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Theo Breuer
Lyrikgetwitterluftballons im wind · bittere Erde · eßkastanien Über Versnetze_drei · Poet Nr. 9 · In diesem Land Essay
aus zahlen In unmittelbarer Folge lese ich innerhalb weniger Tage im September in einem weiteren Anfall berauschten Wahnsinns die frisch ins Haus gefallenen Sammelbände Versnetze_drei (die bislang abgerundetste, frischeste, vollmundigste unter den Versnetze-Anthologien, über die Sie hier mehr erfahren: Versnetze über den Sprachraum legen), Poet Nr. 9 (mit 270 Seiten die umfangreichste der bisherig erschienenen 9 Ausgaben, angefüllt mit lauter lyrischen und prosaischen Leckerbissen – Gedichten · Geschichten · Gesprächen – verschiedenster Art) sowie In diesem Land (die Edition, auf die nach einigem Überlegen die Wahl fällt, ein wenig näher unter die Lupe genommen zu werden). Gedichte, Gedichte, Gedichte, rund neunhundert an der Zahl. Nach den schwierigen Monaten literarischen Versiegens, Vertrocknens, vielleicht gerade mal gelegentlichen Tröpfelns hier in der Sistiger Wolfskaul rauscht ein Lyrikgetwitter nach dem anderen auf mich herab, in mich hinein, durch mich hindurch, und ich kann nicht genug kriegen von Wörtern, Versen und Strophen, Metren und Rhythmen, Ideen und Phantasien, Metaphern und Reimen. Wie können Menschen bloß ohne Gedichte sein, frage ich mich zwischen zwei Gedichten und lese einfach weiter, weiter: Erde essen Wo sind EJ und FM abgeblieben? Während es im Vorwort von Der Große Conrady heißt, daß man, vor allem (aber nicht nur) im Kompartiment der zeitgenössischen Gedichte eher auf Dokumentation als auf Kanonbildung aus sei, da wohl erst die Nachwelt mit naturgemäß distanzierterem Blick feststellen könne, welche Verse die Zeiten überleben, schlagen Michael Lentz und Michael Opitz als Herausgeber der Anthologie In diesem Land. Gedichte aus den Jahren 1990 bis 2010 (bewußt an Adolf Endlers und Karl Mickels In diesem besseren Land von 1966 sowie Hans Benders In diesem Lande leben wir von 1978 anklingend) den umgekehrten Weg ein und betonen, daß sie Gedichte ausgewählt haben, von denen [sie] überzeugt sind, dass sie bleiben werden. Während meiner Non-stop-Rundfahrt durch In diesem Land lese ich dieser Aussage zum Trotz eine Reihe von Gedichten, die ich nicht so geglückt finden kann, um davon auszugehen, daß sie in 25, 50 oder 100 Jahren noch gelesen werden. Ich wette jedenfalls: nein. Davon abgesehen, stellen die fulminanten, originellen, schönen In-diesem-Land-Gedichte locker und wie selbstverständlich die absolute, nein, totale Mehrheit – schon der energisch zupackende, erdige Auftakt mit Henning Ahrens' Bekenntnis ist verheißungsvoll, und Jürgen Becker, Elke Erb, Gerhard Falkner, Heiner Müller, Thomas Kling, Helga M. Novak, Brigitte Oleschinski, Oskar Pastior, Ernest Wichner, ach, es ist müßig, sie alle aufzuzählen, folgen mit zum Teil spektakulären Versfolgen. landnahme Die Gedichtsammlung ist, für sich betrachtet, über weiteste Strecken eine abenteuerreiche, rasante, mit zahlreichen Gipfelpunkten ausgearbeitete Lesereise, dabei empfinde ich die Auswahl, entgegen den Worten im Nachwort, die Auswahl thematisch und ästhetisch breit aufzustellen, durchaus auf lange sowie historisch-politische (Deutschland-)Gedichte fokussiert – aber wo bleibt da Paulus Böhmer, frage ich mich, der Meister des deutschen Langgedichts, der u.a. mit den Kaddish-Büchern für soviel Furore sorgt? Die Auswahl wirkt herausfordernd, zwingt mich in den Infight, beschert mir begnadete Lesemomente und drängt mir lauter Fragen auf: Repräsentativ? Exemplarisch? Resümee? Überblick? Die Herausgeber verzichten auf manche Stimmen, Themen und Formen: Die eigentliche, vor Farben und Formen nur so strotzende, gleichsam überbordende Vielfalt dieser mit all ihren verschiedenartigen Gruppierungen, Stilen, Strömungen, Szenen, Subkulturen, Hinterlandnischen und Zentren der letzten 20 Jahre (in entsprechenden Abschnitten vereint) wird mir