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Theo Breuer

In der Nußschale

mit Zsuzsanna Gahse · Donauwürfel

Donauwürfel
  Zsuzsanna Gahse
Donauwürfel
Edition Korrespondenzen 2010

Kollektor

Frucht um Frucht erntete der Herbst
kletterte in den Baum und legte sich dort
ruhig zum Trocknen hin um dann gemeinsam
mit den toten Früchten abzufallen

Gellu Naum


Ich esse für mein Leben gern Nüsse. Zum Glück trägt der 1984 gepflanzte Nußbaum seit langer Zeit Jahr für Jahr reichlich Früchte, an denen sich naturgemäß auch Eichhörnchen und Eichelhäher gütlich tun. (Nüsse fallen ins Ungewisse lese ich in Arnold Leiferts Die Gewißheit der Walnüsse.) Dennoch bleiben so viele für uns Menschenkinder übrig, daß wir im Oktober stets ein paar Eimer Walnüsse auf­sammeln können, von denen ich jeden Abend eine gute Handvoll knacke und kimmle. Am 18. Dezember 2010 sind gegen 17 Uhr 45 die letzten Nüsse dran. Schade, höre ich Walter Kempowski aus dem Off flüstern. Am Morgen desselben (erneut sehr schnee­reichen) Tages überreicht der Postbote Zsuzsanna Gahses neues Buch: Donauwürfel.
  Die Autorin hat eine liebe­volle Widmung hinein­geschrieben (nachdem wir einander am 24. November im Planetarium Kreuzlingen im Rahmen des Konstanzer Poesie­festivals kennen und umgehend schätzen lernten). Donau­würfel ist ein fein gestaltetes Buch, grün gebunden, mit schwarzem Vorsatz­papier, Lese­bändchen und Faden­heftung versehen, der schöne Schutz­umschlag unter Verwen­dung einer Handschrift der Autorin gestaltet. Sollte einmal jemand auf die gute Idee kommen, ausgewählte Gedichte von mir heraus­zugeben, diese Buch­gestal­tung würde ich mir wünschen. '

Die letzte Nuß öffne ich nicht mit dem Knacker, sondern, ganz vorsichtig, mit einem Messer, um diesmal die Schale nicht zu zerbröckeln. Es gelingt mit der besseren Hälfte. Gegen 18 Uhr verziehe ich mich ins Lyrik­kabinett, öffne Zsuzsanna Gahses gut 130 Seiten langes, aus 27 Würfeln mit jeweils 10 Strophen aus je 10 zehnsilbigen Versen gestaltetes Erzähl­gedicht, setze die Nuß­schale aufs Donau­wasser, schwinge mich hinterher, schon geht die Fahrt in der Schale los (das Lachen schlägt Wellen), und während ich aufmerk­bedachtsam die asso­ziations- und bilder­reichen, herrlich trans­parenten Würfel für Würfel (selbst dort, wo es heißt: schlammig treibt sie voran auf der weiten / Strecke) durchblicke, taucht dann und wann Ulf Stolterfohts Holzrauch über Heslach in der Erin­nerung auf: NIRGENDWO sonst. Wo also bin ich? frage ich in die von Johannes Brahms' Fantasien beschallte Runde: Spazieren mit dem gelbgrünen Puma, flüstert verschmitzt Werner Bucher, doch kurzweg hallt es von Paulus Böhmer herüber: Am Meer. An Land. Bei mir, worauf Gellu Naum mit trockener Pohesie entgegnet: Wir sind an diesen Nachmit­tagen an der Donau / deine Beine im Morast versunken, und Lutz Seiler lockt mit felder­lateini­schem Zwischenruf: komm in den tot­gesagten technikpark, während ich plötzlich mit Michael Arenz die Die Vulgarität der davonge­schwom­menen Felle begrüble. Oswald Eggers Wörter spielen, wabbelnd und wirbelnd, das schwung­volle Wellen­spiel mit: Die ganze Zeit.

