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Theo Breuer
Von Buch zu Buch
Von Theo Breuer
Vorab
Nichts / von Belang
Jürgen Becker
Der dicke Mann im Spiegel
Von einem Menschen, der sich zwanzig Jahre lang in der Wüste aufgehalten und nichts gelesen hat, der nichts weiß, bloß meditiert hat oder auch nicht usw., könnte ich bestimmt einige Wahrheiten erfahren, die ich als meine eigenen anzusehen bereit wäre ... Eben-so könnte ich die gleichen Wahrheiten von einem Menschen an-nehmen, der sich zwanzig Jahre lang unter Büchern vergraben und nichts getan hat, als zu studieren und wieder zu studieren ...
Gellu Naum
Von Buch zu Buch · Lesezeiten 2011 ist ein Lesetagebuch, das ich, dem spontanen Entschluß folgend, erstmals ein Jahr lang die Titel aller gelesenen Bücher und Zeitschriften (unabhängig vom Erscheinungsjahr) anhand von Aufstellungen zu erfassen, am 1. Januar um 10 Uhr 21 beginne und am 31. Dezember um 11 Uhr 20 beende. Von Buch zu Buch ist dabei kein Lesetagebuch im Sinne, daß ich Fließtext und Zitate ebenfalls chronologisch verfasse bzw. notiere. Die Zitate werden im Verlauf des Jahres, gezündet durch die jeweilige Lektüre, in konvenable Kontexte eingefügt, und diese einleitenden Worte, beispielsweise, schreibe ich am 16. November zwischen 20 Uhr 11 und 21 Uhr 10, nachdem ich tagsüber einen Teil der im Laufe der Jahre seit 1987 gesammelten Literaturzeitschriften in eine für mich einfacher zu überschauende Ordnung gebracht, im von Shafiq Naz herausgegebenen Lyrikkalender Franz Werfels Gedicht Der dicke Mann im Spiegel gelesen, an dem am Vortag begonnenen Gedicht das ruhige wort · muschel gearbeitet, die Graphic Novel Alte Meister gelesen sowie mehrere in den Jahren 2007 bis 2010 im Lyrik Kabinett München erschienene Hefte und Bücher von Harald Hartung, Christoph Meckel, Arthur Reich und SAID, Axel Sanjosé und Uljana Wolf in die entsprechende November- bzw. 2011-Liste eingetragen habe.
Sie saßen einfach da / und grinsten
anders
es muss nicht alles münden in ein gedicht
und enden im gedicht es muss alles vergehn
weiss die luft vögel schrill und aufgekratzt
als ob sie sich gleich paarten auf dünnen ästen
glitzernd vom frost ein paar stunden schon
nicht mehr nacht und vor den fenstern blüht was
und die milane sähen im fremden land anders aus
auch ich und unter mir die stark verzierte erde
Nathalie Schmid · Brennpunkte
Es wird also munter drunter- und drübergehen in diesem nur scheinbar so übersichtlich in zwölf Kapitel eingeteilten Essay: Im Januar (keltisch: Hartmanoth) und Februar ( Siegmanoth) schreibe ich vielleicht über Bücher, die ich im Oktober oder November lese, im März plötzlich über Bücher, die ich im März lese. So weise ich an dieser Stelle frech auf den Band da kapo mit CS-Gas hin, in dem ich kaltherzblütig aufnotierte (montierte) Gedichte von Kai Pohl und Clemens Schittko lese, von denen ich mich am 5. Dezember zwischen 16 und 17 Uhr frei und willig in die Zange nehmen lasse. Der gemeinschaftliche Band ist 2011 im Hamburger FIXPOETRY.Verlag erschienen – wie auch die Anthologie Brennpunkte mit Gedichten von sechs Autorinnen aus der Schweiz sowie Brigitte Struzyks alles offen – – – von wegen »alles offen«: Im Gedicht Verkehrt heißt es im ersten Vers Verflogen kam der Vogel an und später, hier klopft wohl Christa Wolf (1929–2011) an die Tür, Kein Ort hier, nirgends offen.
Nein, Chronologie ist nicht die ausrichtende Schnur, nach der ich suche. In meinem Kopf purzelt schließlich auch ewig und immer jedes und alles durcheinander, stellen sich unangekündigt Bilder und Wörter aus Kindertagen ein, drängt sich der Gedanke an die Lektüre eines Gedichts mitten in den delikat formulierten Satz eines Romans. Ist das nun traumartig oder traumatisch? Egal. Ich bin Bricoleur, hocke hier, kann nicht anders. So still ist es zumeist – bei aller in Ohren klingenden Musik – in diesem Haus, as if all the days were double-glazed against themselves (Mark Tredinnick), und doch ist ständig jemand zu
Besuch
Es war einer jener Tage,
an denen man
keine schönen Gedichte
verträgt.
Als ich nach Hause kam
zu meiner Schreibmaschine,
warteten sie schon: Bukowski,
Brinkmann, Günther und O'Hara.
Sie saßen einfach da
und grinsten, und ich
ging in den Keller
und holte Bier.
Maximilian Zander · Der Mongole wartet 22
Nanu …
So proste auch ich den Autoren zu (auch denen mit schönen Gedichten) und genehmige mir weiterhin so manche Wörterpulle. Der eine hängt an der Flasche, der andere hängt am Buch, säuft Sätze · Verse · Gedichte · Geschichten, als wäre er am Verdursten. Bensch meint immer mal, diese Lesemanie komme ihm absurd · bizarr · chaotisch · drollig · extravagant · fremdartig · grillenhaft · hirnverbrannt · irregulär · jeck · kapriziös · lachhaft · merkwürdig · neurotisch · öde · possierlich · quer- und rappelköpfig · sonderbar · töricht · unnormal · verschroben · widersinnig · zwecklos vor, dieses immerwährende Buch in der Hand.
Geht's noch? frage ich turnusmäßig zurück, weil ich weiß, daß ihn neudeutsche Formulierungen auf die Palme bringen, und lese einfach weiter, natürlich rumort es zunächst noch in mir, ersetze ich Manie mit Bedürfnis, denke: Wörter · Sprache · Narretei. Kraus hält sich in solchen Momenten zum Glück auch mal raus. Klartext redet er meistens nur, wenn Bensch nicht dabei ist. (Und ich denke, mit Meckel, die Kerle haben etwas an sich.) Dabei finde ich das eine oder andere Adjektiv durchaus treffend, vor allem das letzte, wenn ich aus ›zwecklos‹ das weniger pejorativ klingende ›zweckfrei‹ machen darf. »Paßt scho«, pflichtet mir immerhin der bayerische Nachbar Christian bei, der zwar keine Bücher liest, »keine Zeit, keine Zeit«, sich über ein Exemplar von Kiesel & Kastanie zum 50. Geburtstag, das ich ihm an einem Samstagmorgen, ein paar Tage vor dem Geburtstag, den er in der Heimat feiert, spontan in die Hand drücke, trotzdem riesig freut und mich, kein Scherz, mit Tränen in den Augen, – ebenfalls neudeutsch – heftigkräftig umarmt. (Andreas Noga weiß, wie sehr ich das liebe.)
Und in dem der wundertütenvollen Büchersendung (ich entdecke u.a. den von Matthias Hagedorn mit Bildern, Erzählungen, Essays und Gedichten vorzüglich edierten, essayistisch grundierten Sammelband Rheintor Linz – Anno Domini 2011 sowie Haimo Hieronymus' spritzigen Erzählband Die Angst perfekter Schwiegersöhne – beide Bücher zusätzlich angereichert mit einem originalen Hieronymus-Holzschnitt) beiliegenden Brief Hagedorns vom 2. Dezember (wir verwöhnen einander gern, korrespondieren regelmäßig elektronisch und per Schneckenpost) lese ich: Jede interessante Kunst muß sich ihr Publikum selbst schaffen. Kunst ist kein Produkt, das für einen Markt erzeugt wird. Kunst entzieht sich jeder unmittelbaren Verwertbarkeit, sie pfeift auf die McKinseyierung unserer Gesellschaft, und gerade daraus erwächst ihr Wert.
Buchlawinen
Nach einigem Hin- und Herdenken zu Beginn des Jahres entscheide ich mich schließlich dafür, in die monatlichen – in LYRIK · ESSAY · PROSA · ZEITSCHRIFT unterteilten – Verzeichnisse ausschließlich Autor und Titel des jeweiligen Buches einzutragen. Ist doch wurscht, wann und wo Bücher erscheinen, oder anders gesagt: ist gar nicht wurscht – Erscheinungsjahr oder Verlagsnamen wird immer wieder eine ›Bedeutung‹ beigemessen, die mit ›Aktualität‹ und ›Qualität‹ des Buches nicht unbedingt immer in Einklang zu bringen ist. Bis wir einander begegneten, las Bensch, beispielsweise, ausschließlich Bücher aus den Programmen bekannter Verlage (was auch sonst, vom ›Kleinverlag‹ hatten er und sein Buchhändler nie gehört), las Kraus »grundsätzlich« keine Bücher des aktuellen Jahrgangs ( soso). Das den Essay abschließende Katalogkapitel archiviert die 2011 erschienenen Lyrik-, Essay, Prosa- und Zeitschriften-Titel einschließlich der üblichen bibliographischen Angaben und macht auf diese Weise auch die Weite des deutschsprachigen Verlagsraums mit den unzähligen Falten und Nischen sichtbar.
