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Theo Breuer

Von Buch zu Buch
Von Theo Breuer

Lesezeiten 2011         Teil 1    2    3 
     



Vorab

Nichts / von Belang
Jürgen Becker


Der dicke Mann im Spiegel

Von einem Menschen, der sich zwanzig Jahre lang in der Wüste aufgehal­ten und nichts gelesen hat, der nichts weiß, bloß meditiert hat oder auch nicht usw., könnte ich bestimmt einige Wahrheiten erfahren, die ich als meine eigenen anzusehen bereit wäre ... Eben-so könnte ich die gleichen Wahrheiten von einem Menschen an-nehmen, der sich zwanzig Jahre lang unter Büchern vergraben und nichts getan hat, als zu studieren und wieder zu studieren ...

Gellu Naum


Von Buch zu Buch · Lesezeiten 2011 ist ein Lesetagebuch, das ich, dem spon­tanen Entschluß folgend, erstmals ein Jahr lang die Titel aller gelesenen Bücher und Zeit­schriften (unab­hängig vom Erschei­nungs­jahr) anhand von Auf­stel­lungen zu erfas­sen, am 1. Januar um 10 Uhr 21 beginne und am 31. Dezem­ber um 11 Uhr 20 beende. Von Buch zu Buch ist dabei kein Lese­tage­buch im Sinne, daß ich Fließ­text und Zitate eben­falls chrono­logisch verfasse bzw. notiere. Die Zitate werden im Verlauf des Jahres, gezündet durch die jeweilige Lektüre, in konvenable Kontexte eingefügt, und diese einlei­ten­den Worte, bei­spiels­weise, schreibe ich am 16. November zwischen 20 Uhr 11 und 21 Uhr 10, nach­dem ich tags­über einen Teil der im Laufe der Jahre seit 1987 gesam­mel­ten Lite­ratur­zeit­schriften in eine für mich einfacher zu über­schauende Ord­nung ge­bracht, im von Shafiq Naz heraus­gege­benen Lyrik­kalender Franz Werfels Gedicht Der dicke Mann im Spiegel gelesen, an dem am Vortag begon­nenen Gedicht das ruhige wort · muschel gear­beitet, die Graphic Novel Alte Meister gele­sen sowie mehrere in den Jahren 2007 bis 2010 im Lyrik Kabinett München erschie­nene Hefte und Bücher von Harald Hartung, Christoph Meckel, Arthur Reich und SAID, Axel Sanjosé und Uljana Wolf in die ent­spre­chende Novem­ber- bzw. 2011-Liste einge­tragen habe.


Sie saßen einfach da / und grinsten

anders

es muss nicht alles münden in ein gedicht
und enden im gedicht es muss alles vergehn
weiss die luft vögel schrill und aufgekratzt
als ob sie sich gleich paarten auf dünnen ästen
glitzernd vom frost ein paar stunden schon
nicht mehr nacht und vor den fenstern blüht was
und die milane sähen im fremden land anders aus
auch ich und unter mir die stark verzierte erde

Nathalie Schmid · Brennpunkte


Es wird also munter drunter- und drüber­gehen in diesem nur scheinbar so über­sicht­lich in zwölf Kapitel einge­teilten Essay: Im Januar (keltisch: Hartmanoth) und Februar (Sieg­manoth) schreibe ich vielleicht über Bücher, die ich im Oktober oder November lese, im März plötzlich über Bücher, die ich im März lese. So weise ich an dieser Stelle frech auf den Band da kapo mit CS-Gas hin, in dem ich kaltherzblütig aufnotierte (montierte) Gedichte von Kai Pohl und Clemens Schittko lese, von denen ich mich am 5. Dezember zwischen 16 und 17 Uhr frei und willig in die Zange nehmen lasse. Der gemein­schaft­liche Band ist 2011 im Hamburger FIXPOETRY.Verlag erschienen – wie auch die Anthologie Brennpunkte mit Gedichten von sechs Autorinnen aus der Schweiz sowie Brigitte Struzyks alles offen – – – von wegen »alles offen«: Im Gedicht Verkehrt heißt es im ersten Vers Verflogen kam der Vogel an und später, hier klopft wohl Christa Wolf (1929–2011) an die Tür, Kein Ort hier, nirgends offen.
Nein, Chrono­logie ist nicht die ausrichtende Schnur, nach der ich suche. In meinem Kopf purzelt schließ­lich auch ewig und immer jedes und alles durch­einander, stellen sich unangekündigt Bilder und Wörter aus Kindertagen ein, drängt sich der Gedanke an die Lektüre eines Gedichts mitten in den delikat formulierten Satz eines Romans. Ist das nun traumartig oder traumatisch? Egal. Ich bin Bricoleur, hocke hier, kann nicht anders. So still ist es zumeist – bei aller in Ohren klingenden Musik – in diesem Haus, as if all the days were double-glazed against themselves (Mark Tredinnick), und doch ist ständig jemand zu

Besuch

Es war einer jener Tage,
an denen man
keine schönen Gedichte
verträgt.

Als ich nach Hause kam
zu meiner Schreibmaschine,
warteten sie schon: Bukowski,
Brinkmann, Günther und O'Hara.

Sie saßen einfach da
und grinsten, und ich
ging in den Keller
und holte Bier.

Maximilian Zander · Der Mongole wartet 22




Nanu …

So proste auch ich den Autoren zu (auch denen mit schönen Gedichten) und genehmige mir weiterhin so manche Wörter­pulle. Der eine hängt an der Flasche, der andere hängt am Buch, säuft Sätze · Verse · Gedichte · Geschichten, als wäre er am Verdursten. Bensch meint immer mal, diese Lese­manie komme ihm absurd · bizarr · chaotisch · drollig · extra­vagant · fremd­artig · gril­len­haft · hirnver­brannt · irregulär · jeck · kapriziös · lachhaft · merkwürdig · neuro­tisch · öde · possierlich · quer- und rap­pel­köpfig · sonderbar · töricht · unnormal · verschroben · widersinnig · zwecklos vor, dieses immer­währende Buch in der Hand.
Geht's noch? frage ich turnus­mäßig zurück, weil ich weiß, daß ihn neudeutsche Formu­lierungen auf die Palme bringen, und lese einfach weiter, natürlich rumort es zunächst noch in mir, ersetze ich Manie mit Bedürfnis, denke: Wörter · Sprache · Narretei. Kraus hält sich in solchen Momenten zum Glück auch mal raus. Klartext redet er meistens nur, wenn Bensch nicht dabei ist. (Und ich denke, mit Meckel, die Kerle haben etwas an sich.) Dabei finde ich das eine oder andere Adjektiv durchaus treffend, vor allem das letzte, wenn ich aus ›zweck­los‹ das weniger pejorativ klin­gende ›zweckfrei‹ machen darf. »Paßt scho«, pflichtet mir immerhin der bayerische Nachbar Christian bei, der zwar keine Bücher liest, »keine Zeit, keine Zeit«, sich über ein Exemplar von Kiesel & Kastanie zum 50. Geburtstag, das ich ihm an einem Samstag­morgen, ein paar Tage vor dem Geburts­tag, den er in der Heimat feiert, spontan in die Hand drücke, trotzdem riesig freut und mich, kein Scherz, mit Tränen in den Augen, – ebenfalls neudeutsch – heftig­kräftig umarmt. (Andreas Noga weiß, wie sehr ich das liebe.)
Und in dem der wundertütenvollen Bücher­sendung (ich entdecke u.a. den von Matthias Hagedorn mit Bildern, Erzäh­lungen, Essays und Gedichten vorzüg­lich edierten, essayis­tisch grundierten Sammel­band Rheintor Linz – Anno Domini 2011 sowie Haimo Hieronymus' spritzigen Erzähl­band Die Angst perfekter Schwieger­söhne – beide Bücher zusätz­lich angereichert mit einem origi­nalen Hieronymus-Holz­schnitt) bei­liegenden Brief Hagedorns vom 2. Dezember (wir verwöh­nen einander gern, korres­pondieren regel­mäßig elektro­nisch und per Schnecken­post) lese ich: Jede interes­sante Kunst muß sich ihr Publikum selbst schaffen. Kunst ist kein Produkt, das für einen Markt erzeugt wird. Kunst entzieht sich jeder unmittel­baren Verwert­barkeit, sie pfeift auf die McKinseyie­rung unserer Gesell­schaft, und gerade daraus erwächst ihr Wert.