In einer Ama­zon-Kunden­rezen­sion lese ich über die Jahrzwanzig-Anthologie In diesem Land: Die meisten Gedichte erschließen sich einem nur schwer. Wie jenem Leser geht es vermut­lich sehr vielen Lesern, die sich im Prinzip gern auf zeitge­nössische Lyrik einlassen wollen, die aber häufig – ratlos die Stirn runzelnd und gleichsam von draußen – bloß zuschau­en können, wenn die soge­nannten (selbsternannten?) ›Insider‹ sich in den Gedicht­höhlen mit den chiffrier­ten Wort­labyrinthen und unter­irdischen Versgängen vollauf entspannt und locker zurecht­zu­finden scheinen.
  Da ich beim Lesen, beim Leben weniger auf ›erschließen‹ aus bin als auf lesen und leben und die Welt ähnlich auslege wie Joseph Strom in Richard Powers' Roman The Time of Our Singing – The world has never made much sense to me, much less my life –, erlebe ich Gedichte naturgemäß als Anver­wand­lung, respek­tiere sie einfach als das, was sie sind, immer wieder ist es ein einziges Ineinandergreifen, kreisendes Rauschen, nehme dabei (auf der Suche nach dem einen) Wort für Wort wahr und bin so, wer weiß es, dem Gedichtkern möglicher­weise unablässig auf den Versen.
  Bei Zsuzsanna Gahse darf sich wohl jeder Leser, der gern auf dem Weg ins Offene ist, vom ersten Vers an eingeladen fühlen, gleichsam ins Gedicht hinein­zugehen, ohne die beklem­mende Befürchtung, man könnte sich prompt verirren oder im Finstern tappen: Silbern ist sie manchmal, die Donau.

Zsuzsanna Gahse ist Grenzgän­gerin zwischen Prosa und Lyrik, Lyrik und Prosa. Aber was sagen schon diese Begriffe? Sie sind nichts als – Schall und Rauch? Vor einigen Tagen schrieb ich in einer Mail an Vera Schindler-Wunder­lich, deren originelle Gedichte ich so gern lese: „Im übrigen halte ich von dem Begriff ›politische Lyrik‹ nichts. Genauso­wenig wie von ›Naturlyrik‹, ›Liebeslyrik‹ (usw.). Was soll das alles sein? Ich kenne nur Gedichte, habe etliche Gedichte geschrieben, die man vielleicht beispiel­haft als ›politische Lyrik‹ bezeichnen mag, was ich jedoch nicht will. Ich halte es eher mit Gertrude Stein und ihrem Bonmot, das nicht kleinzukriegen ist. Oder besser gesagt: Gut ist ein ›politisches‹ Gedicht dann, wenn niemand auf die Idee kommt, es als solches zu bezeichnen.“
  Wie etwa auch die Ballade alle drei Grundformen litera­rischen Gestaltens umschließt, lyrische, epische und dramatische Elemente umfaßt, fließt das zu Würfeln formatierte Wasser (wie das gehen kann, wird man sich vielleicht fragen, aber es geht, wie ich beim Lesen erkenne, sehr gut sogar, die warm tönende Stimme der Erzäh­lerin sorgt für den flotten Fluß; und wieso sollte es auch nicht gehen: Im Gedicht geht schließlich alles – und mehr) mal beschwingt bzw. beschaulich beschreibend: Und bemer­kens­wert ist, dass die Donau / mit ihren Seitenarmen deutlich die / Gestalt eines Fischskeletts hat, mal den AugenBlick mit sinnlich aufge­ladenen, ganz einfachen (hier dunkel­voka­lischen) Wörtern lyrisch weitend: Aber tief unten / im Flussgrund liegt das Donaugold, mal den Moment dramatisch, ja, drastisch darstellend: die bleiche Agnes mit Algen in den / Haaren, mit Muscheln – über Stein und Stock dahin.
  Donauwürfel, denke ich, während ich in diesem Schälchen einmal gemächlich dahingleite, sodann in einen Strudel gerate, schließlich in einer Untiefe hängen bleibe (an den Ufern / sind alle Gestalten nur undeut­lich / sichtbar), um glücklich von einer frischen Welle weitergespült zu werden, ist ein sehr schönes Buch, die Wörter sehr und Schmerz, denke ich weiter, haben denselben althoch­deutschen Ursprung, und so tut dieses Buch auch weh – wie jedes sehr schöne Buch schmerzt. Donauwürfel erzählt dem im Minibötchen mehr oder minder heftig Geschau­kelten ein Leben in Höhen und Tiefen, was muß ich mehr dazu sagen. Gegen 20 Uhr lese ich die letzten Wörter: es ist fünf Uhr am Nachmittag. Ich steige aus der Nußschale, schließe das Buch und stelle es ins Regal zwischen Harald Gröhlers Das verdoppelte Diesseits und Mara Genschels Tonbrand Schlaf.