Kopfüber · Listen mit Eigensinn
Im innersten Kern ist die Literatur kein Fachgebiet, wo man sich auskennen kann, sondern ein Abenteuer, in das man sich immer wieder kopfüber stürzt, ohne zu wissen, wie es ausgeht, zitiert Herausgeberin Julietta Fix den mir aus der Seele sprechenden Burkhard Spinnen in der farbenfrohen, klangreichen Anthologie Ein Bild von einem Gedicht. Mit diesem Essay wende ich mich erneut an Menschen, die nach einer etwas anderen – gleichsam abenteuerlich grundierten – Art von ›Übersicht‹, ›Überblick‹ oder, ganz einfach, literarischen Hinweisen und Tips suchen, insgeheim hoffend und wünschend, daß die in erster Linie für private Zwecke erstellten, erste Geige im Strukturensemble dieses Essays spielenden, für sich sprechenden, sich nicht nach allgemein anerkannter ›Aktualität‹, Popularität oder durch verliehene Preise in die Höhe geschossenen Verkaufszahlen richtenden, von hinterländischem Eigensinn geprägten Aufstellungen auch diesmal so erfreulich und/oder nützlich sein mögen, wie ich das aus Rückmeldungen zu den Essays der vergangenen Jahre, die mich gelegentlich über die Mailfunktion des Poetenladens erreichen, erfahren habe, und auf die ich im übrigen ungefähr so antworte: Es geht in der Literatur nicht um Überblick. Was ist überhaupt – ›Überblick‹? Hat jemand den Über|blick? Ich habe, vielleicht, k(l)einen Überblick. Ich will keinen anderen Überblick.
Der Blick ins Buch reicht hin
Eher schon will ich den fortgesetzten Augenblick des Lesens, um zwischen Buchdeckeln gute Wörter aufzufinden, die Räume sichtbar machen, Lebensweg beleuchten, aus einer Verfassung heraus geschrieben sind, wie Ezra Pound sie fordert: The artist is always beginning. Any work of art which is not a beginning, an invention, a discovery is of little worth. The very name Troubadour means a ›finder‹, one who discovers. Oder wird der seit Kindertagen eingewurzelte Lesetrieb ohne wenn und aber von jener merkwürdigen, numinosen, wortstarken Macht diktiert, sehe ich mich doch, wenn ich mich sehe, in der Perspektive des Zwergs, der allezeit von den wie eine einzige, gleichsam unendlich wirkenden Buchlawinen, die sich Stunde für Stunde, Tag für Tag, Woche für Woche, Monat für Monat, Jahr für Jahr – so zahlreich die guten Bücher, die ich nicht gelesen / sie vermehren sich von Tag zu Tag (Asher Reich) – von den Verlagsberghängen ablösen und zum Lesertal gleiten oder stürzen, überrollt zu werden droht.
Vielleicht aber zeigen die Auflistungen gerade wegen des persönlichen Charakters und eingedenk der Unüberschaubarkeit der alljährlich auf die Leser niederprasselnden Einzeltitel, Sammelbände, Zeitschriften und Hörbücher, wie es im Hinblick auf diesen oder jenen Umstand um das Phänomen der Literatur und des Literaturbetriebs nach 2000 aus der Sicht des einen Lesers bestellt ist und wie der andere Leser damit umgeht – oder nicht.
Das Experiment
Ungewißheit
In dieser hellen Finsternis,
auf welcher wir auf Erden stecken,
wird ein Vernünftiger gar leicht entdecken,
daß alles Wissen ungewiß.
Die Ungewißheit geht sogar so weit,
daß man,
mit Recht und Zuverläßigkeit,
daß alles ungewiß, gewiß kaum sagen kann.
Barthold Hinrich Brockes (1680-1747)
Wenn von ›experimenteller‹ Lyrik die Rede ist, denke ich gern, daß nicht nur alle je verfaßten Gedichte Experimente mit ungewissem Ausgang sind, sondern die gesamte Existenz vom Tag der Zeugung bis zum Tag des Todes überwältigenden Versuchscharakter hat: Schaun mer mal, meint der Kaiser zurecht, denn wir wissen nicht, was wir tun – und fliegen, naturgemäß, immer wieder auf die Schnauze »usw.«
Insofern ist Von Buch zu Buch · Lesezeiten 2011 ebenfalls Experiment (zumal, wenn ich mich bewußt der Textart ›Essay‹ bediene: eassai (frz.) – Probe · Test · Versuch). Einmal und nie wieder mache ich das so und nicht anders, und während des ganzen Jahres – und zunehmend gegen dessen Ende hin – wage ich es immer wieder, aus verschiedenen Gründen zu bezweifeln, ob es über die Titelverzeichnisse und bereits eingefügten Zitate hinaus überhaupt zur Niederschrift des Ganzen kommen kann · muß · soll · wird. Wenn nicht, denke ich in jenen Augenblicken unisono, ist das auch nicht weiter schrecklich (das Leben sei halb so schlimm, meinte einst Charles Chaplin, und wie das Beckenbauersche Diktum gehört auch diese Sentenz zu dem Dutzend schlichter Weisheiten, die ich turnusmäßig einsetze, um mich in diesem oder jenem Moment der Unruhe zu beschwichtigen und zu beruhigen).
Zufall · nämlich die Hummel am morgen
Dann wird es still. Sogar der Regen geht leiser
über der Steine ruhig dunkelnden Glanz.
Alle Geräusche ducken sich ganz
in die glänzenden Knospen der Reiser.
Rainer Maria Rilke
Daß ich hier und jetzt diese Wörter schreibe, ist das immer wieder als verrückt und überraschend empfundene Phänomen, das ich stets als kleines alltägliches Wunder erlebe, wenn der Schreibprozeß in Gang kommt und gar zu einem Flow wird wie seit dem 28. November mit Von Buch zu Buch (auspacken · blättern · lesen · schreiben · korrespondieren · lesen · sondieren · recherchieren · schreiben · lesen · bestellen · abwarten · Tee trinken · schreiben · antworten · fragen · sortieren · exzerpieren · schreiben · bibliographieren · schreiben · überdenken · lesen · kopieren · einfügen · lesen · lesen · schreiben · überarbeiten · markieren (nicht alles!) · löschen · schreiben · speichern · lesen »usw.«) oder – kleiner Flow! – vor ein paar Wochen, als der eine oder andere Zufall möglich macht, eingangs erwähntes Gedicht zu schreiben, dessen Existenz sich u.a. einem Gedichts von Friederike Mayröcker, in dem ich die Wortfolge nämlich die Hummel am Morgen lese, sowie der Lektüre von Ulrich Ziegers mich mehr als mächtig ergreifenden Gedichtbuchs Aufwartungen im Gehäus verdankt:
das ruhige wort · muschel
unruhig ist unser herz · bis es ruhet in dir · denn auf dich hin · hast du uns geschaffen bekennt augustinus voll unruh denk ich hier rund um die uhr rund um die uhr und jetzt
schreib ich [und ich ist kein andrer] das windige wort ruhe und ich denke das wort verrückt denke das wort zu|fall · zufall: augustinus der bierbrauer bischof buchdrucker
irrlehrenkämpfer kirchenordensvater theologenpatron ich denk ungeheuerunheimlich breuer leitet sich her von brauer denk mildmalzbier blaufalzbuch denk flammherz
schwebengel seh salzwasserschöpfendes kind bild des wildwasserschöpfenden kindes das mich seit nunmehr 50 jahren beim spiegelblick heimsucht kind das nicht flennt
kind das nicht rennt weltinnengraumuschel pazifrisches meer das sich sehrsehr weitet das südliche meer · heiliger strohsack denk ich las das erst gestern bei ulrich zieger
Januar · Hartmanoth
The only people for me are the mad ones, the ones who are mad to live, mad to talk, mad to be saved, desirous of everything at the same time, the ones who never yawn or say a commonplace thing, but burn, burn, burn, like fabulous yellow roman candles exploding like spiders across the stars and in the middle you see the blue center light pop and everybody goes »Awww!«
Jack Kerouac
Flüsterpost
Ich gehöre zu den Menschen, die sich im Verlauf und am Ende eines Jahres Selbstauskunft geben über das an diesen und jenen 365 bzw. 366 Tagen gelebte Leben (Lesen). Ich flüstre mir un/gern zu, daß es aufgrund dieser und jener Angelegenheiten, Begegnungen, Dinge, Elemente, Korrespondenzen, Lektüren, Schreibprojekte usw. k/ein gutes Jahr (gewesen) sei, mich dabei gleichzeitig in die Gedankenschranken verweisend, wie künstlich letztlich die Setzung vom 1. Januar bis 31. Dezember ist: warum nicht, beispielsweise, die Markierung vom 1. Juli bis 30. Juni vornehmen? Vom 30. März bis 30. Januar? Vom 10. Mai bis …
Laß · es · gutsein, meint Kraus, und Bensch preßt die eh sehr dünnen Lippen aufeinander.