Buchlawinen

Nach einigem Hin- und Herdenken zu Beginn des Jahres entscheide ich mich schließlich dafür, in die monatlichen – in LYRIK · ESSAY · PROSA · ZEITSCHRIFT unterteilten – Verzeichnisse ausschließlich Autor und Titel des jeweiligen Buches einzutragen. Ist doch wurscht, wann und wo Bücher erscheinen, oder anders gesagt: ist gar nicht wurscht – Erscheinungsjahr oder Verlagsnamen wird immer wieder eine ›Bedeutung‹ beigemessen, die mit ›Aktualität‹ und ›Qualität‹ des Buches nicht unbedingt immer in Einklang zu bringen ist. Bis wir einander begegneten, las Bensch, beispielsweise, ausschließlich Bücher aus den Programmen bekannter Verlage (was auch sonst, vom ›Kleinverlag‹ hatten er und sein Buchhändler nie gehört), las Kraus »grundsätzlich« keine Bücher des aktuellen Jahrgangs (soso). Das den Essay abschließende Katalogkapitel archiviert die 2011 erschienenen Lyrik-, Essay, Prosa- und Zeitschriften-Titel einschließlich der üblichen bibliographischen Angaben und macht auf diese Weise auch die Weite des deutschsprachigen Verlagsraums mit den unzähligen Falten und Nischen sichtbar.


Kopfüber · Listen mit Eigensinn

Im innersten Kern ist die Literatur kein Fachgebiet, wo man sich auskennen kann, sondern ein Abenteuer, in das man sich immer wieder kopfüber stürzt, ohne zu wissen, wie es ausgeht, zitiert Herausgeberin Julietta Fix den mir aus der Seele spre­chen­den Burkhard Spinnen in der farbenfrohen, klangreichen Anthologie Ein Bild von einem Gedicht. Mit diesem Essay wende ich mich erneut an Menschen, die nach einer etwas anderen – gleich­sam aben­teuer­lich grun­dierten – Art von ›Übersicht‹, ›Überblick‹ oder, ganz einfach, lite­rari­schen Hinweisen und Tips suchen, insgeheim hoffend und wünschend, daß die in erster Linie für private Zwecke erstellten, erste Geige im Struktur­ensemble dieses Essays spielenden, für sich sprechenden, sich nicht nach allgemein aner­kannter ›Aktua­lität‹, Popu­larität oder durch verliehene Preise in die Höhe geschos­senen Verkaufs­zahlen rich­tenden, von hinter­ländischem Eigensinn geprägten Auf­stel­lungen auch diesmal so erfreulich und/oder nütz­lich sein mögen, wie ich das aus Rück­meldungen zu den Essays der ver­gangenen Jahre, die mich gelegent­lich über die Mail­funktion des Poeten­ladens erreichen, erfahren habe, und auf die ich im übrigen ungefähr so antworte: Es geht in der Literatur nicht um Überblick. Was ist überhaupt – ›Überblick‹? Hat jemand den Über|blick? Ich habe, vielleicht, k(l)einen Überblick. Ich will keinen anderen Überblick.


Der Blick ins Buch reicht hin

Eher schon will ich den fortgesetzten Augenblick des Lesens, um zwischen Buch­deckeln gute Wörter auf­zufinden, die Räume sichtbar machen, Lebens­weg be­leuch­ten, aus einer Ver­fassung heraus geschrie­ben sind, wie Ezra Pound sie fordert: The artist is always beginning. Any work of art which is not a beginning, an invention, a discovery is of little worth. The very name Trouba­dour means a ›finder‹, one who discovers. Oder wird der seit Kindertagen eingewurzelte Lesetrieb ohne wenn und aber von jener merkwürdigen, numinosen, wortstarken Macht diktiert, sehe ich mich doch, wenn ich mich sehe, in der Perspektive des Zwergs, der allezeit von den wie eine einzige, gleichsam unend­lich wirkenden Buch­lawinen, die sich Stunde für Stunde, Tag für Tag, Woche für Woche, Monat für Monat, Jahr für Jahr – so zahlreich die guten Bücher, die ich nicht gelesen / sie vermehren sich von Tag zu Tag (Asher Reich) – von den Verlagsberghängen ablösen und zum Lesertal gleiten oder stürzen, überrollt zu werden droht.
Vielleicht aber zeigen die Auf­listungen gerade wegen des persön­lichen Charakters und eingedenk der Unüber­schau­barkeit der alljährlich auf die Leser nieder­pras­selnden Einzel­titel, Sammel­bände, Zeit­schriften und Hörbücher, wie es im Hinblick auf diesen oder jenen Umstand um das Phänomen der Lite­ratur und des Lite­ratur­betriebs nach 2000 aus der Sicht des einen Lesers bestellt ist und wie der andere Leser damit umgeht – oder nicht.


Das Experiment

Ungewißheit

In dieser hellen Finsternis,
auf welcher wir auf Erden stecken,
wird ein Vernünftiger gar leicht entdecken,
daß alles Wissen ungewiß.
Die Ungewißheit geht sogar so weit,
daß man,
mit Recht und Zuverläßigkeit,
daß alles ungewiß, gewiß kaum sagen kann.

Barthold Hinrich Brockes (1680-1747)


Wenn von ›experimenteller‹ Lyrik die Rede ist, denke ich gern, daß nicht nur alle je verfaßten Gedichte Experimente mit ungewissem Ausgang sind, sondern die gesamte Existenz vom Tag der Zeugung bis zum Tag des Todes überwältigenden Versuchscharakter hat: Schaun mer mal, meint der Kaiser zurecht, denn wir wissen nicht, was wir tun – und fliegen, naturgemäß, immer wieder auf die Schnauze »usw.«
Insofern ist Von Buch zu Buch · Lesezeiten 2011 ebenfalls Experiment (zumal, wenn ich mich bewußt der Textart ›Essay‹ bediene: eassai (frz.) – Probe · Test · Versuch). Einmal und nie wieder mache ich das so und nicht anders, und während des ganzen Jahres – und zunehmend gegen dessen Ende hin – wage ich es immer wieder, aus verschie­denen Gründen zu bezweifeln, ob es über die Titel­verzeich­nisse und bereits eingefügten Zitate hinaus überhaupt zur Nieder­schrift des Ganzen kommen kann · muß · soll · wird. Wenn nicht, denke ich in jenen Augen­blicken unisono, ist das auch nicht weiter schrecklich (das Leben sei halb so schlimm, meinte einst Charles Chaplin, und wie das Becken­bauersche Diktum gehört auch diese Sentenz zu dem Dutzend schlichter Weis­heiten, die ich turnusmäßig einsetze, um mich in diesem oder jenem Moment der Unruhe zu beschwich­tigen und zu beruhigen).


Zufall · nämlich die Hummel am morgen


Dann wird es still. Sogar der Regen geht leiser
über der Steine ruhig dunkelnden Glanz.
Alle Geräusche ducken sich ganz
in die glänzenden Knospen der Reiser.

Rainer Maria Rilke


Daß ich hier und jetzt diese Wörter schreibe, ist das immer wieder als verrückt und überraschend empfundene Phänomen, das ich stets als kleines alltäg­liches Wunder erlebe, wenn der Schreib­prozeß in Gang kommt und gar zu einem Flow wird wie seit dem 28. November mit Von Buch zu Buch (auspacken · blättern · lesen · schrei­ben · kor­respon­die­ren · lesen · son­dieren · recher­chieren · schrei­ben · lesen · bestellen · abwar­ten · Tee trinken · schreiben · antworten · fragen · sortieren · exzerpieren · schreiben · biblio­gra­phieren · schrei­ben · über­denken · lesen · kopie­ren · ein­fügen · lesen · lesen · schrei­ben · über­arbeiten · markieren (nicht alles!) · löschen · schreiben · speichern · lesen »usw.«) oder – kleiner Flow! – vor ein paar Wochen, als der eine oder andere Zufall möglich macht, eingangs erwähntes Gedicht zu schreiben, dessen Exis­tenz sich u.a. einem Gedichts von Friederike Mayröcker, in dem ich die Wortfolge nämlich die Hummel am Morgen lese, sowie der Lektüre von Ulrich Ziegers mich mehr als mächtig ergrei­fenden Gedichtbuchs Aufwartungen im Gehäus verdankt:

das ruhige wort · muschel

unruhig ist unser herz · bis es ruhet in dir · denn auf dich hin · hast du uns geschaffen
bekennt augustinus voll unruh denk ich hier rund um die uhr rund um die uhr und jetzt

schreib ich [und ich ist kein andrer] das windige wort ruhe und ich denke das wort verrückt denke das wort zu|fall · zufall: augustinus der bierbrauer bischof buchdrucker

irrlehrenkämpfer kirchenordensvater theologenpatron ich denk ungeheuerunheimlich breuer leitet sich her von brauer denk mildmalzbier blaufalzbuch denk flammherz

schwebengel seh salzwasserschöpfendes kind bild des wild­wasserschöpfenden kindes das mich seit nunmehr 50 jahren beim spiegelblick heimsucht kind das nicht flennt

kind das nicht rennt weltinnengraumuschel pazifrisches meer das sich sehrsehr weitet das südliche meer · heiliger strohsack denk ich las das erst gestern bei ulrich zieger




Januar · Hartmanoth

 


