warten läßt.) Auf meinem Ritt beginne ich (gegen meine ausdrückliche Absicht, ausschließlich zu gewahren, was da ist, nicht nach Lücken zu suchen, ich erwarte weder pluralistischen Sammelfleiß noch enzyklopädische Vollständigkeit) nolens volens zu erkennen, daß ganze Städte, Landstriche, Straßen- und Höhenzüge links liegen gelassen werden. Ein kolossales Gemälde kann ich in keinen kleinen Rahmen zwängen: Abzüglich der Leerseiten und Nachworte sowie des Anhangs bleiben netto 149 Seiten für Gedichte: viel zu wenig, um diese dicht besiedelte, von exotischen Gewächsen nur so strotzende Lyriklandschaft treffend abzubilden – zumal eine ganze Reihe von Gedichten, in denen ich vergeblich fesselnde Wörter oder Verse aufzuspüren suche, bei weitem nicht die ästhetisch wagemutigsten Schreibverfahren und substantiellsten und eindringlichsten Versuche lyrischen Sprechens der jeweiligen Autoren sichtbar macht. Desungeachtet, birgt dieses möglicherweise (einschließlich aller Risiken und Nebenwirkungen) vorsätzlich auf diese ausdrücklich fragmentarische Art komponierte, viele Fragen offen lassende Lied aus reinem Nichts (nach Punktzeit und Das verlorene Alphabet die dritte von Michael Braun und Hans Thill edierte Jahrzehnt-Anthologie) einiges sehr Bemerkenswerte an eindrucksvollem, ereignisreichem Lesestoff: die stimme Fragiles Fragment · Sentenz vom Gedicht Das Spektrum des zwischen Hinterland- und Großstadtstraßenfluchten schwingenden, einsilbig oder kakophon, fest- oder freimetrisch, alliterierend oder assonant, (binnen-)gereimt oder prosanah, karg oder simultankaskadisch, luftig, licht und klar oder geheimnisvoll, mysteriös und rätselhaft, hochpoetisch klingend oder antilyrisch gebrochen, überhitzt oder unterkühlt, synästhetisch oder katachresisch, standardisiert, wortspielerisch oder dialektal, leichtfüßig oder verschleppt, schlicht oder krass, rotzig oder erhaben, jambisch (trochäisch) oder daktylisch (anapästisch), erdig oder intellektuell, ernst, finster, trocken oder ironisch, sarkastisch, zynisch, schwärmerisch oder nüchtern, herb oder sanft, heiter oder hypochondrisch, lässig oder forciert (»usw.«) ge|form(ulier)ten, jedes banale und bedeutende Ding des Mikro- oder Makro-Daseins als ECU oder aus der Totalen in den Blick nehmenden, vielfach konterkarierende Gedicht in diesen Zeiten der nur noch ganz kleinen Verschiebungen reicht vom eingewurzelten Strophengedicht zur experimentellen Collage und visuellen Bricolage, vom Anagramm übers Leipogramm zur paragrammatischen Verballhornung, vom Kreuzgereimten zum Alltagsparlando, vom Haiku übers Akrostichon zu Ode, Sestine, Sonett und Terzine, vom Aphorismus übers Epigramm zum Sprichwort, vom Einwortgedicht über den Vierzeiler zum Erzähl- oder Langgedicht, vom feurigen Stimmungsbild zum wasserumwallten Wortschwall, von politisch grundierten, mit suggestiven Botschaften garnierten Versen zur privaten Poesie für öffentliche Ohren, vom hermetisch übers doppelbödig zum offen strukturierten Gedicht, vom Block- zum Flattersatz, von der assoziativ verketteten, überbordenden paradox-skurillen Phantasmagorie zur (Realität verfremdenden) lakonischen Inventur, vom Beat- über Pop- zum ätherischen Gedicht, vom ungelegenen Vers zum Gelegenheitsgedicht, von Sonnenstrahl über Thunderstorm zu Schneegestöber, von der innovativen Sprachschöpfung zur kongenialen Nachempfindung, vom mit der universalen Lyrik aller Länder und Zeiten ringenden Gedicht des poeta doctus zum naiven Notat des Art-Brut-Dichters, von der chiffrierten zur intertextuellen Verflechtung, von der notgeborenen Attacke zur müßigen Besinnung, von Allegorie über Metonymie, Metapher und Emblem zum Symbol zur bewußt davon befreiten Lyrik, vom grotesken Oxymoron zum skurrilen Paradoxon, vom