Egal.
Jedenfalls kommen in diesem Zusammenhang die Literaturlisten (Archive gegen das Vergessen – was ›vergessen‹, das eigene ›Gesicht‹, das eigene Gedicht?) ins Spiel. Es gibt Menschen, die in jedes Zimmer Spiegel hängen. Ich erstelle (wie Leporello, dessen Arie ich etwas über tausend Mal gehört habe – eine Reihe von Opern höre ich immer und immer wieder, Bücher les ich mehrheitlich einmal) Listen, Register, Verzeichnisse, in die ich mit einer gewissen Regelmäßigkeit blicke. Nicht nur solche mit literarischen Titeln, um die es in diesem Essay in erster Linie geht, der Fließtext ist gleichsam Beiwerk, nichts von Belang. Deshalb will ich diesen Text ›eigentlich‹ – wohl auch aus der monatelangen Unfähigkeit heraus, einigermaßen passende Worte zu finden – als Fragment mit nichts als Titeln und Zitaten belassen, wogegen Andreas Heidtmann allerdings entschieden – und vielleicht nicht zum Besten der Sache – Protest einlegt, obwohl ich mit einem Zitat Regers aus Thomas Bernhards Alte Meister, das ich am 16. November als Graphic Novel zur Kenntnis nehme, nachdem ich es vor vielen Jahren in der Originalausgabe gelesen und bis heute – wie fast alle Bücher Bernhards – in bester Erinnerung habe, kontere, dem doch ›eigentlich‹ nichts entgegenzusetzen ist:
Die höchste Lust haben wir ja an den Fragmenten, und wie grauenhaft ist uns das Ganze und ist uns im Grunde das fertige Vollkommene. Erst wenn wir das Glück haben, ein Ganzes, ein Fertiges, ja, ein Vollendetes zum Fragment zu machen, haben wir den Hoch-, ja, unter Umständen den Höchstgenuß daran. Wir halten das Ganze und das Vollkommene nicht aus.
Ich höre Heidtmann am anderen Ende der Leitung lachen, um gleich, à la Kraus, zu einer Gegentirade anzusetzen: Ja, aber … – ›Es geht rauf und runter‹ ist eine Floskel, die Fußballberichterstatter gern bei offenen, flotten Derbys verwenden, und einigermaßen so stelle man sich das vor, als Leipzig an einem Tag im Oktober gegen Sistig spielte.
Humus · Hilfe · Warnsignale
Die wirkliche Welt war immer
nur der Film, das Buch, das Bild
oder der einst berühmte Satz,
all das, was sich abgelagert hat und darauf wartete
wieder aufzutauchen.
Zvonko Makovic · lügen. warum nicht?
Mich interessiert also hier und heute mehr die Frage nach dem, welches Wort von dem innerhalb eines Jahres Gelesenen lebendig in welcher Form auch immer bleibt und welches sich irgendwo in graue Hirnzellen auf Nimmerwiedersehn fortschleicht. Von wegen Der Rest ist süße Amnesie, wie ich in Harald Hartungs Sonett Ein Doppelgänger als Antwort auf die Frage So wär dies Lesen nichts als Vorbereitung / aufs blanke Nichts? erfahre, mir die Augen reibe, die Verse noch einmal lese und feststelle, daß ich unbewußt ein Paragramm (herrlich die von Günter Vallaster herausgegebene Anthologie Paragramme, die ich September lesen werde) gebaut habe: ›Lesen‹ statt Leben. Wo wäre in diesen Tagen der Unterschied?
Jedenfalls machen sich in mir mulmige Gefühle breit, wenn ich Bücher, von denen ich sicher bin, sie mit zumindest einer gewissen Portion Lust und Laune gelesen zu haben, auf eine Art zu vergessen scheine, die es mir nicht mehr ermöglicht, Höhepunkte, spezifische Merkmale, Verlauf u.a. zu erinnern oder gar wiederzugeben. (Waren da etwa keinerlei tiefgreifend widerhakende Merkmale, die das Erinnern möglich machen? Bin ich Blendern auf den Leim gegangen? Der Maler malt das Vergessen, erinnere ich einen Vers Heiner Müllers.) Wie das wilde Kind Mowgli am Ende des Dschungelbuchs verschwinden sie in einem anderen Teil des Daseins, ohne sich wenigstens noch einmal umzudrehn und zum Abschied zu winken: Vergiß mich nicht … Einfach weg, bedauert Bär Balu – um Mowgli im nächsten Augenblick selbst schon zu vergessen, während er mit Panther Baghira fröhlich singend heimwärts stapft, der nächsten Dschungelpatrouille entgegen: Probier's mal mit Gemütlichkeit …
Dabei hält sich die bildhafte Vorstellung, daß die Lektüre jedes Wortes ihre Rolle im Zusammenhang des ganzen geistigen Humusbodens spielt, der durch Lesen gebildet wird. Kurz gesagt: Auch das, was ich als wenig/er geglückt empfinde, ist gut, kann es doch (beispielsweise in schwachen Momenten, wenn ich als Schreibender gleichsam Unterstützung, Hilfe, Warnsignale von außen benötige) als abschreckendes Beispiel dienen. – Am 28. Dezember fahre ich, viele Stunden lang, in Richard Doves weltweiträumiger Straßenbahn, Hiroshima und lese, im Polnotsch benannten fünften Abteil gelandet, Ossip Mandelstams Worte Alle Bücher, die guten wie die schlechten, sind Brüder.
Drei Wörtchen
Schließlich drängt es mich, an dieser Stelle noch einmal darauf zu verweisen, nicht davon auszugehen, daß die ohne weiteren Kommentar im Fließtext erfolgende Nennung im Titelverzeichnis unbedingt etwas mit der persönlichen Einschätzung des einen oder anderen Buches zu tun hat. Naturgemäß ist dies im Zusammenhang mit Büchern, die nicht so stark auf mich wirken, der Fall: Ich will in erster Linie gute Worte für gute Bücher finden, die Ezra Pounds Appell Make it new zumindest zu beherzigen suchen. (Daß wir in Zeiten der nur noch kleinen Verschiebungen, wie Ernst Jandl es ausdrückt, leben und schreiben, gilt es dabei naturgemäß mitzubedenken. Ein alter Hut: Es gibt nichts Neues mehr. Das ist das Neue.
Aber insbesondere manches gute, herausragende, mitreißende Buch – beispielsweise Ulrich Schlotmanns nachhallender hochmusikalischer Mammutbaumroman Die Freuden der Jagd (dem ich nun doch drei Wörtchen widme) – auf das ich mit keinem Wort eingehe, offenbart, was ich mit den Listen an sich als den primären – eigentlichen – Fingerzeigen dieses Essays erreichen will.
Es gibt eine andere Welt
Auch das eine oder andere 2011 gelesene Buch habe ich nullkommanix vergessen, und es darf nun unerkannt eine Rolle in tiefer gelegenen Gefilden spielen, an die das Bewußtsein kaum oder nicht heranzukommen scheint. Gleich das erste in diesem Essay verzeichnete Buch – die von Andreas Altmann und Axel Helbig besorgte Lyrikanthologie Es gibt eine andere Welt – habe ich allerdings genausowenig vergessen wie die Sammelbände, in deren Verbund sie hier bildlich steht. ( Zum Augenblicke / dürft ich sagen: / Verweile doch, / du bist so schön!, lese ich in diesem Augenblick im neben mir liegenden Wetzstein Gedichtekalender 2011.) Immerfort erlebe ich in diesem Buch mit Gedichten von lauter Autoren aus Sachsen diese genußvollen/tiefgehenden Lesemomente, die ich ob der geballten Kraft der Verse ins Unendliche gleichsam ausweiten möchte. Hin- und hergerissen bin ich zwischen dem Wunsch, weiterzulesen, weiterzulesen (warum zieht es mich immerzu nach vorne, weshalb blicke ich fortwährend zurück – wo bleibt der verweilende Augenblick?) und das soeben gelesene Gedicht ein zweites, ein drittes Mal zu lesen.