The only people for me are the mad ones, the ones who are mad to live, mad to talk, mad to be saved, desirous of everything at the same time, the ones who never yawn or say a commonplace thing, but burn, burn, burn, like fabulous yellow roman candles exploding like spiders across the stars and in the middle you see the blue center light pop and everybody goes »Awww!«

Jack Kerouac


Flüsterpost

Ich gehöre zu den Menschen, die sich im Verlauf und am Ende eines Jahres Selbstauskunft geben über das an diesen und jenen 365 bzw. 366 Tagen gelebte Leben (Lesen). Ich flüstre mir un/gern zu, daß es aufgrund dieser und jener Angele­genhei­ten, Begeg­nungen, Dinge, Elemente, Korres­pon­denzen, Lektüren, Schreib­pro­jekte usw. k/ein gutes Jahr (gewesen) sei, mich dabei gleich­zeitig in die Gedan­ken­schranken verwei­send, wie künst­lich letztlich die Setzung vom 1. Januar bis 31. Dezember ist: warum nicht, bei­spiels­weise, die Markie­rung vom 1. Juli bis 30. Juni vornehmen? Vom 30. März bis 30. Januar? Vom 10. Mai bis …
Laß · es · gutsein, meint Kraus, und Bensch preßt die eh sehr dünnen Lippen auf­ein­an­der.
Egal.
Jedenfalls kommen in diesem Zusammenhang die Literaturlisten (Archive gegen das Vergessen – was ›vergessen‹, das eigene ›Gesicht‹, das eigene Gedicht?) ins Spiel. Es gibt Menschen, die in jedes Zimmer Spiegel hängen. Ich erstelle (wie Leporello, dessen Arie ich etwas über tausend Mal gehört habe – eine Reihe von Opern höre ich immer und immer wieder, Bücher les ich mehrheitlich einmal) Listen, Register, Verzeichnisse, in die ich mit einer gewissen Regelmäßigkeit blicke. Nicht nur solche mit literarischen Titeln, um die es in diesem Essay in erster Linie geht, der Fließtext ist gleichsam Beiwerk, nichts von Belang. Deshalb will ich diesen Text ›eigentlich‹ – wohl auch aus der monatelangen Unfähigkeit heraus, einigermaßen passende Worte zu finden – als Fragment mit nichts als Titeln und Zitaten belassen, wogegen Andreas Heidtmann aller­dings entschieden – und vielleicht nicht zum Besten der Sache – Protest einlegt, obwohl ich mit einem Zitat Regers aus Thomas Bernhards Alte Meister, das ich am 16. November als Graphic Novel zur Kenntnis nehme, nachdem ich es vor vielen Jahren in der Originalausgabe gelesen und bis heute – wie fast alle Bücher Bernhards – in bester Erinnerung habe, kontere, dem doch ›eigentlich‹ nichts ent­gegen­zusetzen ist:

Die höchste Lust haben wir ja an den Fragmenten, und wie grauenhaft ist uns das Ganze und ist uns im Grunde das fertige Vollkommene. Erst wenn wir das Glück haben, ein Ganzes, ein Fertiges, ja, ein Vollendetes zum Fragment zu machen, haben wir den Hoch-, ja, unter Umständen den Höchstgenuß daran. Wir halten das Ganze und das Vollkommene nicht aus.

Ich höre Heidtmann am anderen Ende der Leitung lachen, um gleich, à la Kraus, zu einer Gegentirade anzusetzen: Ja, aber … – ›Es geht rauf und runter‹ ist eine Floskel, die Fußballberichterstatter gern bei offenen, flotten Derbys verwenden, und einigermaßen so stelle man sich das vor, als Leipzig an einem Tag im Oktober gegen Sistig spielte.


Humus · Hilfe · Warnsignale

Die wirkliche Welt war immer
nur der Film, das Buch, das Bild
oder der einst berühmte Satz,
all das, was sich abgelagert hat und darauf wartete
wieder aufzutauchen.

Zvonko Makovic · lügen. warum nicht?


Mich interessiert also hier und heute mehr die Frage nach dem, welches Wort von dem innerhalb eines Jahres Gelesenen lebendig in welcher Form auch immer bleibt und welches sich irgendwo in graue Hirnzellen auf Nimmer­wiedersehn fort­schleicht. Von wegen Der Rest ist süße Amnesie, wie ich in Harald Hartungs Sonett Ein Doppelgänger als Antwort auf die Frage So wär dies Lesen nichts als Vorbe­reitung / aufs blanke Nichts? erfahre, mir die Augen reibe, die Verse noch einmal lese und feststelle, daß ich unbewußt ein Paragramm (herrlich die von Günter Vallaster heraus­gegebene Anthologie Paragramme, die ich September lesen werde) gebaut habe: ›Lesen‹ statt Leben. Wo wäre in diesen Tagen der Unterschied?
Jedenfalls machen sich in mir mulmige Gefühle breit, wenn ich Bücher, von denen ich sicher bin, sie mit zumindest einer gewissen Portion Lust und Laune gelesen zu haben, auf eine Art zu vergessen scheine, die es mir nicht mehr ermöglicht, Höhe­punkte, spezifische Merkmale, Verlauf u.a. zu erinnern oder gar wiederzugeben. (Waren da etwa keinerlei tiefgreifend wider­hakende Merkmale, die das Erinnern möglich machen? Bin ich Blendern auf den Leim gegangen? Der Maler malt das Vergessen, erinnere ich einen Vers Heiner Müllers.) Wie das wilde Kind Mowgli am Ende des Dschungel­buchs verschwinden sie in einem anderen Teil des Daseins, ohne sich wenigstens noch einmal umzudrehn und zum Abschied zu winken: Vergiß mich nicht … Einfach weg, bedauert Bär Balu – um Mowgli im nächsten Augen­blick selbst schon zu vergessen, während er mit Panther Baghira fröhlich singend heimwärts stapft, der nächsten Dschungel­patrouille entgegen: Probier's mal mit Gemütlichkeit
Dabei hält sich die bildhafte Vorstellung, daß die Lektüre jedes Wortes ihre Rolle im Zusammen­hang des ganzen geistigen Humus­bodens spielt, der durch Lesen gebildet wird. Kurz gesagt: Auch das, was ich als wenig/er geglückt empfinde, ist gut, kann es doch (beispiels­weise in schwachen Momenten, wenn ich als Schre­ibender gleichsam Unterstützung, Hilfe, Warnsignale von außen benötige) als ab­schre­cken­des Beispiel dienen. – Am 28. Dezember fahre ich, viele Stunden lang, in Richard Doves weltweiträumiger Straßenbahn, Hiroshima und lese, im Polnotsch benannten fünften Abteil gelandet, Ossip Mandelstams Worte Alle Bücher, die guten wie die schlechten, sind Brüder.


Drei Wörtchen

Schließlich drängt es mich, an dieser Stelle noch einmal darauf zu verweisen, nicht davon auszugehen, daß die ohne weiteren Kommentar im Fließtext erfolgende Nennung im Titelverzeichnis unbedingt etwas mit der persönlichen Einschätzung des einen oder anderen Buches zu tun hat. Naturgemäß ist dies im Zusammenhang mit Büchern, die nicht so stark auf mich wirken, der Fall: Ich will in erster Linie gute Worte für gute Bücher finden, die Ezra Pounds Appell Make it new zumindest zu beherzigen suchen. (Daß wir in Zeiten der nur noch kleinen Verschie­bungen, wie Ernst Jandl es ausdrückt, leben und schreiben, gilt es dabei natur­gemäß mitzu­bedenken. Ein alter Hut: Es gibt nichts Neues mehr. Das ist das Neue.
Aber insbeson­dere manches gute, herausragende, mitreißende Buch – bei­spiels­weise Ulrich Schlo­tmanns nach­hallender hoch­musikalischer Mammut­baum­roman Die Freuden der Jagd (dem ich nun doch drei Wörtchen widme) – auf das ich mit keinem Wort eingehe, offenbart, was ich mit den Listen an sich als den primären – eigentlichen – Fingerzeigen dieses Essays erreichen will.


Es gibt eine andere Welt

     

Auch das eine oder andere 2011 gelesene Buch habe ich null­kommanix vergessen, und es darf nun unerkannt eine Rolle in tiefer gelegenen Gefilden spielen, an die das Bewußtsein kaum oder nicht heranzukommen scheint. Gleich das erste in diesem Essay verzeichnete Buch – die von Andreas Altmann und Axel Helbig besorgte Lyrikanthologie Es gibt eine andere Welt – habe ich allerdings genausowenig vergessen wie die Sammelbände, in deren Verbund sie hier bildlich steht. (Zum Augenblicke / dürft ich sagen: / Verweile doch, / du bist so schön!, lese ich in diesem Augenblick im neben mir liegenden Wetzstein Gedichtekalender 2011.) Immerfort erlebe ich in diesem Buch mit Gedichten von lauter Autoren aus Sachsen diese genußvollen/tiefgehenden Lesemomente, die ich ob der geballten Kraft der Verse ins Unendliche gleichsam ausweiten möchte. Hin- und hergerissen bin ich zwischen dem Wunsch, weiterzulesen, weiterzulesen (warum zieht es mich immerzu nach vorne, weshalb blicke ich fortwährend zurück – wo bleibt der verweilende Augenblick?) und das soeben gelesene Gedicht ein zweites, ein drittes Mal zu lesen.