farbenfrohen Nonsens zum schwarzweißen Tiefsinn, von reiner Lyrik über Metalyrik (Gedichtgedichte) zum didaktischen Lehrgedicht, vom stillen und kurzen, um eine einzige Metapher rankenden Gedicht zur hektischen, übers ganze Blatt und darüber hinaus sich windenden Montage oder Endloszeile, vom Stakkato zum Geschmeidigen, vom surrealen Purzelbaum über Dissonanz und Lautpoesie zur Volksliedstrophe, von der urbanen Häuserzeile zur rustikalen, zeitgemäß fragmentierten bzw. verfremdeten Sumpfdotterblume Der Wille, gut, originell, präzise zu schreiben (mit überreichlich forcierten Laborgedichten, vergleichsweise spärlich nur anzutreffenden Gelegenheitsgedichten – fehlen Gelegenheit und Geduld?), ist in Berlin (wo in allen Ecken, Nischen und Winkeln Herr Mainstream und Frau Subkultur – Tag und Nacht, in Massen oder vereinzelt – dermaßen abrocken, als gäbe es bloß diesen einen lyrikmachenden Ort), Bozen, Luxemburg, St. Vith, Wien, Zürich und den unzähligen anderen kleinen und großen Orten des deutschen Lyriksprachraums durchweg spürbar (im Überblick regelmäßig nachzulesen im von Christoph Buchwald herausgegebenen Jahrbuch der Lyrik, in Versnetze, dem von Axel Kutsch ebenfalls seit 1983 nahezu jährlich edierten Sammelband, sowie – als fulminantes Finale der Vorstellung der Lyrik im deutschen Sprachraum seit dem Mittelalter – in Der Große Conrady von 2008), und Kerstin Preiwuß spitzt dieses betont bedachte Bewußtsein so zu: Ein Gedicht ist grausam, es hört nur sich, es aufzuschreiben, erfolgt aus der Hilflosigkeit, nicht anders zu können, aber das, was man kann, ist ihm noch zu wenig. Das war, beispielsweise, in der Zeit nach 1968 ganz anders. Es gehörte nicht nur in studentischen Kreisen zum guten Ton, neben dem täglichen Joint in sorglos unbeschwerter Weise sein (Befindlichkeits-)Gedicht zu schreiben. Immer mehr wurde geschrieben, Lyrikbücher erreichten Auflagen, von denen wir im deutschen Sprachraum nach 2000 träumen. Das las sich locker-flockig (wenn's auch oft traurig war), man gehörte dazu, der Begriff Qualität wurde als spießbürgerliches Kriterium verhöhnt, zu reimen war verpönt. Die professionellen Autoren jener Zeit, deren Gedichte wir noch heute mit Gewinn lesen, beteiligten sich weniger an dieser sympathischen dilettantischen Massenveranstaltung. Rolf Dieter Brinkmann wandte sich bewußt davon ab. Dritter Schritt Glasscheiben – Glasscherben Ars combinatoria Trenne die flachen Wörter auf mit einem Stichel Dienstag, 8. Juni 2010. Der Tücke, Anachronistisches zu verfassen, versuche ich mit andauernder Konfrontation und im beständigen Bewußtsein zu begegnen, daß an allen Fronten die Feinde (eitle Hybris, sorglose Flüchtigkeit) lauern, die das Gedicht unbarmherzig in den Abgrund stoßen wollen. Diese Gefahr wird mit jedem weiteren gedruckten Gedichtbuch größer. Ich muß – ähnlich Vorbildern wie Charles Baudelaire, Gottfried Benn, Rolf Dieter Brinkmann, Paul Celan, T. S. Eliot, Stefan George, Friedrich Hölderlin, Ernst Jandl, Thomas Kling, Wladimir Majakowski, Stéphane Mallarmé, Friederike Mayröcker, Oswald von Wolkenstein, Arthur Rimbaud, Ezra Pound (dem ich in der heutigen Lektüre, einem von Bernd Völkle und Klaus Theweleit prall mit Kunst und guten, immer wieder lyrisch angehauchten Gedanken gefüllten Regal (modo Verlag, Freiburg im Breisgau 2010), so: L'art 1919 // Green arsenic smeared on an egg-white cloth. / Crushed strawberries! Come, let us feast our eyes), Walt Whitman oder William Carlos Williams – immer und immer daran arbeiten, "absolument moderne" zu sein. Das Fortschreiben von Traditionen ist gut und schön. Wir brauchen und wollen aber immer mehr. Die Ergebnisse erlebt jeder Leser von Gedichtfall zu Gedichtfall selbst. Ist, beispielsweise, töter ein Gedicht, das den eben