Waiting for Hübsch
In den ersten Januartagen warte ich weiter auf die überfällige Botschaft von Hadayatullah Hübsch, der mich für den 13. Februar zur 13. Frankfurter Wohnzimmerlesung eingeladen hat. (Gemeinsam mit Peter Oehler organisiert er diese von der Stadt Frankfurt subventionierte Lesereihe, und am 20. August wird die Lesung tatsächlich stattfinden, ein unvergeßlicher Abend in einem Frankfurter Kleingarten, an dem wir immer wieder auf Hadayatullah zu sprechen kommen werden, ein Abend, der einmal mehr zeigen wird, wie gern sich Menschen von Wörtern und Klängen bloß begeistern lassen – und gar nicht auf die Idee kommen, vom Gedicht auch inhaltlich Nachvollziehbares bzw. unmittelbar zu Verstehendes zu erwarten.) Statt einer Botschaft von Hadayatullah erhalte ich am 5. Januar eine E-Mail von Markus Peters: Hadayatullah Hübsch ist am 4. Januar gestorben. Wieder einer weniger, der in diesem Literaturbetrieb mit Individualität Akzente setzen konnte. Kurz darauf schreibt Axel Kutsch: Nach Thien Tran und Eva Strittmatter ist nun auch Hadayatullah Hübsch (Herzinfarkt laut Wikipedia) gestorben. Markus hat es uns ja vorhin mitgeteilt. Laß uns weitermachen! Gibt es eine ›andere‹ Welt? Der Sammelband In eine andere Welt, in dem der am 8. Januar 1946 in Chemnitz geborene Hübsch, dessen Werk und Wirkung vorläufig nicht in Vergessenheit geraten werden, natürlich vertreten ist, erschien offiziell am 1. Januar 2011, wurde aber schon im Dezember 2010 ausgeliefert. So ist dies wohl die letzte Veröffentlichung zu Lebzeiten dieses so lebendigen, einfühlsamen, immerfort schreibenden, publizierenden, korrespondierenden Menschen:
Berlin-Taxi (yesterday)
In diesem hellen Winter
Hingen schwarze Monde über der Stadt,
Wir setzten die Nacht unter Feuer,
Du tratst hinter mich wie eine
In fremde Länder gekleidete Frau,
Ich zerfurchte meine Stirn mit dem Saphir,
Den ich in einer Holzkiste neben dem
Kohleofen im Haus Waldfriede aufgestöbert
Hatte, dein Lächeln wurde hart,
Als ich versuchte, das Licht der
Gewaltsamen Liebe anzudrehen,
Dann zersplitterte mein inneres Auge,
Sterne fielen in den Wann-See,
Ich parkte meine Haut in einem billigen
Milchmädchenkaffee, die Zeitungen
Von Morgen rochen wie Maggie-Würfel,
Ich sah aus dem Spiegel wie ein Vampir,
Traurige Lieder flossen über
Die Kreuzungen der Schneestraßen,
Ich plünderte die Blumengeschäfte und
Schenkte verletzten, entsetzten
Verkäuferinnen mit gehetztem Blick meinen Paß.
Hadayatullah Hübsch
Weltreichhaltig · Qual der Wahl
Um das einzelne (geglückte) Buch kann es in einem Essay, der von Buch zu Buch heißt, vom Grundsatz her nicht gehen. Und so rückt der weltreichhaltige Sammelband aus Sachsen Es gibt eine andere Welt an dieser Stelle in den Mittelpunkt des Schreibgeschehens, weil er (Glücksfall: Die Ersten werden die Ersten sein) an erster Stelle der ersten Liste steht: Das doppelte A im Namen eines der Herausgeber – Andreas Altmann – hat's gerichtet. Es hieße ja, Autoren, Bücher, Verlage gegeneinander auszuspielen, wenn ich gerade über das eine (gute) Buch bewußt, zum Beispiel pro domo, etwas schriebe, über das andere, contra domo?, nicht. Nein, bereits im Januar leide ich unter der Qual der Wahl – dies oder das oder doch jenes Buch? Verfahren die Situation, naturgemäß in keiner Weise vergleichbar mit der in Ludwigs Lahers Roman Verfahren, der mich sehr, sehr heftig packt, so daß ich ihn gleich mehrfach verschenke. Wie ich zum Werk Werner Buchers, Elke Erbs, Arnold Stadlers stehe, ist hinlänglich bekannt. Auf Thomas Bernhard komme ich noch mehrfach zurück. Und André Schinkel schreibt in Apfel und Szepter bemerkenswerte Gedichte. Bensch lächelt, Kraus schüttelt, beinahe unmerklich, den Kopf, beide bedanken sich für das Buch, ich antworte mit dem Titel von Mathias Traxlers Gedichtbuch: You're welcome, und Mrs Columbo geht schnell mal in den Wald, sie weiß eh schon, was jetzt kommt.
Dichtung wird von allen gemacht
Denn wenn ich einen Gedanken immer und immer gern wiederhole, so ist es der, daß sich jeder Leser sein · Bild · mache. Was hülfe es, hier das eine Buch zu preisen, dort das andere verschweige, gar verdamme? Letzteres tue ich bei keinem der hier aufgelisteten Titel, auch wenn, fürwahr klar wahrnehmbar, eine von (sehr) schlicht bis schön Qualitätsbandbreite zu Buche steht und ich ein halbes Dutzend Bücher erst gar nicht zu Ende gelesen und mich beim einen oder anderen Buch ein wenig gelangweilt und die Lektüre im nachhinein als vergeudete Zeit (kann es so etwas geben?) empfunden habe: Vielleicht sind gerade das die Bücher, die Sie bevorzugt lesen. Mit Mrs Columbo mache ich diese Erfahrung immer wieder mal. Es geht also in erster Linie ums Ganze, wenn einzelne (gelungene) Bücher mit tatkräftiger Unterstützung dieses oder jenes ›Zufalls‹ in den Vordergrund gerückt werden, denn, wie Lautréamont es schlicht ausdrückt: Dichtung wird von allen gemacht.
Pohesie
Die Poesie ist weder Traum noch Wirklichkeit. Sie ist etwas anderes. Aber sie ähnelt beiden. So viel kann ich dir sagen: Ich bin in allen diesen Dingen, und alle diese Dinge sind in mir, die des Traumes, die der Wirklichkeit, was heißt das schon. [...] Ich weiß nie, worüber ich schreibe, aber wenn du genau hinschaust, wirst du sehen, daß ich immer über die gleichen Dinge anders schreibe. Du fragst, was denn wirklich wahr sei in dieser Dichtung? In der Dichtung (meiner Dichtung) ist alles wahr.
Gellu Naum
Und Theodor Fontane setzt noch eins drauf: Das Poetische hat immer recht, es wächst über das Historische hinaus. Wenn, ja, wenn im Januar ein Titel, ein einziger bloß, hervorzuheben wäre, weil es die Spielregeln vorschrieben, so würden spontane wie lange bedachte Entscheidung über das zu benennende Buch leicht und locker übereinstimmen: Pohesie, das ich am ersten Januartag zu Ende lese. In dem zwischen den Jahren 2010 und 2011 entstandenen Text Listen · Zahlen · Mut zur Lücke? Lyrikgedanken zwischen den Jahren heißt es: »Während ich an Weihnachten 2010 und den von so vielen Menschen als denkmerkwürdig empfundenen Tagen ›zwischen den Jahren‹ die von Oskar Pastior und Ernest Wichner aus dem Rumänischen übertragenen Gedichte Gellu Naums in dem weit über 800 Seiten starken, 2006 bei Urs Engeler Editor erschienenen Gedichtbuch Pohesie lese – Gleich hinter dem Pfosten beginnt das große Flimmern –, frage ich mich heute, am 31. Dezember 2010, wie ich bislang ohne diese mich so großherzig beschenkenden, b|e|r|a|u|s|c|h|e|n|d|e|n Gedichte habe leben können. Oder ist dies bislang eben gar kein ›richtiges‹ Leben gewesen? Kein richtiges ›Lesen‹? Weshalb ist dieses wuchtige und sich mit jedem Wort, mit jedem Vers gleichsam ins Unendliche dehnende, ja, urgewaltige Buch mir bislang nicht aufgefallen?«
Lyrik
- Andreas Altmann · Axel Helbig (Hg.) · Es gibt eine andere Welt
- Werner Bucher, Spazieren mit dem gelbgrünen Puma
- Elke Erb · Sonanz
- Gellu Naum · Pohesie
- André Schinkel · Apfel und Szepter
Prosa
- Thomas Bernhard · Aus Opposition gegen mich selbst. Ein Lesebuch
- Thomas Bernhard · Der Wahrheit auf der Spur. Reden, Leserbriefe, Interviews ...