Waiting for Hübsch

In den ersten Januartagen warte ich weiter auf die überfällige Botschaft von Hadayatullah Hübsch, der mich für den 13. Februar zur 13. Frankfurter Wohn­zimmer­lesung eingeladen hat. (Gemein­sam mit Peter Oehler organisiert er diese von der Stadt Frankfurt subventionierte Lesereihe, und am 20. August wird die Lesung tatsächlich stattfinden, ein unver­geß­licher Abend in einem Frankfurter Kleingarten, an dem wir immer wieder auf Hadayatullah zu sprechen kommen werden, ein Abend, der einmal mehr zeigen wird, wie gern sich Menschen von Wörtern und Klängen bloß begeistern lassen – und gar nicht auf die Idee kommen, vom Gedicht auch inhaltlich Nach­voll­zieh­bares bzw. unmittelbar zu Verstehendes zu erwarten.) Statt einer Botschaft von Hadayatullah erhalte ich am 5. Januar eine E-Mail von Markus Peters: Hadayatullah Hübsch ist am 4. Januar gestorben. Wieder einer weniger, der in diesem Literaturbetrieb mit Individualität Akzente setzen konnte. Kurz darauf schreibt Axel Kutsch: Nach Thien Tran und Eva Stritt­matter ist nun auch Hadayatullah Hübsch (Herzinfarkt laut Wikipedia) gestorben. Markus hat es uns ja vorhin mitgeteilt. Laß uns weiter­machen! Gibt es eine ›andere‹ Welt? Der Sammelband In eine andere Welt, in dem der am 8. Januar 1946 in Chemnitz geborene Hübsch, dessen Werk und Wirkung vorläufig nicht in Ver­gessen­heit geraten werden, natürlich vertreten ist, erschien offiziell am 1. Januar 2011, wurde aber schon im Dezember 2010 ausgeliefert. So ist dies wohl die letzte Veröffentlichung zu Lebzeiten dieses so lebendigen, einfühl­samen, immer­fort schrei­benden, publizierenden, korres­pon­die­renden Menschen:

Berlin-Taxi (yesterday)

In diesem hellen Winter
Hingen schwarze Monde über der Stadt,
Wir setzten die Nacht unter Feuer,
Du tratst hinter mich wie eine
In fremde Länder gekleidete Frau,
Ich zerfurchte meine Stirn mit dem Saphir,
Den ich in einer Holzkiste neben dem
Kohleofen im Haus Waldfriede aufgestöbert
Hatte, dein Lächeln wurde hart,
Als ich versuchte, das Licht der
Gewaltsamen Liebe anzudrehen,
Dann zersplitterte mein inneres Auge,
Sterne fielen in den Wann-See,
Ich parkte meine Haut in einem billigen
Milchmädchenkaffee, die Zeitungen
Von Morgen rochen wie Maggie-Würfel,
Ich sah aus dem Spiegel wie ein Vampir,
Traurige Lieder flossen über
Die Kreuzungen der Schneestraßen,
Ich plünderte die Blumengeschäfte und
Schenkte verletzten, entsetzten
Verkäuferinnen mit gehetztem Blick meinen Paß.

Hadayatullah Hübsch



Weltreichhaltig · Qual der Wahl




Um das einzelne (geglückte) Buch kann es in einem Essay, der von Buch zu Buch heißt, vom Grund­satz her nicht gehen. Und so rückt der welt­reich­haltige Sammel­band aus Sachsen Es gibt eine andere Welt an dieser Stelle in den Mittelpunkt des Schreib­gesche­hens, weil er (Glücksfall: Die Ersten werden die Ersten sein) an erster Stelle der ersten Liste steht: Das doppelte A im Namen eines der Heraus­geber – Andreas Altmann – hat's gerichtet. Es hieße ja, Autoren, Bücher, Verlage gegen­einan­der auszu­spielen, wenn ich gerade über das eine (gute) Buch bewußt, zum Beispiel pro domo, etwas schriebe, über das andere, contra domo?, nicht. Nein, bereits im Januar leide ich unter der Qual der Wahl – dies oder das oder doch jenes Buch? Verfah­ren die Situation, naturgemäß in keiner Weise vergleich­bar mit der in Ludwigs Lahers Roman Verfahren, der mich sehr, sehr heftig packt, so daß ich ihn gleich mehrfach verschenke. Wie ich zum Werk Werner Buchers, Elke Erbs, Arnold Stadlers stehe, ist hin­länglich bekannt. Auf Thomas Bernhard komme ich noch mehrfach zurück. Und André Schinkel schreibt in Apfel und Szepter bemer­kenswerte Gedichte. Bensch lächelt, Kraus schüttelt, beinahe unmerklich, den Kopf, beide bedanken sich für das Buch, ich antworte mit dem Titel von Mathias Traxlers Gedicht­buch: You're welcome, und Mrs Columbo geht schnell mal in den Wald, sie weiß eh schon, was jetzt kommt.


Dichtung wird von allen gemacht

Denn wenn ich einen Gedanken immer und immer gern wiederhole, so ist es der, daß sich jeder Leser sein · Bild · mache. Was hülfe es, hier das eine Buch zu preisen, dort das andere verschweige, gar verdamme? Letzteres tue ich bei keinem der hier aufgelisteten Titel, auch wenn, fürwahr klar wahrnehmbar, eine von (sehr) schlicht bis schön Qualitätsbandbreite zu Buche steht und ich ein halbes Dutzend Bücher erst gar nicht zu Ende gelesen und mich beim einen oder anderen Buch ein wenig gelangweilt und die Lektüre im nachhinein als vergeudete Zeit (kann es so etwas geben?) empfunden habe: Vielleicht sind gerade das die Bücher, die Sie bevorzugt lesen. Mit Mrs Columbo mache ich diese Erfahrung immer wieder mal. Es geht also in erster Linie ums Ganze, wenn einzelne (gelungene) Bücher mit tatkräftiger Unterstützung dieses oder jenes ›Zufalls‹ in den Vordergrund gerückt werden, denn, wie Lautréamont es schlicht ausdrückt: Dichtung wird von allen gemacht.


Pohesie

Die Poesie ist weder Traum noch Wirklichkeit. Sie ist etwas anderes. Aber sie ähnelt beiden. So viel kann ich dir sagen: Ich bin in allen diesen Dingen, und alle diese Dinge sind in mir, die des Traumes, die der Wirklichkeit, was heißt das schon. [...] Ich weiß nie, worüber ich schreibe, aber wenn du genau hinschaust, wirst du sehen, daß ich immer über die gleichen Dinge anders schreibe. Du fragst, was denn wirklich wahr sei in dieser Dichtung? In der Dichtung (meiner Dichtung) ist alles wahr.

Gellu Naum


Und Theodor Fontane setzt noch eins drauf: Das Poetische hat immer recht, es wächst über das Historische hinaus. Wenn, ja, wenn im Januar ein Titel, ein einziger bloß, hervor­zuheben wäre, weil es die Spielregeln vor­schrieben, so würden spontane wie lange bedachte Entschei­dung über das zu benen­nende Buch leicht und locker überein­stimmen: Pohesie, das ich am ersten Januartag zu Ende lese. In dem zwischen den Jahren 2010 und 2011 ent­stan­denen Text Listen · Zahlen · Mut zur Lücke? Lyrik­gedanken zwischen den Jahren heißt es: »Während ich an Weih­nachten 2010 und den von so vielen Menschen als denk­merk­würdig empfundenen Tagen ›zwischen den Jahren‹ die von Oskar Pastior und Ernest Wichner aus dem Rumäni­schen über­tragenen Gedichte Gellu Naums in dem weit über 800 Seiten starken, 2006 bei Urs Engeler Editor erschie­nenen Gedichtbuch Pohesie lese – Gleich hinter dem Pfosten beginnt das große Flimmern –, frage ich mich heute, am 31. Dezember 2010, wie ich bislang ohne diese mich so großherzig beschen­kenden, b|e|r|a|u|s|c|h|e|n|d|e|n Gedichte habe leben können. Oder ist dies bislang eben gar kein ›richtiges‹ Leben gewesen? Kein richtiges ›Lesen‹? Weshalb ist dieses wuchtige und sich mit jedem Wort, mit jedem Vers gleichsam ins Unendliche dehnende, ja, urgewaltige Buch mir bislang nicht aufgefallen?«

Lyrik

  • Andreas Altmann · Axel Helbig (Hg.) · Es gibt eine andere Welt
  • Werner Bucher, Spazieren mit dem gelbgrünen Puma
  • Elke Erb · Sonanz
  • Gellu Naum · Pohesie
  • André Schinkel · Apfel und Szepter