benannten Kriterien standhält? Die Entstehung der Verse habe ich im Tagebuch so festgehalten: Zeuge seiner selbst zu sein, Sonntag, der 13. Dezember 2009, ist ein winterlich weißer Tag mit Temperaturen um den Gefrierpunkt. Warum weinen die Fensterscheiben hier im Souterrain bei diesen Graden immer? Kälte schneidet beim kurzen Gang zur gelben Tonne das Gesicht in schmale Streifen. Die Stunden drinnen, weiche Stunden, verbringe ich, nach Frühstück gegen neun, lesend – Bei Dao, Das Buch der Niederlage (in einem Gedicht stoße ich auf Wörter sind Köder), Patricia Cavalli, Diese schönen Tage, Juan Goytisolo, Quarantäne –, zu Mittag essend, schlafend, Tee trinkend (dazu ein bißchen Gebäck), selten sprechend, im lyrischen Internet surfend, ein paar Mails schreibend, zwischendurch Fußballergebnisse verfolgend. Schade, immer noch gärt der gestrige Groll, der Rede doch eigentlich nicht mehr wert, wie auch Joachim Ringelnatz betont: Happy Christmas, dear old Un! Das Schreiben eines Textes setzt ein feines Geflecht von Beziehungen voraus, die seine verschiedenen Knotenpunkte miteinander verbinden. Alles fließt ein: Erlebnisse anderer, eigene Erfahrungen, Stimmungen, Reisen, Zufälligkeiten, auf aleatorische Weise verquickt mit Lektüren, Bildern und Eingebildetem, kraft einer Ars combinatoria aus Kreuzungen, Korrespondenzen, Assoziationen der Erinnerung, plötzlichen Erleuchtungen, Wechselströmen, setzt Juan Goytisolas denkwürdige, merkwürdige Erzählung Quarantäne reflektierend ein, und ich setze den Gedanken unmittelbar in Beziehung zu einem fesselnden Gedicht Bei Daos, das ich einige Zeit später (ich lausche Schumanns Kinderszenen) mit hochgradigster Konzentration lese: Kreationen Statt Glasscheiben lese ich zunächst Glasscherben – ein unfreiwillig erzeugtes Paragramm. Ich frage mich, hätte sich Bei Dao als deutschsprachiger Dichter, ähnlich assoziierend, statt Glasscheiben schließlich für Glasscherben entschieden? Ich verwechsle einen ameisenhaft winzigen Buchstabenbruchteil im deutschen Wort, und die Scheiben liegen in tausend Stücken, Splittern da. Ist das nun – Wahnsinn? In Georg Friedrich Daumers titellosem Gedicht, heute im Lyrikkalender, lese ich, daß ich mich der Nüchternheit enthalten solle, daß ich so auf der rechten Bahn sei, denn daß der Rausch zur Seligkeit unnütz sei, das sei ein Wahn. Erneut denke ich: Wahnsinn. Endlich jemand, der mich auf die rechte Bahn bringt. Auf die Wahnbahn. Nun überschlagen sich die Ereignisse, der Stuttgarter Torhüter Jens Lehmann fliegt in Mainz vom Platz, der anschließende Elfmeter führt zum Ausgleich. Aus, aus, das Spiel ist aus, Dortmund führt in Wolfsburg nach wenigen Minuten mit zwei zu null Toren. Und innerhalb von fünfundvierzig Minuten mache ich (entsteht?) dieses Gedicht, das zwölfte und letzte für 2009, an dem ich auch heute, ein halbes Jahr später, nichts mehr ändern will: töter Lyrik 2010 · Exemplarische Rundschau von A bis Z Die vollständige Liste aller 2010 gelesenen Lyrikbände des Jahrgangs 2010 – Einzeltitel · Sammelbände · Zeitschriften – ist demnächst im Poetenladen nachzulesen in einem etwas längeren Essay, der sich mit Lyrik und Prosa befaßt: Im Jahr des Buches 2010. Es kribbelt und wibbelt weiter. Das Gedicht geht gelesen eher ein. Der Aufnehmende nimmt von vornherein eine andere Stellung zu dem Gedicht ein, wenn er sieht, wie lang es ist und wie die Strophen gebaut sind. Ein modernes Gedicht verlangt den Druck auf Papier und verlangt das Lesen, verlangt die schwarze Letter, es wird plastischer durch den Blick auf seine äußere Struktur, und es wird innerlicher, wenn sich einer schweigend darüberbeugt. Einzeltitel
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Theo Breuer
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