- Christoph Danne · Rodion Ebbighausen (Hg.) · Grenzüberschreitungen
- Jayn-Ann Igel · Berliner Tatsachen
- Ludwig Laher · Verfahren
- Ferry Radax · Der Italiener. Nach einer Erzählung von Thomas Bernhard
- Arnold Stadler· Volubilis oder Meine Reisen ans Ende der Welt
- Joseph Zoderer · Die Farben der Grausamkeit
Zeitschrift
- Michael Arenz (Hg.) · Der Mongole wartet 21
Februar · Siegmanoth
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Dämonen
Ungeachtet aller etymologischen Deutungen
toben Dämonen durch meine Eingeweide und
meine Hirne glauben nicht an Jenseits
Götter oder auch nur halbe
Gärungsprozesse
Verwesung
Die älteste Interpretation des damals nicht Erklärbaren
ist die wahrscheinlichste
Ich altere gärend
Die Verwesung naht
Es tröstet wenig
daß im Paralleluniversum mein anderes Ich noch gutgelaunt
bei einem Konzert von Jimi Hendrix sitzt
Auch ohne Gott sind wir alle unsterblich genug
für eine kurze Zeit
Wolfgang Fienhold · 10. September 1950 – 19. Februar 2011
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NICHTS ist immerhin mehr als ›gar nichts‹
Anläßlich des 80. Geburtstags Thomas Bernhards veröffentliche ich im Februar im Poetenladen das Porträt Die Arbeit als Leidenschaft, die fortgesetzte Partitur als Leben · Hommage zum 80. Geburtstag von Thomas Bernhard (9. Februar 1931 – 12. Februar 1989) , das mit der Frage Und was wäre dem noch hinzuzufügen – – – außer: NICHTS endet. Nach der Lektüre der Graphic Novel Alte Meister, die ich, wie gesagt, am 16. November betrachtend lese, füge ich diese Fußnote ein, um das Porträt im Dezember in aktualisierter Fassung in der Literaturzeitschrift Matrix zu publizieren:
NICHTS ist immerhin mehr als ›gar nichts‹, und eine Fußnote muß noch drin sein anläßlich dieser von Nicolas Mahler so herrlich ins Bild gesetzten Romankomödie Alte Meister. Kein Liebhaber von Thomas Bernhard und/oder der Graphic Novel wird auf dieses Bilderbuch verzichten wollen, in dem der Comic-Künstler die in der Tiefenstruktur Bernhardscher Prosa so hinterfotzig wie offenkundig angelegte drollige · humorige · ironische · launige · schnurrige · spaßige · witzige Art des scheinbar bloß bzw. um der Unterhaltung der Leser/Zuhörer willen grantelnden Autors (es sind die Figuren, die granteln) hervorkitzelt und mit gespitztem Bleistift nicht enden wollende Übertreibungstiraden – Es gibt kein vollendetes Bild und es gibt kein vollendetes Buch und es gibt kein vollendetes Musikstück, sagte Reger, das ist die Wahrheit – gegen Kunst und Maler · Literatur und Schriftsteller · Musik und Musiker · Philosophie und Philosophen · Wien und Wiener »usw.« gleichsam (oder naturgemäß?) weiter in höchste Höhen treibt – indem er untertreibt. Wer alles liest, hat nichts begriffen, sagte er, lese ich in Alte Meister auf Seite 42. Dann weiß ich Bescheid, pflegt Dominik, ein Freund meines Sohnes Andreas, in solchen Momenten zu sagen. So weiß ich jetzt doppelt Bescheid, das ist die Wahrheit.
Zwei hellbeige Würmchen fragen: Ist alles in Ordnung? Bist du okay?
Liebt Ihr Buchstaben?
There is a story told of a Russian dancer, who was asked by someone what she meant by a certain dance. She answered with some exasperation, »If I could say it in so many words, do you think I should take the very great trouble of dancing it?«
Richard Hughes
Das Dezember-Kapitel ist übervoll gepackt, und im Februar steht bis eben bloß die Fußnote zu Thomas Bernhard. Also, heute, Leute, das morgen schon gestern sein wird, wie allgemein bekannt (Zwischenfrage: Was aber wird es sein, wenn diese Zeilen gelesen werden?), ist der 6. Dezember 2011, und ich lese im rauhen Büchlein Alsohäute, lache, lese Hölderloin, lache, lese Haartausend, lache, lese Herz ( daß ich nicht lache), lache, lese und lache ein H, ein H und noch ein H, so daß Mrs Columbo besorgt ins Wohnzimmer schaut und, neudeutsch, fragt, ob ich okay bzw. alles in Ordnung sei (Doppelzwischenfrage: Warum fragen der Sprache und Logik ansonsten einigermaßen mächtige Menschen in Film oder Buch, Supermarkt oder Zugabteil, Büro oder Wohnzimmer – usw. – immer dann, wenn etwas doch augenscheinlich nicht in Ordnung ist, ob alles in Ordnung sei – und warten, wie auch Mrs C., die schon wieder weg ist, nicht einmal die Antwort ab? Ist das etwa, nach über fünfzig Jahren Lesen/Leben, quasi aus dem Hüftschwung, die bei den Haaren herbeigezogene Lüftung des Geheimnisses der ›rhetorischen Frage‹, von der ich – damals, als Knabe – keine Ahnung habe), sage mir das halblaut vor, wage das kaum hier aufzunotieren, fange leicht an zu frieren, wische mir eine Träne, zum Glück keine Lauge, aus dem Auge (aus dem Sinn) und danke Konstantin Ames (dem Autor, der Akrostichon und Paragramm und Paronomasie – und was weiß ich denn überkopf – so kunstvoll verhunzt, der Mann versteht sein Mundwerk, hat's faustig Hintern Ohren) sowie Urs Engeler (dem Verleger, der seinem Namen alle Ehren macht, denn mir wachsen beim Lesen Flügel) für o diese fröhliche Stunde.
Chlorophyll Klorohrfüll« 6.10.2010
Der Herbst ist da Scheiße was soll das?
Ich verdächtige jeden, der
mir von Liebe redet der
Übertreibung hoffentlich
ungerechtfertigt.
Konstantin Ames · Alsohäute
Lyrik
- Michael Arenz · Noch nicht ganz aber fast
- Hugo Ball · Zinnoberzack, Zeter und Mordio
- Stefan Döring · morgestern
- Ulrike Almut Sandig · Dickicht
- Gerrit Wustmann · Beyoglu Blues
Prosa
- Hugo Ball · Zinnoberzack, Zeter und Mordio
- William Gaddis· The Recognitions
- Katharina Hartwell · Im Eisluftballon
- Jörg Kremers & Gerd Sonntag · Also bin ich
- Ulrich Schlotmann · Die Freuden der Jagd
Zeitschrift
- Julietta Fix (Hg.) · Mehr und weniger
März · Lenzinmanoth
»Er hat so ein gutes Herz gehabt« –
eine weitere Begegnung mit Thomas Bernhard
Wer einmal der Sprache Thomas Bernhards, diesem süchtig machenden Rauschmittel mit bewußtseins- und wahrnehmungsverändernder Wirkung, in dessen Büchern begegnet ist, wird sich deren Sogkraft niemals mehr entziehen können (und wollen), denke ich, während ich die Seiten von Auslöschung wieder einmal über den Daumen abrollen lasse und bildhaft klar die unauslöschliche Lektüre nicht bloß dieser in einem einzigen großen Schwall sich tief in mich hinein ergießenden Wörtermusik erinnere. In der Hommage zu Bernhards 80. Geburtstag Die Arbeit als Leidenschaft, die fortgesetzte Partitur als Leben singe ich ein Lied davon.
Als in ähnlicher Weise berauschende Droge empfinde ich den von Photograph und Filmemacher Sepp Dreissinger edierten Sammelband Was reden die Leute. 58 Begegnungen mit Thomas Bernhard, in dem Menschen zur Sprache kommen, die mit dem leibhaftigen Bernhard zu dessen Lebzeiten auf die eine oder andere Art in mehr oder weniger heftige Berührung kamen – Nachbarn, Verwandte, Schriftstellerkollegen, Menschen, mit denen er zusammenarbeitete: Peter Fabjan, Bruder · Gert Voss, Burgschauspieler · Johann Maxwald, Ohlsdorfer Nachbar · Ingrid Bülau, Hamburger Freundin · Raimund Fellinger, Suhrkamp-Lektor · Peter Hamm, Schriftsteller · Alfred Höller, Tierpräparator · Claus Peymann, Bernhard-Regisseur · Siegfried Hostnik, Bräunerhof-Chef.