Prosa

  • Thomas Bernhard · Aus Opposition gegen mich selbst. Ein Lesebuch
  • Thomas Bernhard · Der Wahrheit auf der Spur. Reden, Leserbriefe, Interviews ...
  • Christoph Danne · Rodion Ebbighausen (Hg.) · Grenzüberschreitungen
  • Jayn-Ann Igel · Berliner Tatsachen
  • Ludwig Laher · Verfahren
  • Ferry Radax · Der Italiener. Nach einer Erzählung von Thomas Bernhard
  • Arnold Stadler· Volubilis oder Meine Reisen ans Ende der Welt
  • Joseph Zoderer · Die Farben der Grausamkeit

Zeitschrift

  • Michael Arenz (Hg.) · Der Mongole wartet 21




Februar · Siegmanoth

 

Dämonen

Ungeachtet aller etymologischen Deutungen
toben Dämonen durch meine Eingeweide und
meine Hirne glauben nicht an Jenseits
Götter oder auch nur halbe
Gärungsprozesse
Verwesung
Die älteste Interpretation des damals nicht Erklärbaren
ist die wahrscheinlichste
Ich altere gärend
Die Verwesung naht
Es tröstet wenig
daß im Paralleluniversum mein anderes Ich noch gutgelaunt
bei einem Konzert von Jimi Hendrix sitzt
Auch ohne Gott sind wir alle unsterblich genug
für eine kurze Zeit

Wolfgang Fienhold · 10. September 1950 – 19. Februar 2011




NICHTS ist immerhin mehr als ›gar nichts‹




Anläßlich des 80. Geburtstags Thomas Bernhards veröffentliche ich im Februar im Poetenladen das Porträt Die Arbeit als Leidenschaft, die fortgesetzte Partitur als Leben · Hommage zum 80. Geburtstag von Thomas Bernhard (9. Februar 1931 – 12. Februar 1989) , das mit der Frage Und was wäre dem noch hinzuzufügen – – – außer: NICHTS endet. Nach der Lektüre der Graphic Novel Alte Meister, die ich, wie gesagt, am 16. November betrachtend lese, füge ich diese Fußnote ein, um das Porträt im Dezember in aktualisierter Fassung in der Literaturzeitschrift Matrix zu publizieren:

NICHTS ist immerhin mehr als ›gar nichts‹, und eine Fußnote muß noch drin sein anläßlich dieser von Nicolas Mahler so herrlich ins Bild gesetzten Romankomödie Alte Meister. Kein Liebhaber von Thomas Bernhard und/oder der Graphic Novel wird auf dieses Bilderbuch verzichten wollen, in dem der Comic-Künstler die in der Tiefen­struktur Bernhardscher Prosa so hinter­fotzig wie offen­kundig angelegte drollige · humorige · ironische · launige · schnurrige · spaßige · witzige Art des scheinbar bloß bzw. um der Unterhaltung der Leser/Zuhörer willen grantelnden Autors (es sind die Figuren, die granteln) hervorkitzelt und mit gespitztem Bleistift nicht enden wollende Über­treibungs­tiraden – Es gibt kein vollen­detes Bild und es gibt kein vollen­detes Buch und es gibt kein vollendetes Musikstück, sagte Reger, das ist die Wahrheit – gegen Kunst und Maler · Literatur und Schrift­steller · Musik und Musiker · Philosophie und Philosophen · Wien und Wiener »usw.« gleichsam (oder natur­gemäß?) weiter in höchste Höhen treibt – indem er untertreibt. Wer alles liest, hat nichts begriffen, sagte er, lese ich in Alte Meister auf Seite 42. Dann weiß ich Bescheid, pflegt Dominik, ein Freund meines Sohnes Andreas, in solchen Momenten zu sagen. So weiß ich jetzt doppelt Bescheid, das ist die Wahrheit.



Zwei hellbeige Würmchen fragen: Ist alles in Ordnung? Bist du okay?
Liebt Ihr Buchstaben?


There is a story told of a Russian dancer, who was asked by someone what she meant by a certain dance. She answered with some exasperation, »If I could say it in so many words, do you think I should take the very great trouble of dancing it?«


Richard Hughes


Das Dezember-Kapitel ist übervoll gepackt, und im Februar steht bis eben bloß die Fußnote zu Thomas Bernhard. Also, heute, Leute, das morgen schon gestern sein wird, wie allgemein bekannt (Zwischenfrage: Was aber wird es sein, wenn diese Zeilen gelesen werden?), ist der 6. Dezember 2011, und ich lese im rauhen Büchlein Alsohäute, lache, lese Hölderloin, lache, lese Haartausend, lache, lese Herz (daß ich nicht lache), lache, lese und lache ein H, ein H und noch ein H, so daß Mrs Columbo besorgt ins Wohnzimmer schaut und, neudeutsch, fragt, ob ich okay bzw. alles in Ordnung sei (Doppelzwischenfrage: Warum fragen der Sprache und Logik ansonsten einigermaßen mächtige Menschen in Film oder Buch, Supermarkt oder Zugabteil, Büro oder Wohnzimmer – usw. – immer dann, wenn etwas doch augenscheinlich nicht in Ordnung ist, ob alles in Ordnung sei – und warten, wie auch Mrs C., die schon wieder weg ist, nicht einmal die Antwort ab? Ist das etwa, nach über fünfzig Jahren Lesen/Leben, quasi aus dem Hüftschwung, die bei den Haaren herbeigezogene Lüftung des Geheimnisses der ›rhetorischen Frage‹, von der ich – damals, als Knabe – keine Ahnung habe), sage mir das halblaut vor, wage das kaum hier aufzunotieren, fange leicht an zu frieren, wische mir eine Träne, zum Glück keine Lauge, aus dem Auge (aus dem Sinn) und danke Konstantin Ames (dem Autor, der Akrostichon und Paragramm und Paronomasie – und was weiß ich denn überkopf – so kunstvoll verhunzt, der Mann versteht sein Mundwerk, hat's faustig Hintern Ohren) sowie Urs Engeler (dem Verleger, der seinem Namen alle Ehren macht, denn mir wachsen beim Lesen Flügel) für o diese fröhliche Stunde.

Chlorophyll Klorohrfüll« 6.10.2010  

Der Herbst ist da Scheiße was soll das?
Ich verdächtige jeden, der
mir von Liebe redet der
Übertreibung hoffentlich
ungerechtfertigt.

Konstantin Ames · Alsohäute


Lyrik

  • Michael Arenz · Noch nicht ganz aber fast
  • Hugo Ball · Zinnoberzack, Zeter und Mordio
  • Stefan Döring · morgestern
  • Ulrike Almut Sandig · Dickicht
  • Gerrit Wustmann · Beyoglu Blues

Prosa

  • Hugo Ball · Zinnoberzack, Zeter und Mordio
  • William Gaddis· The Recognitions
  • Katharina Hartwell · Im Eisluftballon
  • Jörg Kremers & Gerd Sonntag · Also bin ich
  • Ulrich Schlotmann · Die Freuden der Jagd