Können Gedichtbände Piratenschiffe, können Dichter Piraten sein? (Eben noch war es doch bloß eine Nußschale.) Jedenfalls will ich Donauwürfel in diesem Augenblick einer wilden Dreizehn von Gedicht­büchern beigesellen, die – exemplarisch – die Bandbreite lyrischer Eigen­arten und Stile, die Qualität, die Verlagsvielfalt und andere interessante Faktoren (deren Berück­sichtigung die Auswahl zu einer kniffligen Aufgabe macht) spiegeln, Lyrikbände, die ich in Marginalie zum Gedicht in drei Schritten. Zeitge­nössische Lyrik im deutschen Sprachraum 2010 sowie Im Jahr des Buches 2010 · kribbelt und wibbelt es weiter unter der Vielzahl der gelesenen bzw. empfehlens­werten Titel des Jahrgangs 2010 auf die eine oder andere Art hervor­hebe:

  • Andreas Altmann, Das zweite Meer, 96 Seiten, Hardcover mit Schutz­umschlag, Poetenladen, Leipzig 2010.
  • Elke Erb, Meins, 142 Seiten, Broschur, Roughbooks, Wuischke · Berlin · Holderbank SO 2010.
  • Gerhard Falkner, Kanne Blumma, fränkisch – deutsch, 200 Seiten, Hardcover mit Schutzumschlag, ars vivendi verlag, Cadolzburg 2010.
  • Karin Fellner, hangab zur kehle, 98 Seiten, Broschur, yedermann, Riemerling bei München 2010.
  • Zsuzsanna Gahse, Donauwürfel, 141 Seiten, Hardcover mit Schutzumschlag, Lesebändchen, Edition Korrespondenzen, Wien 2010.
  • Michael Krüger, Ins Reine, 120 Seiten, Hardcover mit Schutzumschlag, Suhrkamp, Berlin 2010.
  • Christoph Leisten, bis zur schwerelosigkeit, 64 Seiten, Broschur, Rimbaud, Aachen 2010.
  • Marion Poschmann, Geistersehen, 126 Seiten, Hardcover mit Schutzumschlag, Suhrkamp Verlag, Berlin 2010.
  • Hendrik Rost, Der Pilot in der Libelle, 112 Seiten, Hardcover mit Schutzumschlag, Wallstein Verlag, Göttingen 2010.
  • Kathrin Schmidt, Blinde Bienen, 90 Seiten, Hardcover mit Schutzumschlag, Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2010.
  • Hans Thill, Museum der Ungeduld, 94 Seiten, Broschur, Verlag Das Wunderhorn, Heidelberg 2010.
  • Ron Winkler, Frenetische Stille, 95 Seiten, Hardcover mit Schutzumschlag, Berlin Verlag, Berlin 2010.
  • Maximilian Zander, Brief von Carl, 35 Seiten, geheftete Broschur, Silver Horse Edition, Marklkofen 2010.
Theo Breuer    23.05.2011   

 

 
Theo Breuer
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