POETENLADEN - neue Literatur im Netz - Home
 
 
 
 
 
 
 

Heiner Müller

Traumtexte

Er·träumt die Freiheit schizophrener Textruinen

Kritik
  Heiner Müller
Traumtexte
Bibliothek Suhrkamp 2009
210 Seiten, 13.80 Euro


„‚Ich habe kurz vor dem Aufstehen was geträumt.‘ Und er [Heiner Müller]: ‚Schreib's auf! So wie's dir in den Kopf kommt, schreib's auf!‘ Vor der Probe, während der Riesenstab sich sammelte und ich mich eigentlich umziehen mußte, saß ich und kritzelte auf ein Papier, was ich geträumt hatte, und das gab ich Heiner. Und Heiner gab es Bob Wilson. Und dieser Text steht heute im Programmheft von ‚The Forest‘.“ So wie Heiner Müller den Traum von Martin Wuttke produktiv als Begleittext zu einer Inszenierung nutzte, ist auch sein literarisches Werk gespickt von Aufzeichnungen seiner Träume und Visionen, die Traumtexte erstmals der größeren Öffentlichkeit zugänglich macht.

Heiner Müller hat das Interesse am Traum lebenslang nicht losgelassen. Bereits als 15-jähriger lechzt er mit einer unbändigen Gier nach Traum­auf­zeichnungen seiner Freunde und missbraucht sie für seine hypnotischen Experimente: „Und er war mein Lieblingsopfer für Hypnose; ich habe ihn immer mit großem Erfolg hypnotisiert. Er war ein tolles Medium. Zum Beispiel gab ich ihm einmal eine Zwiebel und sagte, das sei ein Apfel. Und er hat die Zwiebel gefressen wie einen Apfel.“ Mit diesem Talent war für Heiner Müller erst einmal klar: Berufswunsch: Psychoanalytiker. Dass er allerdings nicht nur die Gabe hatte in den Unterschichten anderer zu bohren, sondern auch sich selbst zu imaginieren, zeigen die ab­gedruckten Briefe seines ehe­maligen Mit­schülers Gerhard Bobzin an den Heraus­geber Gerhard Ahrens. Die Kommentare Bobzins zu Müllers Autobiographie „Schlacht ohne Krieg“ revidieren seine Selbstbespiegelung: Müller war weder der gemobbte Schüler, der als sächsischer und somit feindlicher Ausländer in Mecklenburg zum Außenseiter wurde, noch war er später in der Oberschule der Casa­nova, als den er sich gern gesehen hätte.

Im Mittelpunkt von Traumtexte stehen die bisher unver­öffentlichten Traum­protokolle und -Notizen, die Müller für ein konzi­piertes Traumbuch dienen sollten, zu dem es nie gekommen ist. Die Träume treten zunächst nackt und unkom­mentiert vor den Leser. Müller legte keinen Wert auf die eigene Inter­pretation seiner Träume. Für ihn war immer nur der manifeste Traum wichtig, und wie er diesen für sein literarisches Schaffen nutzen kann. Die literarische Ver­arbeitung – und darin liegt der große Verdienst des Buches – vermag Traumtexte aufzuzeigen. Die im hinteren Teil enthaltenen literarischen Texte aus allen Arbeits­bereichen Müllers, vornehmlich aus der Prosa, werden den Traum­protokollen zugeordnet. Die Textgenese und die Arbeitsweise wird dem Leser ebenso vor Augen geführt wie die Wechsel­wirkung zwischen dem aufgezeichneten Traum und dem Text, in den er manövriert wurde.

„Das Problem des Schriftstellers, überhaupt des Künstlers, ist doch, daß er sein ganzes werk­tätiges Leben versucht, auf das poetische Niveau seiner Träume zu kommen. Das geht nur, wenn er nicht interpretiert, was er hervorbringt.“ Auf die Couch darf seinet­wegen Freud selbst. Nichts war Müller später ferner als die entfremdenden Begriff­lichkeiten Freuds und die Repres­sions­imagination eines Ödipus. Heiner Müller schreibt keine psycho­analytischen Texte, Heiner Müller schreibt schizo-analytische Texte. Seine Rezeption von Gilles Deleuze und Félix Guattari, ersterem das Gedicht Mommsens Block gewidmet ist, hat deutliche Spuren hinterlassen. Den Traumtexten werden keine Kausal-, Erkenntnis- oder Expressions­formen aufgezwungen, wie das die Psycho­analyse macht, sondern sämt­liche Asso­ziationen werden aufgesprengt; es herrscht eine einheitslose Vielfältigkeit, eine Chaosmose von Kleinst­ordnungen. Müller stellt Einzel­heiten aus ohne, dass etwas von dem Anderen abhängt oder abhängen soll. „Eine Vielheit des Afters für den Scheißstrom“, bezeichnen das Deleuze / Guattari in Anti-Ödipus. Klar, dass das auf Müller Eindruck gemacht hat – Seine Tugend, komplexe Zusammen­hänge straight und provokant hinzu­schnoddern, hat er sich wohl abgeschaut.

Ebenfalls wird durch die schizo-analytische Technik klar, dass Müller nie ein zusammenhängendes Traumbuch, wie auch nie ein episches Großwerk, verfasst hat. Allein Der Traum ist ein Romanentwurf: „Entwurf zu einem Roman, den ich / nicht schreiben werde / Ich habe keine / mir fehlt die Lust / an der Erzählung von Begebenheiten [...] Meine Liebe gehört / gilt dem Grundriß / nicht dem Gebäude dem die Ruine eingeschrieben ist“. Müller geht es um das wuchernde Rhizom, nicht den einstämmigen Baum; um die freie Produktion des Unbewussten und den Traum in seiner wahren Expression, nicht sein Einkesseln in eine auferlegte Entität und die Entfremdung durch die Freudschen Begriffe und Interpretationen. Alles andere ist ohne Bestand und nur der Zerstörung wert.

Der Traum war für Müller immer auch ein Moment der Subversion. „Die Funktion der Kunst ist es, die Wirklichkeit unmöglich zu machen“; und was läge da näher, als der Traum, der der Realität das Blut aussaugt, und es ihr wieder entgegen spuckt? Der Gegenstand der Kunst wird zu dem, was das Bewusstsein nicht mehr aushält, und die Mobilisierung von Träumen löscht die Realität aus. Bei Müller können die psychologischen Aspekte seines Werkes nie ganz ohne eine historisch-gesellschaftliche Ausrichtung gedacht werden. Sein Mythos-Verständnis kann auch aus diesem Blickwinkel betrachtet werden: „Meines Erachtens ist der Mythos, der den kollektiven Erfahrungen Stimme verleiht, nichts anderes als ein Traum, und unsere Pflicht ist es, dafür zu sorgen, dass er Wirklichkeit wird.“

Traumtexte ist nicht nur eine gelungene Vermittlung des Themas Traum im Werk Müllers und seiner poetologischen Prinzipien von Traumstrukturen, sondern das Buch zeichnet auch Müllers Weg und eines seiner Hauptziele nach: von der Psychoanalyse zur Ilias; der Eintritt des zu-ende-geklärten Menschen in sein neues Zeitalter der absoluten, mythischen Sprengkraft: „Im Jahrmarkt des Orest und der Elektra, das heraufkommt, wird Ödipus eine Komödie sein.“ Ob das wohl eine Vision war?
Walter Fabian Schmid     17.06.2009  
Walter Fabian
Schmid
Bachmannpreis
Gespräch
Bericht