Auch Hans Bender, der Bernhard mehrfach an verschiedenen Orten begegnete und ihn beispielsweise durch Veröffentlichungen in Akzente förderte, entdecke ich unter den Zeitgenossen, die Bernhard persönlich erlebten. Bender zeigt mir ein, wie er lächelnd betont, mit seinem Fotoapparat aufgenommenes Photo, das (den durchaus wohlwollend blickenden) Thomas Bernhard zusammen mit Elisabeth Borchers und Hans Bender in Regensburg im Jahre 1967 während der Tagung des Kulturkreises im BDI zeigt. Während meines Besuchs am 7. September 2011 (zuvor hatte ich mich vom sonnendurchstrahlten Richter-Fenster im Dom begeistern lassen) kommen, wie bei fast jedem Treffen in der Kölner Taubengasse, Rolf Dieter Brinkmann und eben Thomas Bernhard zur Sprache. Vierblättriges B-Blatt, denke ich, während ich diese Wörter hier niederschreibe, und laß das Wort einfach mal so stehn, mal sehn, was passiert.
Erneut wird durch Benders Erinnerungen deutlich, daß auch bei der Wiedergabe von angeblich tatsächlich Erlebtem – in Bernhards Meine Preise beispielsweise – Fakt und Fiktion auf die typisch Bernhardsche Art und Weise des maßlosen Übertreibens, Schimpfens, Verdrehens miteinander verschmelzen und so eine neue, andere – literarische – Wirklichkeit schaffen: Um ›Wahrheit‹ im (klein-)bürgerlichen Sinne ist es Thomas Bernhard (der mehr oder weniger ausschließlich als Künstlernatur lebte, dachte und agierte, gleichsam immer schrieb, auch wenn er nicht schrieb) nie gegangen, was auch durch diese Schilderung des 92jährigen Hans Bender überdeutlich wird:
Ich war neben meinen redaktionellen Tätigkeiten auch Berater und Juror im Literarischen Gremium des Kulturkreises im Bundesverband der Deutschen Industrie. Für das Jahr 1967 habe ich Thomas Bernhard und Elisabeth Borchers für die jährlichen Preise vorgeschlagen. Die Tagung war für Anfang Oktober festgesetzt, in Regensburg. Ein Vorgang, den ich gut in Erinnerung behalten habe. Bevor die anderen angereist waren, speiste ich zusammen mit Bernhard in einem Hotelrestaurant. Als wir die Suppe löffelten, hielt Bernhard inne, blickte hinauf zur Stuckdecke und begann zu schildern: Die Stücke der Stuckdecke werden herunterfallen in unsere Teller, die Suppe würde überschwappen, den Tisch, den Boden, den Raum, dir Stadt, die Welt ertränken! Ich wusste nicht recht, wie ich auf Bernhards überschwängliche Schilderung oder Vision reagieren sollte. Ich versuchte es, doch größer waren meine Zweifel, ob die Suppe diese Sintflut anrichten könnte. Er wollte wohl eine Szene mit mir spielen. Wollte mich überprüfen, wie ich reagierte. Hatte ich die Begabung, einzugehen auf seine Vision?
Durchweg sehr persönliche Berichte (aus denen auch manche Kränkung hervorbricht) und Wortschwalle (die Bernhard alle Ehre gemacht hätten) einhergehend mit vielsagenden Photographien machen – einschließlich des Vorworts von Manfred Mittermayer – dieses Buch zu einer tiefgehenden, unvergeßlichen Begegnung mit Thomas Bernhard und seinen ihn aus verschiedensten Blickwinkeln betrachtenden Zeitgenossen. Daß Thomas Bernhard sich gern in der Pose des Grantlers, des Beschimpfers, des Unzufriedenen zeigte, ist weithin bekannt. Wenn das Publikum keine Alpträume hat, ist ihm sofort langweilig, betonte er gern und beschwor mit voller künstlerischer Absicht Katastrophen aller Art, um der Lebenslangeweile entgegenzuwirken, ob auf der Bühne, zwischen Buchdeckeln, im Café oder am Mittagstisch mit Hans Bender.
Das Buch Was reden die Leute. 58 Begegnungen mit Thomas Bernhard zeigt aber auch den anderen Bernhard, den gleichsam guten Menschen von Ohlsdorf, den freundlichen, milden, hilfsbereiten, den Menschen eben, der, naturgemäß, das Wort Lebensmensch erfand: Er hat so ein gutes Herz gehabt, lese ich im Kapitel von Maria „Mitzi“ Holzinger, die Bernhard als Kellnerin im Brandlhof in Wolfsegg viele Jahre lang bediente, und: Thomas Bernhard hat mir das Buch „Auslöschung“ geschenkt mit einer Widmung, auf die ich sehr stolz bin: „Dem lieben und unentbehrlichen Fräulein Mitzi, mit meinen besten Wünschen. Thomas Bernhard.“
Was wäre dem noch hinzuzufügen?
Lyrik
- Rolf Dieter Brinkmann (Hg.) · Silverscreen
- Christoph Buchwald · Kathrin Schmidt (Hg.) · Jahrbuch der Lyrik 2011
- Rolf Hermann · Kurze Chronik einer Bruchlandung
- Jürgen Kross · unverwandt
- Marion Poschmann · Preußische Pyramiden
- Arnold Stadler (Hg.) · Tohuwabohu
- Achim Wagner · Flugschau
Essay
- Thomas Bernhard · Peter Hamm · »Sind Sie gern böse?«
- Sepp Dreissinger · Was reden die Leute. 58 Begegnungen mit Thomas Bernhard
Prosa
- Jürgen Becker · Schnee in den Ardennen
- Thomas Bernhard · Der Kulterer
- Ulrike Draesner · Richtig liegen
- Friederike Mayröcker · vom Umhalsen der Sperlingswand, oder 1 Schumannwahnsinn
- Ursula Priess · Mitte der Welt
- Walle Sayer · Zusammenkunft
- Arnold Stadler (Hg.) · Tohuwabohu
Zeitschrift
- Andreas Heidtmann (Hg.) · poet 10
- Karl E. Jirgens (Hg.) · Rampike Vol. 20 / No. 1
April · Ostarmanoth
Arbeit wie jede Arbeit
altes lied
gedichte erbitten beachtung
wie kinder spielen sie
im sprachwald
und werden nur von wenigen
so ernst genommen
wie ihre erwachsenen verwandten
die breitspurigen romane
Elfriede Gerstl
April macht, was er will – und ich weiterhin auch: Am schönen 28. September lese ich Elfriede Gerstls letztes Gedichtbuch Lebenszeichen · Gedichte · Träume · Denkkrümel, 2009 bei Droschl erschienen. Kurz und knapp geht's da meist ab: ärger als arg / kanns eh nicht werden und – nach strenger diät // organe gesund / ansonsten am hund.
Elfriede Jelinek beschließt das Nachwort mit Worten, die sie der 2009 verstorbenen Elfried Gerstl nachruft: Danke vielmals für alles, sagt Gert Jonke nach dem Tod seines Kindes, das als Säugling gestorben ist. Danke an ein Wesen, das noch kaum Bewußtsein von sich hatte. Danke von mir an ein Wesen, das alles Bewußtsein der Welt hatte, weil es Worte aneinandergereiht hat, als eine Arbeit wie jede Arbeit.
E-Mail-Gespräch mit Hagedorn · Ein Auszug
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Meine Antikritik
»Was machst du, wenn die Kritik dich kränkt?«
Meine Antikritik: ich bleibe heiter.
»Und wenn sie dich an den Galgen gehängt?«
Meine Antikritik: ich lebe weiter.
Oskar Blumenthal (1852–1917)
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TB Zum Glück geschieht es nur noch selten, daß mich ein Autor oder Verleger bittet, eine ›Rezension‹ zu einem gerade erschienenen Buch zu schreiben. Mehr und mehr scheint es sich herumzusprechen, daß ich kein Kritiker bin und sein will, ich will nicht kritisieren, kränken, lobhudeln, lamentieren, wie schlecht die Literatur ist, ach, ist die Literatur schlecht, mir wird schlecht, schlecht, schlecht, alles schlecht, von Buch zu Buch schlechter, sondern daß ich Leser bin, der gelegentlich ein paar Gedanken im Zusammenhang mit der einen oder anderen Lektüre innerhalb für ihn mehr oder weniger bemerkenswerter Lesenssituationen, im Grunde ganz für sich, formuliert. Und wenn ich Teile dieser Gedanken publik mache, geht es in erster Linie darum, auf ein Gedicht, einen Roman, einen Autor, ein Buch, eine Reihe, eine Edition, ein Magazin, einen Verlag aufmerksam zu machen in der guten Hoffnung, daß die eine oder andere Bestellung erfolgt.