Zeitschrift

  • Julietta Fix (Hg.) · Mehr und weniger






März · Lenzinmanoth




»Er hat so ein gutes Herz gehabt« –
eine weitere Begegnung mit Thomas Bernhard



Wer einmal der Sprache Thomas Bernhards, diesem süchtig machenden Rausch­mittel mit bewußtseins- und wahr­nehmungs­verän­dernder Wirkung, in dessen Büchern begegnet ist, wird sich deren Sogkraft niemals mehr entziehen können (und wollen), denke ich, während ich die Seiten von Auslöschung wieder einmal über den Daumen abrollen lasse und bildhaft klar die unaus­löschliche Lektüre nicht bloß dieser in einem einzigen großen Schwall sich tief in mich hinein ergießenden Wörter­musik erinnere. In der Hommage zu Bernhards 80. Geburtstag Die Arbeit als Leidenschaft, die fortgesetzte Partitur als Leben singe ich ein Lied davon.
Als in ähnlicher Weise berauschende Droge empfinde ich den von Photograph und Filmemacher Sepp Dreissinger edierten Sammel­band Was reden die Leute. 58 Begegnungen mit Thomas Bernhard, in dem Menschen zur Sprache kommen, die mit dem leib­haftigen Bernhard zu dessen Lebzeiten auf die eine oder andere Art in mehr oder weniger heftige Berührung kamen – Nachbarn, Verwandte, Schrift­steller­kollegen, Menschen, mit denen er zusammen­arbei­tete: Peter Fabjan, Bruder · Gert Voss, Burg­schauspieler · Johann Maxwald, Ohls­dorfer Nachbar · Ingrid Bülau, Hamburger Freundin · Raimund Fellinger, Suhrkamp-Lektor · Peter Hamm, Schrift­steller · Alfred Höller, Tier­präparator · Claus Peymann, Bernhard-Regisseur · Sieg­fried Hostnik, Bräuner­hof-Chef.
Auch Hans Bender, der Bernhard mehrfach an verschie­denen Orten begegnete und ihn beispielsweise durch Veröffent­lichungen in Akzente förderte, entdecke ich unter den Zeitgenossen, die Bernhard persönlich erlebten. Bender zeigt mir ein, wie er lächelnd betont, mit seinem Fotoapparat aufge­nommenes Photo, das (den durchaus wohlwollend blickenden) Thomas Bernhard zusammen mit Elisabeth Borchers und Hans Bender in Regensburg im Jahre 1967 während der Tagung des Kulturkreises im BDI zeigt. Während meines Besuchs am 7. September 2011 (zuvor hatte ich mich vom sonnen­durch­strahlten Richter-Fenster im Dom begeis­tern lassen) kommen, wie bei fast jedem Treffen in der Kölner Taubengasse, Rolf Dieter Brinkmann und eben Thomas Bernhard zur Sprache. Vierblättriges B-Blatt, denke ich, während ich diese Wörter hier niederschreibe, und laß das Wort einfach mal so stehn, mal sehn, was passiert.
Erneut wird durch Benders Erin­nerungen deutlich, daß auch bei der Wiedergabe von angeblich tatsächlich Erlebtem – in Bernhards Meine Preise bei­spiels­weise – Fakt und Fiktion auf die typisch Bernhardsche Art und Weise des maßlosen Übertreibens, Schimpfens, Ver­drehens miteinander ver­schmelzen und so eine neue, andere – literarische – Wirklichkeit schaffen: Um ›Wahrheit‹ im (klein-)bürgerlichen Sinne ist es Thomas Bernhard (der mehr oder weniger aus­schließ­lich als Künstler­natur lebte, dachte und agierte, gleichsam immer schrieb, auch wenn er nicht schrieb) nie ge­gan­gen, was auch durch diese Schil­derung des 92jährigen Hans Bender überdeutlich wird:

Ich war neben meinen redak­tionel­len Tätig­keiten auch Berater und Juror im Lite­rari­schen Gremium des Kultur­kreises im Bundes­verband der Deutschen Industrie. Für das Jahr 1967 habe ich Thomas Bernhard und Elisabeth Borchers für die jährlichen Preise vorge­schlagen. Die Tagung war für Anfang Oktober fest­gesetzt, in Regensburg. Ein Vorgang, den ich gut in Erin­nerung be­hal­ten habe. Bevor die anderen angereist waren, speiste ich zusammen mit Bernhard in einem Hotelrestaurant. Als wir die Suppe löffelten, hielt Bernhard inne, blickte hinauf zur Stuckdecke und begann zu schildern: Die Stücke der Stuckdecke werden herunterfallen in unsere Teller, die Suppe würde über­schwappen, den Tisch, den Boden, den Raum, dir Stadt, die Welt ertränken! Ich wusste nicht recht, wie ich auf Bernhards über­schwäng­liche Schilderung oder Vision reagieren sollte. Ich versuchte es, doch größer waren meine Zweifel, ob die Suppe diese Sintflut anrichten könnte. Er wollte wohl eine Szene mit mir spielen. Wollte mich überprüfen, wie ich reagierte. Hatte ich die Begabung, einzugehen auf seine Vision?

Durchweg sehr persönliche Berichte (aus denen auch manche Kränkung hervor­bricht) und Wort­schwalle (die Bernhard alle Ehre gemacht hätten) einher­gehend mit vielsagenden Photographien machen – einschließlich des Vorworts von Manfred Mittermayer – dieses Buch zu einer tiefgehenden, unvergeßlichen Begegnung mit Thomas Bernhard und seinen ihn aus verschiedensten Blickwinkeln betrachtenden Zeit­genossen. Daß Thomas Bernhard sich gern in der Pose des Grantlers, des Beschimpfers, des Unzufriedenen zeigte, ist weithin bekannt. Wenn das Publikum keine Alpträume hat, ist ihm sofort langweilig, betonte er gern und beschwor mit voller künstlerischer Absicht Katastrophen aller Art, um der Lebenslangeweile entgegenzuwirken, ob auf der Bühne, zwischen Buchdeckeln, im Café oder am Mittagstisch mit Hans Bender.
Das Buch Was reden die Leute. 58 Begeg­nungen mit Thomas Bernhard zeigt aber auch den anderen Bernhard, den gleichsam guten Menschen von Ohlsdorf, den freundlichen, milden, hilfs­bereiten, den Menschen eben, der, naturgemäß, das Wort Lebens­mensch erfand: Er hat so ein gutes Herz gehabt, lese ich im Kapitel von Maria „Mitzi“ Holzinger, die Bernhard als Kellnerin im Brandlhof in Wolfsegg viele Jahre lang bediente, und: Thomas Bernhard hat mir das Buch „Auslöschung“ geschenkt mit einer Widmung, auf die ich sehr stolz bin: „Dem lieben und unent­behrlichen Fräulein Mitzi, mit meinen besten Wünschen. Thomas Bernhard.“

Was wäre dem noch hinzuzufügen?

Lyrik

  • Rolf Dieter Brinkmann (Hg.) · Silverscreen
  • Christoph Buchwald · Kathrin Schmidt (Hg.) · Jahrbuch der Lyrik 2011
  • Rolf Hermann · Kurze Chronik einer Bruchlandung
  • Jürgen Kross · unverwandt
  • Marion Poschmann · Preußische Pyramiden
  • Arnold Stadler (Hg.) · Tohuwabohu
  • Achim Wagner · Flugschau

Essay

  • Thomas Bernhard · Peter Hamm · »Sind Sie gern böse?«
  • Sepp Dreissinger · Was reden die Leute. 58 Begegnungen mit Thomas Bernhard

Prosa

  • Jürgen Becker · Schnee in den Ardennen
  • Thomas Bernhard · Der Kulterer
  • Ulrike Draesner · Richtig liegen
  • Friederike Mayröcker · vom Umhalsen der Sperlingswand, oder 1 Schumannwahnsinn
  • Ursula Priess · Mitte der Welt
  • Walle Sayer · Zusammenkunft
  • Arnold Stadler (Hg.) · Tohuwabohu

Zeitschrift

  • Andreas Heidtmann (Hg.) · poet 10
  • Karl E. Jirgens (Hg.) · Rampike Vol. 20 / No. 1






April · Ostarmanoth


Arbeit wie jede Arbeit

altes lied

gedichte erbitten beachtung
wie kinder spielen sie
  im sprachwald
und werden nur von wenigen
  so ernst genommen
wie ihre erwachsenen verwandten
die breitspurigen romane

Elfriede Gerstl

April macht, was er will – und ich weiterhin auch: Am schönen 28. September lese ich Elfriede Gerstls letztes Gedicht­buch Lebens­zeichen · Gedichte · Träume · Denk­krümel, 2009 bei Droschl erschienen. Kurz und knapp geht's da meist ab: ärger als arg / kanns eh nicht werden und –nach strenger diät // organe gesund / ansonsten am hund.
Elfriede Jelinek beschließt das Nachwort mit Worten, die sie der 2009 verstorbenen Elfried Gerstl nachruft: Danke vielmals für alles, sagt Gert Jonke nach dem Tod seines Kindes, das als Säugling gestorben ist. Danke an ein Wesen, das noch kaum Bewußtsein von sich hatte. Danke von mir an ein Wesen, das alles Bewußtsein der Welt hatte, weil es Worte aneinandergereiht hat, als eine Arbeit wie jede Arbeit.


E-Mail-Gespräch mit Hagedorn · Ein Auszug

   

Meine Antikritik

»Was machst du, wenn die Kritik dich kränkt?«
Meine Antikritik: ich bleibe heiter.
»Und wenn sie dich an den Galgen gehängt?«
Meine Antikritik: ich lebe weiter.

Oskar Blumenthal (1852–1917)



TB Zum Glück geschieht es nur noch selten, daß mich ein Autor oder Verleger bittet, eine ›Rezension‹ zu einem gerade erschienenen Buch zu schreiben. Mehr und mehr scheint es sich herumzusprechen, daß ich kein Kritiker bin und sein will, ich will nicht kritisieren, kränken, lobhudeln, lamentieren, wie schlecht die Literatur ist, ach, ist die Literatur schlecht, mir wird schlecht, schlecht, schlecht, alles schlecht, von Buch zu Buch schlechter, sondern daß ich Leser bin, der gelegentlich ein paar Gedanken im Zusammenhang mit der einen oder anderen Lektüre innerhalb für ihn mehr oder weniger bemerkenswerter Lesenssituationen, im Grunde ganz für sich, formuliert. Und wenn ich Teile dieser Gedanken publik mache, geht es in erster Linie darum, auf ein Gedicht, einen Roman, einen Autor, ein Buch, eine Reihe, eine Edition, ein Magazin, einen Verlag aufmerksam zu machen in der guten Hoffnung, daß die eine oder andere Bestellung erfolgt.