in ihrer Totalität nicht gezeigt, auch wenn auf den heißen, zumeist freimetrisch und endreimlos gemeißelten Stein der eine oder andere konkrete, gereimte, visuelle Tropfen fällt. Habe ich nicht aufmerksam gelesen? Im Nachwort heißt es: Wer genau hinschaut, findet alle Aspekte und Formen lyrischen Sprechens in beachtlicher Qualität. Von guten Ausnahmen abgesehen, finden in erster Linie die durch Preise und Feuilleton-Präsenz bekannten Autorinnen und Autoren Berücksichtigung: Auf einen schnellen ersten Blick wirken die 101 Namen von Ahrens bis Zschorsch wie ein Who-is-Who der deutschen Lyrik. Offenbar ohne Not und überzeugende Begründung an den bundesrepublikanischen Grenzen halt- und kehrtzumachen, das verstehe, wer will (ich nicht): Die in der Schweiz und in Österreich und entstandene Lyrik haben wir nicht berücksichtigen wollen – Oswald Egger, Eugen Gomringer, Gerhard Rühm werden trotzdem aufgenommen, hoppla, wie denn das, ach so: Sie leben seit vielen Jahrzehnten in Deutschland – Donnerwetter, was für ein teutonischer Ritterschlag, denke ich (und frage mich, ob die von Lentz und Opitz getroffene Aussage auf Oswald Egger zutreffen kann). Jedenfalls: Gedichte kennen keine Grenzen, sie sind per se und in nuce universal, und deutsche Gedichte sind nichts als Gedichte in deutscher Sprache verfaßt, fragen nicht danach, ob sie in Berlin, Eupen, Luxemburg, Wien oder Zürich geschrieben werden. der buchstabe ist tot Sind 101 Autoren etwa zu wenig für den im Nachwort formulierten Anspruch? Meine Lyrikberechnung: Von den rund 2.000 Autorinnen und Autoren, die in den Jahren 1990 bis 2010 Eingang in die anerkannten Anthologien bis zünftigen Zeitschriften gefunden bzw. mit lesenswerten Einzeltiteln aufgewartet haben, nehme ich zunächst 500 für eine erweiterte Auswahl, von denen wiederum die 150 markantesten exemplarisch als Querschnitt und Bandbreite des Lyrikschaffens im deutschen Sprachraum in dieser Zeit bestehen mögen. Sind bis zu rund 10 Seiten pro Autor, bei jeweils vier Gedichten, womöglich zuviel für einen Überblick dieser Art mit einem Umfang von nahezu 650 Seiten und dem Anspruch, daß unsere Anthologie das dichterische Schaffen der letzten zwanzig Jahre resümiert und das Spektrum durchaus weit zu fassen? Gewichtungen von einer bis fünf, sechs Seiten hätten viel freien Platz schaffen können für das Drittel, das 50 Lücken schließen würde. Denn auch Gedichte von C. W. Aigner, Beat Brechbühl, Ann Cotten, Guillermo Deisler, Peter Engstler, Ludwig Fels, Franzobel, Nora Gomringer, Hadayatullah Hübsch, Sabine Imhof, Ulrich Koch, Jean Krier, Karl Krolow, Nadja Küchenmeister, Thomas Kunst, Philipp Luidl, Rainer Malkowski, Jörg Neugebauer, Andreas Okopenko, Vera Piller, Hendrik Rost, Helmut Salzinger, Robert Schindel (Die Lyrik hat es schwer, aber sie wird nicht untergehen), Johann P. Tammen, Christian Uetz, Günter Vallaster, Christoph Wenzel und Ulrich Zieger wären alles andere als fehl am Platz in einer mit repräsentativem Anspruch antretenden Lyrikauswahl deutscher Gedichte der Jahre 1990 bis 2010. Lauter Gedichte, die bleiben werden? Können die hier abgedruckten Gedichte von Elisabeth Borchers, Rainer Kunze, Doris Runge oder Walter Werner (die ihre besten Gedichte in früheren Jahrzehnten schrieben) als maßgebliche Lyrik der Jahre 1990 bis 2010 bestehen? Matthias Polityckis witziger, letztlich jedoch epigonaler Aufguß des a-car-is-a-car-is-a-car- In diesem Land ist ein windschiefes Lyrikhaus mit löchrigen Wänden und einer Reihe fehlender Ecksteine, die den ganzen Bau auf riskante Art und Weise in Umsturzgefahr bringen. Aber – in einem solchen Haus, in dem ich so manches Erwartete nicht vorfinde und in dem der Boden unter den Füßen nachgibt, halte ich mich immer wieder gern auf, no risk, no fun, lobe den Hausherrn über den grünen Tee und führe entflammte Gespräche. Gell, Edith?
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Theo Breuer
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