MH Kunstbetrachtung ist nicht nur subjektiv, rezensieren bedeutet simplifizieren. Abgesehen von den seltenen und reichlich absurden Fällen, in denen ein Gemälde aus Einfaltspinselstrichen mit Hermeneuten-Akrobatik zum Meisterwerk veredelt wird, ist der Rezensent immer ein Reduktionist. Fahrlässigkeit ist sein Geschäft, anders kann er aus 200/300 Seiten Normlängenroman gar nicht 20/30 Zeilen Zeitungstext machen. Meist kann er nicht mal alle Hauptfiguren erwähnen, lässt wichtige Handlungsstränge einfach weg, verkürzt auf unzulässige Weise den Plot, entdeckt vielleicht nur einen Bruchteil der Anspielungen, von denen er kaum eine erwähnt, und spinnt von den vielen Leitmotiven der Erzählung nur einige wenige zum roten Faden der Besprechung.
TB Buchhändler haben mir berichtet, wie sehr sie an der Nadel der Bestenlisten und Besprechungen im Feuilleton hängen. Meine Wunschvorstellung, daß jeder Mensch lesen möge, was er will, wird dadurch mächtig torpediert. Aus verschiedenen Gründen habe ich kaum noch die Gelegenheit, an den Regalen der Buchhandlungen entlang zu flanieren, und wenn, dann ist es die einst von mir so geschätzte Buchhandlung im Kölner Hauptbahnhof, die mir jetzt als Beispiel dient. Vom einstigen Wohlgefühl im Taschenbuchkeller ist nichts mehr geblieben angesichts der Massenware, die mich hier und heute überfällt. Von den einst prall gefüllten Lyrik-Regalen, die viele Jahre lang für Überraschungen gut waren, ist sozusagen nichts geblieben, ein kümmerlicher Mainstream-Rest. In Heiner Müllers Gedicht »Ajax zum Beispiel« von 1994 heißt es schon: »In den Buchläden stapeln sich / Die Bestseller Literatur für Idioten / Denen das Fernsehn nicht genügt«.
MH Büchermachen geschieht in einem Konflikt zweier Wertesysteme. Der Neoliberalismus erreicht das Verlagswesen über die Werte der Kommunikationsbranche. Träger dieser Werte sind die großen Medienkonzerne, die in Presse und Digitalfernsehen enorm präsent sind, also in den Vermittlungsmedien, durch die bisher, vor allem durch die Presse, die potentiellen Leser von der Existenz der Bücher erfuhren. Doch diese Konzerne sind finanziell auch sehr stark im Vertrieb engagiert, also in den Netzwerken, die die physische Präsenz der Bücher in den Buchhandlungen oder Buchmärkten sicherstellen. Für einen Medienkonzern dient das Buch dazu, die vielen anderen Aktivitäten des Unternehmens mit einem Inhalt zu versehen: Presse, Filmstudio, Fernseh- oder Radiosendungen, sogar den Vorzugsverkauf in den hauseigenen Buchhandlungen. Alle Medienkonzerne werden strukturiert durch die Norm des Gegenwartkultes, des unmittelbaren Umsetzens von Themen und Produkten, des schnellstmöglichen Auszahlens der Investition. Ihre Zeitschriften konzentrieren sich daher auf die Bestseller, die sich sehr schnell verkaufen sollen und der großen Homogenität der Vertriebssysteme angepaßt sind, die wiederum eher dazu da sind, die Verkaufszahlen der Bestseller in die Höhe zu treiben, als dazu, die breite und anhaltende Präsenz von anspruchsvollen Büchern zu gewährleisten. Das Buch ist immer eine Handelsware gewesen, die hergestellt, verkauft, getauscht wird. Daß Lyrik aus Sicht der Buchhändler gleichsam eine Randsportart ist, die Platz, also Verkaufsfläche wegnimmt, ist nur allzu schlüssig.
TB Matthias, mir rauscht der Kopf, »Der Worte sind genug verwechselt« (Andreas Reimann), soll trotzdem jeder weiter lesen, was er will und zusehen, daß er findet, was er sucht, ich stelle jedenfalls jetzt die »Randsportart« für eine halbe Stunde in den Mittelpunkt des Daseins und gehe, du siehst, ich lebe weiter, also erst einmal – mit Brigitte Struzyk – den
Abendweg
Geriffelte Reihen aus brauner Erde
schwingen den Hang mich hinab
den flimmernden Stoppeln entgegen.
Die Sonnenquitte rollt über den Rücken
in den Acker hinein.
Pflugschare zieht der Traktor, zuckelt
Über Motorengeheul.
Fern glitzert die Autobahn.
Sommerstaub rockt in den Mückenwolken,
lässt Steinchen der Straßenhaut springen,
Dampf neben Nebel. Das gelbweiße Band
wilder Kamille
schäumt die Leitplanke hoch
vom Acker zum Straßenrand.
Im Graben flattert Verpackung.
Ich liebe es
Schwarz auf weiß.
Brigitte Struzyk · alles offen
Lyrik
- Ulrike Bail · wundklee streut aus
- Karl Corino · In Bebons Tal
- Marion Poschmann · Erinnerungen an was
- Jan Volker Röhnert · Notes from Sofia
- Rainer Wedler · Unter der Hitze des Ziegeldachs
Prosa
- Jonathan Franzen · Freedom
- Elizabeth George · Careless in Red
- Jan Volker Röhnert · Notes from Sofia
Zeitschrift
- Traian Pop (Hg.) · Matrix 23
Mai · Winnemanoth
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Dublin in Bloomtime
Diese wilden Gesichter
über dem still liegenden Fluß.
Nun verschwindet die Meute
mit dem geklauten Hut.
Dümpelnd zum Meer
bewegen sich grüne Flaschen hin.
Nachts mit gelb gewordenen Photos
kommt die Zeit mit Bloom.
Jürgen Becker
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No battle is ever won
Jeder lese also was, wann und wie er will. Wer in erster Linie aus Gründen der Zerstreuung liest, der liest aus Gründen der Zerstreuung und wird seine Gründe dafür haben. Oder auch nicht. Warum nicht ›einfach so‹ lesen? Einfach so. Einmal einfach so lesen, einfach so leben. Für wen das Buch Zuflucht bedeutet, für den bedeutet es Zuflucht. Ich erlebe Lesen, meine Art des Buchstabierens der Welt, als notwendige Form des Daseins und lese Dein Kerker bist du selbst // Die Welt, die hält dich nicht, du selber bist die Welt, / Die dich in dir mit dir so stark gefangen hält. (Angelus Silesius) Ich empfinde Lesen als schönste vorstellbare Arbeit, auch als Kampf, zermürbenden lebenslänglichen Kampf – um was?, lese in William Faulkners The Sound and the Fury … no battle is ever won … not even fought … the field only reveals to man his own folly and despair … and victory is an illusion of philosophers and fools, nie als Zerstreuung, aber (auch) als Zuflucht. 1959 hatte ich auf dem Speicher ein in Spinnweben eingehülltes winzigkleines Köfferchen mit sehr alten Büchern entdeckt, ich danke noch heute der Mutter, die mich als Dreijährigen mit an diesen abenteuerlichen Ort noch oberhalb der Schlafräume genommen hatte und mich gewähren ließ, als ich das Köfferchen nicht mehr aus der Hand gab – übrigens jahrelang nicht, fast vier Jahre lang (bis es vom Schulranzen abgelöst wurde und ich plötzlich von der gewohnten linken zur rechten Schreibhand zu wechseln hatte): Ich hatte eine Welt gefunden. (Der Koffer ist längst verschwunden.) Ich beneide den Menschen, der gern Müßiggänger ist. Diese Lebensform wünsche ich mir bisweilen. Ich tue zum einen nichts lieber als arbeiten, und wenn ich nicht arbeiten kann, dann gnade mir Gott.
Ein Tag!! Zwei Tage!
Trotzdem stelle ich mir gern vor, müßig zu gehen und dabei zufrieden zu sein. Bin ich aber nicht. Tief in die Seele greifenden Streß erlebe ich, wenn ich nicht in der Lage bin zu arbeiten. Seit 2007 ermüden mich solche Phasen oft über Wochen, im Sommer über Monate. August, September, Oktober und November sind zu den verläßlichsten Monaten geworden, der Rest ist Glücksache, abhängig auch vom Wetter: Denn ebenfalls seit 2007 bin ich zum Rainman mutiert, so daß der nasse Sommer 2011 nicht der schlechteste für mich gewesen ist. Wenn ich ein, zwei Tage nicht schreiben kann, bin ich verzweifelt und fürchte, es ist aus, schreibt Friederike Mayröcker. Ein Tag!! Zwei Tage! Ach, könnte ich doch immer mal zwei Tage bloß nicht schreiben. Das wäre der Himmel auf Erden. Zwei Tage. Herrlich. Aber wenn ich ein, zwei Tage nicht lesen kann, bin ich verzweifelt und fürchte, es ist aus. In den letzten Jahren fürchte ich immer wieder, es sei – aus. Irgendwie geht es immer weiter.