MH Kunstbetrachtung ist nicht nur subjektiv, rezen­sieren bedeutet simpli­fizieren. Abgesehen von den seltenen und reichlich absurden Fällen, in denen ein Gemälde aus Einfalts­pinsel­strichen mit Herme­neuten-Akrobatik zum Meister­werk veredelt wird, ist der Rezensent immer ein Reduktionist. Fahr­lässigkeit ist sein Geschäft, anders kann er aus 200/300 Seiten Norm­längen­roman gar nicht 20/30 Zeilen Zeitungstext machen. Meist kann er nicht mal alle Hauptfiguren erwähnen, lässt wichtige Hand­lungs­stränge einfach weg, verkürzt auf unzu­lässige Weise den Plot, entdeckt vielleicht nur einen Bruchteil der Anspielungen, von denen er kaum eine erwähnt, und spinnt von den vielen Leitmotiven der Erzählung nur einige wenige zum roten Faden der Besprechung.

TB Buchhändler haben mir berichtet, wie sehr sie an der Nadel der Bestenlisten und Bespre­chungen im Feuilleton hängen. Meine Wunsch­vorstellung, daß jeder Mensch lesen möge, was er will, wird dadurch mächtig torpediert. Aus verschie­denen Gründen habe ich kaum noch die Gelegenheit, an den Regalen der Buch­handlungen entlang zu flanieren, und wenn, dann ist es die einst von mir so geschätzte Buch­handlung im Kölner Haupt­bahnhof, die mir jetzt als Beispiel dient. Vom einstigen Wohl­gefühl im Ta­schen­buch­keller ist nichts mehr geblieben angesichts der Massenware, die mich hier und heute überfällt. Von den einst prall gefüllten Lyrik-Regalen, die viele Jahre lang für Über­raschun­gen gut waren, ist sozusagen nichts geblieben, ein kümmerlicher Mainstream-Rest. In Heiner Müllers Gedicht »Ajax zum Beispiel« von 1994 heißt es schon: »In den Buchläden stapeln sich / Die Bestseller Literatur für Idioten / Denen das Fernsehn nicht genügt«.

MH Büchermachen geschieht in einem Konflikt zweier Werte­systeme. Der Neo­libera­lismus erreicht das Verlagswesen über die Werte der Kommunikationsbranche. Träger dieser Werte sind die großen Medien­konzerne, die in Presse und Digital­fernsehen enorm präsent sind, also in den Vermitt­lungs­medien, durch die bisher, vor allem durch die Presse, die potentiellen Leser von der Existenz der Bücher erfuhren. Doch diese Konzerne sind finan­ziell auch sehr stark im Vertrieb engagiert, also in den Netzwerken, die die physische Präsenz der Bücher in den Buch­hand­lungen oder Buchmärkten sicherstellen. Für einen Medien­konzern dient das Buch dazu, die vielen anderen Aktivitäten des Unter­nehmens mit einem Inhalt zu versehen: Presse, Filmstudio, Fernseh- oder Radio­sendungen, sogar den Vorzugsverkauf in den hauseigenen Buch­handlungen. Alle Medien­konzerne werden strukturiert durch die Norm des Gegenwartkultes, des unmittel­baren Umsetzens von Themen und Produkten, des schnellstmöglichen Auszahlens der Investition. Ihre Zeit­schriften konzen­trieren sich daher auf die Bestseller, die sich sehr schnell verkaufen sollen und der großen Homo­genität der Ver­triebs­systeme angepaßt sind, die wiederum eher dazu da sind, die Verkaufs­zahlen der Bestseller in die Höhe zu treiben, als dazu, die breite und anhaltende Präsenz von anspruchs­vollen Büchern zu gewähr­leisten. Das Buch ist immer eine Handels­ware gewesen, die herge­stellt, verkauft, getauscht wird. Daß Lyrik aus Sicht der Buch­händler gleichsam eine Randsportart ist, die Platz, also Verkaufs­fläche wegnimmt, ist nur allzu schlüssig.

TB
Matthias, mir rauscht der Kopf, »Der Worte sind genug ver­wechselt« (Andreas Reimann), soll trotzdem jeder weiter lesen, was er will und zusehen, daß er findet, was er sucht, ich stelle jedenfalls jetzt die »Rand­sportart« für eine halbe Stunde in den Mittel­punkt des Daseins und gehe, du siehst, ich lebe weiter, also erst einmal – mit Brigitte Struzyk – den

Abendweg

Geriffelte Reihen aus brauner Erde
schwingen den Hang mich hinab
den flimmernden Stoppeln entgegen.
Die Sonnenquitte rollt über den Rücken
in den Acker hinein.
Pflugschare zieht der Traktor, zuckelt
Über Motorengeheul.
Fern glitzert die Autobahn.
Sommerstaub rockt in den Mückenwolken,
lässt Steinchen der Straßenhaut springen,
Dampf neben Nebel. Das gelbweiße Band
wilder Kamille
schäumt die Leitplanke hoch
vom Acker zum Straßenrand.
Im Graben flattert Verpackung.
Ich liebe es
Schwarz auf weiß.

Brigitte Struzyk · alles offen

Lyrik

  • Ulrike Bail · wundklee streut aus
  • Karl Corino · In Bebons Tal
  • Marion Poschmann · Erinnerungen an was
  • Jan Volker Röhnert · Notes from Sofia
  • Rainer Wedler · Unter der Hitze des Ziegeldachs

Prosa

  • Jonathan Franzen · Freedom
  • Elizabeth George · Careless in Red
  • Jan Volker Röhnert · Notes from Sofia

Zeitschrift

  • Traian Pop (Hg.) · Matrix 23






Mai · Winnemanoth

   

Dublin in Bloomtime

Diese wilden Gesichter
über dem still liegenden Fluß.
Nun verschwindet die Meute
mit dem geklauten Hut.
Dümpelnd zum Meer
bewegen sich grüne Flaschen hin.
Nachts mit gelb gewordenen Photos
kommt die Zeit mit Bloom.

Jürgen Becker



No battle is ever won

Jeder lese also was, wann und wie er will. Wer in erster Linie aus Gründen der Zerstreuung liest, der liest aus Gründen der Zerstreuung und wird seine Gründe dafür haben. Oder auch nicht. Warum nicht ›einfach so‹ lesen? Einfach so. Einmal einfach so lesen, einfach so leben. Für wen das Buch Zuflucht bedeutet, für den bedeutet es Zuflucht. Ich erlebe Lesen, meine Art des Buchstabierens der Welt, als notwendige Form des Daseins und lese Dein Kerker bist du selbst // Die Welt, die hält dich nicht, du selber bist die Welt, / Die dich in dir mit dir so stark gefangen hält. (Angelus Silesius) Ich empfinde Lesen als schönste vorstellbare Arbeit, auch als Kampf, zermürbenden lebenslänglichen Kampf – um was?, lese in William Faulkners The Sound and the Furyno battle is ever won … not even fought … the field only reveals to man his own folly and despair … and victory is an illusion of philosophers and fools, nie als Zerstreuung, aber (auch) als Zuflucht. 1959 hatte ich auf dem Speicher ein in Spinnweben eingehülltes winzigkleines Köfferchen mit sehr alten Büchern entdeckt, ich danke noch heute der Mutter, die mich als Dreijährigen mit an diesen abenteuerlichen Ort noch oberhalb der Schlafräume genommen hatte und mich gewähren ließ, als ich das Köfferchen nicht mehr aus der Hand gab – übrigens jahrelang nicht, fast vier Jahre lang (bis es vom Schulranzen abgelöst wurde und ich plötzlich von der gewohnten linken zur rechten Schreibhand zu wechseln hatte): Ich hatte eine Welt gefunden. (Der Koffer ist längst verschwunden.) Ich beneide den Menschen, der gern Müßiggänger ist. Diese Lebensform wünsche ich mir bisweilen. Ich tue zum einen nichts lieber als arbeiten, und wenn ich nicht arbeiten kann, dann gnade mir Gott.


Ein Tag!! Zwei Tage!

Trotzdem stelle ich mir gern vor, müßig zu gehen und dabei zufrieden zu sein. Bin ich aber nicht. Tief in die Seele greifenden Streß erlebe ich, wenn ich nicht in der Lage bin zu arbeiten. Seit 2007 ermüden mich solche Phasen oft über Wochen, im Sommer über Monate. August, September, Oktober und November sind zu den verläßlichsten Monaten geworden, der Rest ist Glücksache, abhängig auch vom Wetter: Denn ebenfalls seit 2007 bin ich zum Rainman mutiert, so daß der nasse Sommer 2011 nicht der schlechteste für mich gewesen ist. Wenn ich ein, zwei Tage nicht schreiben kann, bin ich verzweifelt und fürchte, es ist aus, schreibt Friederike Mayröcker. Ein Tag!! Zwei Tage! Ach, könnte ich doch immer mal zwei Tage bloß nicht schreiben. Das wäre der Himmel auf Erden. Zwei Tage. Herrlich. Aber wenn ich ein, zwei Tage nicht lesen kann, bin ich verzweifelt und fürchte, es ist aus. In den letzten Jahren fürchte ich immer wieder, es sei – aus. Irgendwie geht es immer weiter.