… and his heart was going like mad and yes I said yes I will Yes
In der Zeit werden nur die Dinge bestehen,
die nicht von der Zeit sind.
Jorge Luis Borges
Meine Zeit mit (good old) Bloom, der 1922 in Paris (Auflage: 1.000) das Licht der Welt erblickt, beginnt am 16. Juni 1978 mit der bei Penguin erschienenen Taschenbuchausgabe von Ulysses. Wie oft habe ich den ersten Satz gelesen: Stately, plump Buck Mulligan came from the stairhead, bearing a bowl of lather on which a mirror and a razor lay crossed. (Hunderte Mal.) Wie oft den ersten Absatz, die erste Seite, das erste Kapitel? Bis April 2011 komme ich nie über die ersten 100 Seiten hinaus.
ALLES HAT SEINE ZEIT ist ein für mich wesentlicher Kernsatz in den letzten Jahren geworden, und auch dieser Satz ist ›natürlich‹, wie so viele Wörter und Sätze, ursprünglich nicht von mir, sondern im vorliegenden Falle aus dem Buch der Prediger (3, 1–11):
Alles hat seine Zeit und jegliches Vornehmen unter dem Himmel seine Stunde. Geborenwerden hat seine Zeit, und Sterben hat seine Zeit; Pflanzen hat seine Zeit, und Gepflanztes ausreißen hat seine Zeit. Töten hat seine Zeit, und Heilen hat seine Zeit; Zerstören hat seine Zeit, und Bauen hat seine Zeit. Weinen hat seine Zeit, und Lachen hat seine Zeit; Klagen hat seine Zeit, und Tanzen hat seine Zeit. Steine schleudern hat seine Zeit, und Steine sammeln hat seine Zeit; Umarmen hat seine Zeit, und sich der Umarmung enthalten hat auch seine Zeit. Suchen hat seine Zeit, und Verlieren hat seine Zeit; Aufbewahren hat seine Zeit, und Wegwerfen hat seine Zeit. Zerreißen hat seine Zeit, und Flicken hat seine Zeit; Schweigen hat seine Zeit, und Reden hat seine Zeit. Lieben hat seine Zeit, und Hassen hat seine Zeit; Krieg hat seine Zeit, und Friede hat seine Zeit. Was hat nun der, welcher solches tut, für einen Gewinn bei dem, womit er sich abmüht? Ich habe die Plage gesehen, welche Gott den Menschenkindern gegeben hat, sich damit abzuplagen. Er hat alles schön gemacht zu seiner Zeit, auch die Ewigkeit hat er in ihr Herz gelegt, da sonst der Mensch das Werk, welches Gott getan hat, nicht von Anfang bis zu Ende herausfinden könnte.
In der Sistiger Wolfskaul hat Ulysses also seine große Zeit im Jahr 2011 · als ich mir Mitte Mai den lebenslangen Wunsch erfülle · das Buch – in der frisch für diesen neuerlichen Anlauf besorgten · in rotes Leinen gehüllten Ausgabe des New Yorker Alfred A. Knopf Verlags von 1997 (die auf der zweiten, korrigierten und neu gesetzten Ausgabe von 1961 beruht) – zu lesen · ohne die Lesereise vorzeitig zu beenden · ich spüre es diesmal vom ersten Satz an: Alles hat seine Zeit · und die Zeit ist offenbar reif für Ulysses · und ich lese das Buch · my words in her mind: cold polished stones sinking through a quagmire · und ich schwimme – buchstabierend ( O! O!) / – durch Silben ( Aum! Hek! Wal! Ak! Lub! Mor! Ma!) · Wörter · Sätze · Bilder · Farben · Gesänge · Stimmen · Klänge · Geräusche ( clapclopclap · Kraaandl · Rrrpr) · Gedanken · Ideen »usw.« · poetry, even when apparently most fantastic, is always a revolt against artifice, a revolt, in a sense, against actuality – weit hinaus über ersten Satz · ersten Abschnitt · erste Seite · no pen, no ink, no table, no room, no time, no quiet, no inclination · TELEMACHIA · Telemachus · Nestor · Proteus · ODYSSEE · Calypso · Lotuseaters · Hades · Aeolus · Lestrygonians · Scylla and Charybdis · Wandering Rocks · Sirens · Cyclops · Nausicaa · Oxen of the Sun · Circe · NOSTOS · Eumaeus · Ithaca · Penelope · I fear those big words which make us so unhappy · bis ich · nach zehn sich zu wunder|baren Jahren aufblähenden Tagen · hundert und mehr Stunden lang · die Lebensreise des mit Molly verheirateten Anzeigenakquisiteurs Leopold Bloom und des ledigen Lehrers Stephen Daedalus · am 16. Juni 1904 in Dublin · in allen vorstellbaren alltäglichen Nuancen · mit immer wieder wunderbar ›unerhörten‹ Momenten · erlebend (sehend · hörend · riechend · spürend · schmeckend) · the demand that I make of my reader is that he should devote his whole life to reading my works · in diesem unendliche sprachliche Abgründe · Bodenlosigkeiten · Krater · Schlünde auslotenden · unerschöpflichsten aller Wortmeere · I've put in so many enigmas and puzzles that it will keep the professors busy for centuries arguing over what I meant, and that's the only way of insuring one's immortality · den letzten Satz · das letzte Wort dieses 1078 Seiten langen Gedichts · Gedichts · Gedichts zu fassen kriege: and then I asked him with my eyes to ask again yes and then he asked me would I yes to say yes my mountain flower and first I put my arm around him yes and drew him down to me so he could feel my breasts all perfume yes and his heart was going like mad and yes I said yes I will
Alltäglich · Normal · Wahnsinnig
Welches Buch lese ich im Anschluß an Ulysses? Michael Köhlmeiers ebenfalls sehr umfangreicher Roman Abendland (ein fabelhaftes Buch, wie ich Anfang Juni feststellen werde) liegt griffbereit, doch das Schicksal will es anders. Postbote Guido bringt Peter Klusens kurzen, knackigen Roman Der lächerliche Ernst des Lebens. Kommt gerade recht, denke ich, und lese noch während des späten Frühstücks los. Als Vielleser vergesse ich als mittelmäßig Empfundenes schnell. Aber Bücher müssen keine sogenannte Weltliteratur sein, um sie in Erinnerung zu behalten (schreibe ich am 1. Dezember). Eine Eifeler Kartoffelsuppe wird ja auch nicht unbedingt in 5-Sterne-Restaurants gereicht, und doch ist sie mir lieber als vieles hoch Gelobte, das ich auf dem Teller mit der Lupe suchen gehe. Der Roman Der lächerliche Ernst des Lebens, in dem die ganz alltäglichen, also normalen, also wahnsinnigen Schicksalsschläge der alten und jungen Bewohner eines Mietshauses im Mönchengladbach der 1950er Jahre erzählt werden, hat diese wesentliche Unverwechselbarkeit, ich nenne sie einfach: Peter-Klusen-Ton, und der klingt nach. Dem Autor schreibe ich nach der Lektüre in einer E-Mail: »Zwischen den Schwarten Ulysses und Abendland habe ich am Dienstag die Geschichte vom lächerlichen Ernst mit viel Lust, Vergnügen und einer Träne im Knopfloch gelesen. Daß es mit Ernst sowie den Richards und Krügers jeweils ein solches Ende nehmen muß! Wie würde Theo Lingen schnarren: Traurig, traurig, traurig! Ein gelungenes Buch, das ich froh bin, gelesen zu haben. Jetzt weiß ich endlich, aus welchem Humus der VfL Borussia (dem Matthias Hagedorn wie jeck anhängt) erwachsen ist. Vielen Dank noch einmal dafür!« Postwendend der Konter Klusens – mit einem weiteren Zitat von Lingen: Wie der Ball auch kommt, wie der Schuß auch fällt, der Theodor, der Held, der hält!
Lyrik
- Hans-Ulrich Prautzsch (Hg.) · Almanach Fontane 1998
- Hans-Ulrich Prautzsch (Hg.) · Almanach Goethe 1999
- Julia Sander · Der Fernseher blinkt in Blitzblau Augengeflatter
- Karl-Heinz Schreiber · Das Wundern der Romantizierer generiert altmodische Beulen
- Asmus Trautsch · Treibbojen
Prosa
- James Joyce · Ulysses
- Peter Klusen · Der lächerliche Ernst des Lebens
Zum 2. Teil
Zum 3. Teil
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Theo Breuer
Lyrik
Gespräch
Porträt
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