… and his heart was going like mad and yes I said yes I will Yes

In der Zeit werden nur die Dinge bestehen,
die nicht von der Zeit sind.
Jorge Luis Borges


Meine Zeit mit (good old) Bloom, der 1922 in Paris (Auflage: 1.000) das Licht der Welt erblickt, beginnt am 16. Juni 1978 mit der bei Penguin erschienenen Taschenbuchausgabe von Ulysses. Wie oft habe ich den ersten Satz gelesen: Stately, plump Buck Mulligan came from the stairhead, bearing a bowl of lather on which a mirror and a razor lay crossed. (Hunderte Mal.) Wie oft den ersten Absatz, die erste Seite, das erste Kapitel? Bis April 2011 komme ich nie über die ersten 100 Seiten hinaus.

ALLES HAT SEINE ZEIT ist ein für mich wesentlicher Kernsatz in den letzten Jahren geworden, und auch dieser Satz ist ›natürlich‹, wie so viele Wörter und Sätze, ursprünglich nicht von mir, sondern im vorliegenden Falle aus dem Buch der Prediger (3, 1–11):

Alles hat seine Zeit und jegliches Vornehmen unter dem Himmel seine Stunde. Geborenwerden hat seine Zeit, und Sterben hat seine Zeit; Pflanzen hat seine Zeit, und Gepflanztes ausreißen hat seine Zeit. Töten hat seine Zeit, und Heilen hat seine Zeit; Zerstören hat seine Zeit, und Bauen hat seine Zeit. Weinen hat seine Zeit, und Lachen hat seine Zeit; Klagen hat seine Zeit, und Tanzen hat seine Zeit. Steine schleudern hat seine Zeit, und Steine sammeln hat seine Zeit; Umarmen hat seine Zeit, und sich der Umarmung enthalten hat auch seine Zeit. Suchen hat seine Zeit, und Verlieren hat seine Zeit; Aufbewahren hat seine Zeit, und Wegwerfen hat seine Zeit. Zerreißen hat seine Zeit, und Flicken hat seine Zeit; Schweigen hat seine Zeit, und Reden hat seine Zeit. Lieben hat seine Zeit, und Hassen hat seine Zeit; Krieg hat seine Zeit, und Friede hat seine Zeit. Was hat nun der, welcher solches tut, für einen Gewinn bei dem, womit er sich abmüht? Ich habe die Plage gesehen, welche Gott den Menschenkindern gegeben hat, sich damit abzuplagen. Er hat alles schön gemacht zu seiner Zeit, auch die Ewigkeit hat er in ihr Herz gelegt, da sonst der Mensch das Werk, welches Gott getan hat, nicht von Anfang bis zu Ende herausfinden könnte.

In der Sistiger Wolfskaul hat Ulysses also seine große Zeit im Jahr 2011 · als ich mir Mitte Mai den lebenslangen Wunsch erfülle · das Buch – in der frisch für diesen neuerlichen Anlauf besorgten · in rotes Leinen gehüllten Ausgabe des New Yorker Alfred A. Knopf Verlags von 1997 (die auf der zweiten, korrigierten und neu gesetzten Ausgabe von 1961 beruht) – zu lesen · ohne die Lesereise vorzeitig zu beenden · ich spüre es diesmal vom ersten Satz an: Alles hat seine Zeit · und die Zeit ist offenbar reif für Ulysses · und ich lese das Buch · my words in her mind: cold polished stones sinking through a quagmire · und ich schwimme – buchstabierend (O! O!) / – durch Silben (Aum! Hek! Wal! Ak! Lub! Mor! Ma!) · Wörter · Sätze · Bilder · Farben · Gesänge · Stimmen · Klänge · Geräusche (clapclopclap · Kraaandl · Rrrpr) · Gedanken · Ideen »usw.« · poetry, even when apparently most fantastic, is always a revolt against artifice, a revolt, in a sense, against actuality – weit hinaus über ersten Satz · ersten Abschnitt · erste Seite · no pen, no ink, no table, no room, no time, no quiet, no inclination · TELEMACHIA · Telemachus · Nestor · Proteus · ODYSSEE · Calypso · Lotuseaters · Hades · Aeolus · Lestrygonians · Scylla and Charybdis · Wandering Rocks · Sirens · Cyclops · Nausicaa · Oxen of the Sun · Circe · NOSTOS · Eumaeus · Ithaca · Penelope · I fear those big words which make us so unhappy · bis ich · nach zehn sich zu wunder|baren Jahren auf­blähenden Tagen · hundert und mehr Stunden lang · die Lebens­reise des mit Molly ver­hei­ra­teten Anzei­gen­akqui­siteurs Leopold Bloom und des ledigen Lehrers Stephen Daedalus · am 16. Juni 1904 in Dublin · in allen vor­stellbaren alltäg­lichen Nuancen · mit immer wieder wunderbar ›unerhörten‹ Momenten · erlebend (sehend · hörend · riechend · spürend · schmeckend) · the demand that I make of my reader is that he should devote his whole life to reading my works · in diesem unendliche sprach­liche Abgründe · Bodenlosigkeiten · Krater · Schlünde auslotenden · uner­schöpf­lichsten aller Wortmeere · I've put in so many enigmas and puzzles that it will keep the professors busy for centuries arguing over what I meant, and that's the only way of insuring one's immortality · den letzten Satz · das letzte Wort dieses 1078 Seiten langen Gedichts · Gedichts · Gedichts zu fassen kriege: and then I asked him with my eyes to ask again yes and then he asked me would I yes to say yes my mountain flower and first I put my arm around him yes and drew him down to me so he could feel my breasts all perfume yes and his heart was going like mad and yes I said yes I will

Alltäglich · Normal · Wahnsinnig

Welches Buch lese ich im Anschluß an Ulysses? Michael Köhlmeiers ebenfalls sehr umfangreicher Roman Abendland (ein fabelhaftes Buch, wie ich Anfang Juni feststellen werde) liegt griffbereit, doch das Schicksal will es anders. Postbote Guido bringt Peter Klusens kurzen, knackigen Roman Der lächerliche Ernst des Lebens. Kommt gerade recht, denke ich, und lese noch während des späten Früh­stücks los. Als Vielleser vergesse ich als mittel­mäßig Empfundenes schnell. Aber Bücher müssen keine soge­nannte Welt­lite­ratur sein, um sie in Erinnerung zu behalten (schreibe ich am 1. Dezember). Eine Eifeler Kartof­felsuppe wird ja auch nicht unbedingt in 5-Sterne-Restaurants gereicht, und doch ist sie mir lieber als vieles hoch Gelobte, das ich auf dem Teller mit der Lupe suchen gehe. Der Roman Der lächerliche Ernst des Lebens, in dem die ganz alltäg­lichen, also normalen, also wahnsinnigen Schicksalsschläge der alten und jungen Bewohner eines Miets­hauses im Mönchen­gladbach der 1950er Jahre erzählt werden, hat diese wesentliche Unver­wechsel­bar­keit, ich nenne sie einfach: Peter-Klusen-Ton, und der klingt nach. Dem Autor schreibe ich nach der Lektüre in einer E-Mail: »Zwischen den Schwarten Ulysses und Abendland habe ich am Dienstag die Geschichte vom lächerlichen Ernst mit viel Lust, Vergnügen und einer Träne im Knopfloch gelesen. Daß es mit Ernst sowie den Richards und Krügers jeweils ein solches Ende nehmen muß! Wie würde Theo Lingen schnarren: Traurig, traurig, traurig! Ein gelun­genes Buch, das ich froh bin, gelesen zu haben. Jetzt weiß ich endlich, aus welchem Humus der VfL Borussia (dem Matthias Hagedorn wie jeck anhängt) erwachsen ist. Vielen Dank noch einmal dafür!« Post­wendend der Konter Klusens – mit einem weiteren Zitat von Lingen: Wie der Ball auch kommt, wie der Schuß auch fällt, der Theodor, der Held, der hält!

Lyrik

  • Hans-Ulrich Prautzsch (Hg.) · Almanach Fontane 1998
  • Hans-Ulrich Prautzsch (Hg.) · Almanach Goethe 1999
  • Julia Sander · Der Fernseher blinkt in Blitzblau Augengeflatter
  • Karl-Heinz Schreiber · Das Wundern der Romantizierer generiert altmodische Beulen
  • Asmus Trautsch · Treibbojen

Prosa

  • James Joyce · Ulysses
  • Peter Klusen · Der lächerliche Ernst des Lebens


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Theo Breuer    01.01.2012   

 

 
Theo Breuer
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